Kapitel 2

Lager der Khamsin, im Januar 1894

Der Krieg war noch nicht ganz vorbei. Die beiden Stämme, die einst erbitterte Feinde gewesen waren, schickten ihre besten Kämpfer in die letzte, entscheidende Schlacht – ein Kamelrennen.

Badras Herz pochte, als sie in der Menge stand und zusah, wie die großen braunen Tiere in ihrem seltsamen, kraftvollen Gang über den Sand galoppierten. Rashid, ein Al-Hajid-Krieger, trat gegen Khepri an, ihren Falkenwächter. Blaue, gelbe und weiße Quasten schmückten die Decke unter Khepris hölzernem Sattel. Badra hatte sie ihm zum Geburtstag selbst gewebt.

Die Krieger johlten und feuerten ihre Favoriten an. Seit Jabari Fareeq getötet hatte, waren die beiden Stämme sich freundlich gesinnt. Der barbarische Anführer der Al-Hajid hatte Elizabeth verschleppt, Jabaris amerikanische Ehefrau, und das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Hinterher war Elizabeths Onkel zum neuen Scheich des Stammes ernannt worden, und seitdem waren Kamelrennen an die Stelle von brutalem Blutvergießen getreten.

Die donnernden Hufe der Kamele wirbelten dichte Staubwolken auf. Khepri trieb sein Tier mit grimmiger Entschlossenheit an und jagte es vor dem seines Konkurrenten über die Ziellinie. Die Zuschauer brachen in lautes Jubelgeschrei aus.

Khepri glitt von seinem Kamel und grinste keck ins Publikum, aus dem Badra auf ihn zustürmte und gegen seine harte Brust fiel. »Oh! Das war großartig!« Sie umarmte ihn, wobei sie genüsslich den Kräuterduft seines schweißfeuchten Binish einsog.

Er nahm sie lächelnd in die Arme. Plötzlich sammelten sich Männer um sie herum, die ihm gratulieren wollten. Ein solch bedeutsames Rennen zu gewinnen verhieß große Ehre. Deshalb zog Badra sich leise zurück. Khepri errötete, als Jabari ihm auf die Schulter klopfte. »Gut gemacht, Bruder!«, rief der Khamsin-Scheich.

In schwarzroten Gewändern kam Khepris Konkurrent Rashid herbei. Er besaß die Eleganz einer großen Raubkatze. Badra sah ihn an. Von früher erinnerte sie sich noch gut an ihn. Im Gegensatz zu den anderen Männern seines Stammes, hatte Rashid feine, befremdlich ebenmäßige Gesichtszüge. Man hätte ihn fast als hübsch bezeichnen können. Und genau das hatte einst ein Krieger getan. Rashid forderte ihn dafür zum Duell und tötete ihn. Danach schnitt er dem Mann die Hoden ab und stopfte sie in einen Beutel. Badra war dabei gewesen, als er in Fareeqs Zelt gestürmt war, ihm den Beutel hingeworfen und gesagt hatte: »Ihr habt behauptet, ich hätte keine eigenen, weil ich mich von diesem Bastard beleidigen ließ. Kann ich dann diese bekommen?«

Badra war vor Entsetzen zusammengezuckt. Fareeq indessen hatte vor Lachen gegrölt und geantwortet: »Du wirst nicht mehr wie ein Mädchen auf Händen und Knien dienen müssen. Ich erkenne dich jetzt als Krieger an.«

Rashid war ein Opfer gewesen, genau wie Badra.

Als er sie erkannte, war er wie versteinert. Lautlos bedeutete sie ihm, dass sie sein Geheimnis bewahren würde.

Sie sah seine Erleichterung, als er ihr zunickte, bevor er zu Khepri ging. »Gratuliere«, sagte er vornehm.

Ihr Falkenwächter wandte sich unhöflich ab. Jabari runzelte die Stirn und wies seinen Bruder zurecht: »Du solltest Rashid willkommen heißen. Er wird ein Khamsin-Krieger.«

Khepri starrte ihn an. »Was?!«

»Meine Schwester hat deinen Cousin geheiratet«, erklärte Rashid ruhig. »Ich möchte mich diesem Stamm anschließen, damit sie einen Verwandten in ihrer Nähe hat und sich nicht so allein fühlt. Morgen werde ich meinen Treueschwur ablegen.«

Für eine kurze Weile war es still.

»Du magst ihn einen Khamsin nennen, aber für mich bleibt er immer ein Al-Hajid«, sagte Khepri verbittert. »Vertrau ihm nicht, Jabari! Trau keinem von ihnen! Zurzeit herrscht Frieden zwischen unseren Leuten, doch tief in ihrem Innern bleiben die Al-Hajid Frauen- und Kindermörder.«

Badra versetzte es einen schmerzlichen Stich, ihn davonstürmen zu sehen. Khepri konnte weder vergeben noch vergessen, was die Al-Hajid seinen Eltern und seinem Bruder angetan hatten. Und bis zu einem gewissen Grad verstand sie ihn. Besorgt sah sie zu Rashid, und ihre Blicke begegneten sich. Wenngleich er sich nichts anmerken ließ, erkannte sie für einen Sekundenbruchteil einen Anflug von Einsamkeit und Verletzlichkeit. Dann war es wieder weg. Er murmelte eine Entschuldigung und ging zu seiner Schwester und ihrem Ehemann.

Khepri stürmte in sein Zelt, von unbändiger Wut getrieben. Rashid ein Khamsin-Krieger? Jabari mochte ihn Cousin nennen, aber er könnte das niemals. Nur mühsam kontrollierte er seinen Zorn, während er sich frische Kleidung zusammensuchte.

Dann ging er zu den Waschvorrichtungen für Männer, wo er sich den Staub vom Körper schrubbte und dazu falsch vor sich hin sang. Er dachte an die leuchtende Bewunderung in Badras Augen. Der Umstand, dass sie beide Außenseiter waren, hatte sie im Laufe der Jahre einander nähergebracht. Unter ihrer sanften Art verbarg sie eine unerschütterliche Beharrlichkeit. Insgeheim bewunderte er sie für ihre Entschlossenheit, Lesen und Schreiben zu lernen. Im Gegenzug hatte sie ihn ermutigt, seinen Träumen nachzujagen. Badra glaubte, er könnte alles erreichen, was er wollte. Und mit ihr an seiner Seite glaubte er es ebenfalls. Ihre Liebe war wie der Beginn einer neuen Schöpfung, jeder Tag erfüllt von der Harmonie gemeinsamen Lachens und einer Melodie brodelnder Leidenschaft. Und alles wartete auf den Funken, den ihr erster Kuss entfachen würde.

Gestern hatte er Jabari förmlich um die Entbindung von seinem Schwur gebeten, sie niemals zu berühren. Der Scheich hatte sie ihm gewährt, allerdings streng hinzugefügt: »Denk an ihre Ehre! Sei sehr sanft – und geduldig!«

Heute Abend wollte er Badra ganz behutsam den Wonnen entgegenführen, die sie in seinen Armen erwarteten. Ein Kuss, sonst nichts – und doch so viel. Ein wohliges Kribbeln überkam ihn. Er hatte gesehen, wie sehnsüchtig sie das Baby des Scheichs betrachtete. Wenn eine Frau ein Baby auf diese Weise ansah, wünschte sie sich ein eigenes Kind.

Er würde ihr mit Freuden diesen Wunsch erfüllen, dachte er grinsend. Bis zum nächsten Vollmond könnten sie verheiratet sein und eine wunderbare Woche damit verbringen, einen Sohn zu zeugen. Oder eine Tochter.

Als er fertig war, schüttete er das Schmutzwasser in den Behälter, in dem es später zum Kräutergarten getragen würde, um die Pflanzen zu wässern. Trotz der verborgenen Höhle mit ihrer sprudelnden Quelle in der Nähe, verschwendete niemand in der Wüste Wasser.

Fünf Jahre lang war er seinem Schwur treu geblieben, Badra nicht zu berühren. Nun, da Jabari verheiratet war, sah das Stammesgesetz die Freilassung seiner Konkubinen vor. Farah hatte einen Krieger geheiratet. Khepri hielt sofort um Badras Hand an, doch sie lehnte ab. Letztes Jahr fragte er noch einmal, und sie sagte ihm, sie wäre noch nicht bereit.

Mittlerweile aber waren sie von Frischvermählten und Neugeborenen umgeben, also musste auch Badra allmählich so weit sein. Sogar Nazim, der Weiberheld, Wächter und bester Freund des Scheichs, hatte seinen Junggesellenstatus aufgegeben. Er hatte geheiratet und seinen Namen entsprechend der Wächtertradition in Ramses geändert. Seine Frau Katherine erwartete Zwillinge.

Khepri war ein geduldiger Mann und hatte bereits fünf Jahre auf Badra gewartet. Falls nötig könnte er noch länger warten, aber er hoffte, sie heute Abend mit ein wenig sanftem Druck zu einem Ja zu überreden.


Badra saß unter einer breiten Akazie und skizzierte Elizabeth, die ihren Sohn stillte. Neben ihr lag ein Buch, das mit der letzten Sendung von Lord Smithfield, Katherines Vater, angekommen war. Er war ein wohlhabender englischer Adliger und wollte Elizabeth helfen, die Kinder des Stammes zu unterrichten. Der Frau des Scheichs war es zu verdanken, dass viele Mitglieder seines Stammes inzwischen Arabisch lesen und schreiben konnten und manche, wie Badra, sogar Arabisch und Englisch.

»Hör auf zu zeichnen! Es ist Zeit für deinen Unterricht. Lies mir Englisch vor!«, forderte Elizabeth sie auf.

Etwas stockend las Badra ihr vor. Elizabeth nahm Tarik von der Brust und hörte zu. Schritte näherten sich, und beide Frauen blickten auf.

Jabari und Khepri. Der Scheich beugte sich hinunter und nahm seiner Frau das Baby ab. Geübt lehnte er den Säugling an seine Schulter. Badra schmolz dahin, als sie Jabari beobachtete, der zärtlich auf seinen Sohn einredete. Khepris blaue Augen suchten ihre, als der Scheich das Baby wieder seiner Frau gab.

»Er ist ein hübscher kräftiger Junge, Jabari. Eines Tages werde ich vielleicht auch einen Sohn haben«, sagte Khepri, ohne den Blick von Badra abzuwenden.

Ein düsterer Schmerz engte ihre Brust ein. Sosehr sie sich auch danach sehnte, Khepris Frau zu werden, sie könnte mit ihm keine Kinder bekommen. Das einzige Wiegenlied, das sie für den Rest ihres Lebens singen würde, war ihrer toten Tochter gewidmet. Obgleich Jabaris sanfte Art mit der Zeit ihre Wunden geheilt hatte und Khepris Schutz ihr das Gefühl gab, sicher und geschätzt zu sein, war körperliche Intimität mit Männern nach wie vor das Letzte, was sie wollte.

Die beiden Männer gingen fort und sprachen leise miteinander. Tarik ergriff eine Handvoll goldenes Haar, das unter dem blauen Schleier seiner Mutter herausfiel. Badra sah sie unsicher an. »Elizabeth, wie ist es eigentlich, Babys mit einem Mann zu machen, den man liebt?« Ihre Wangen glühten, aber sie musste einfach fragen.

Ihre Freundin bekam einen verträumten Gesichtsausdruck. »Es ist das wunderschönste Gefühl von allen. Außer der gemeinsamen Ekstase erlebt man dabei eine herrliche geistige Nähe.«

Ekstase? Vielleicht waren Ehe und Kinder mit ihrem Falkenwächter doch kein närrischer, abwegiger Traum. Badra las weiter, bis sie erneut Schritte hörten. Jabari stand vor ihnen und sah seine Frau an.

»Elizabeth«, sagte er mit heiserer Stimme.

Ein Leuchten ging über ihr Gesicht, als sie aufstand und Badra bat, auf Tarik zu achten. Dann nahm sie die ausgestreckte Hand ihres Mannes und ließ sich von ihm in ihr Zelt führen, wo er die Eingangsplanen herunterrollte.

Badra blickte zu dem schwarzen Zelt. Elizabeth hatte ihr anvertraut, dass sie planten, Tarik einen Bruder oder eine Schwester zu schenken. Und der Scheich war ziemlich entschlossen, seine Pflicht zu erfüllen.

Neugierig und ein wenig beschämt ging Badra zu Tariks Großtante, die überglücklich an Badras statt auf den Kleinen aufpasste. Möglichst unauffällig schlenderte sie dann um das Zelt des Scheichs herum, angezogen von dem leisen Stöhnen und Seufzen, das aus der Schlafkammer drang. Plötzlich schrie Elizabeth auf. Badra erstarrte, begriff jedoch gleich, dass es ein Freudenschrei gewesen war.

Sie erinnerte sich an eine Begebenheit, die lang zurücklag. Damals war sie siebzehn gewesen und hatte in einem gutbewachten Gebäude im Dorf Amarna gelebt. Jabari hatte Farah und sie dorthin gebracht, damit sie während der Kämpfe zwischen den Stämmen in Sicherheit waren. Jedes Mal, wenn sie irgendwohin ging, kam Khepri mit ihr. An jenem Tag aber war er von seiner Aufgabe befreit worden, und ein Krieger namens Ali begleitete Badra zum Markt.

Sie kamen an Najlas Haus vorüber. Auf dem Marktplatz hatte Khepri mit der jungen Witwe geflirtet, die erst kürzlich hergezogen war. Als sie an dem Haus vorbeiging, hatte sie plötzlich eine Ahnung. Badra bat Ali, ihr die Wolle zu holen, die sie vergessen hatte. Er zögerte, doch sie versicherte ihm, dass ihr nichts passieren könnte.

Nachdem er fort war, schlich Badra seitlich um das Haus herum. Sie hörte Khepris tiefes Murmeln, die flüsternden Antworten einer Frauenstimme und spähte durch die Spitzenvorhänge ins Zimmer.

Es war ein Schlafzimmer mit edlen Möbeln und dicken Teppichen. Aber vor allem das Bett und die beiden darin erregten Badras Aufmerksamkeit. Khepri und Najla, beide nackt, lagen ausgestreckt auf den Laken. Er küsste die Frau, und sie hatte eine Hand in seinem Nacken, mit der sie durch seine langen dunklen Locken glitt. Badras Finger umklammerten den Fensterrahmen. Plötzlich hockte Khepri sich auf, und sie konnte sein Profil klar und deutlich erkennen. Schweiß glänzte auf seinen festen Muskeln. Er war so wunderschön, ein Bild von einem Mann. Sein dichtes Haar hing über seine Schultern, und er strich es sich ungeduldig aus der Stirn. Badras Augen wanderten gierig über seine flache Brust und folgten dem dunklen Haar, das in einer schmalen Linie über seinen Bauch verlief, bis es oberhalb seiner Lenden wieder dichter wurde. Und dann sah sie seine zuckende … Oh mein Gott!

Vor Staunen stand ihr der Mund offen.

Fareeqs männliches Teil war dagegen wie eine verschrumpelte Dattel gewesen.

Khepri glitt mit den Händen zwischen die schlanken honigfarbenen Schenkel Najlas, öffnete sie weit und legte sich auf sie. Najla stieß einen ängstlichen Schrei aus, als er in sie eindrang, und bohrte die Fingerspitzen in seine Schultern. »Er ist zu groß!«, stöhnte sie.

Badra verzog mitfühlend das Gesicht und stimmte ihr im Stillen zu.

Khepri raunte etwas Beruhigendes, küsste Najla und stieß noch tiefer in sie hinein. Gleich darauf lockerte Najla ihren Griff und seufzte wohlig.

Außerstande, den Blick von seinem strammen sich auf und ab bewegenden Po abzuwenden, starrte Badra schockiert und zugleich fasziniert hin. Najla bog sich ihm entgegen. Als sie aufschrie und aufs Neue die Finger in seinen Rücken bohrte, zuckte Badra zusammen. Khepri murmelte etwas und küsste sie. Badra sah Najlas ekstatischen Ausdruck und begriff, dass es ein Wonneschrei gewesen war. Dann erbebte Khepris kraftvoller Körper. Er stöhnte, sank auf Najlas Brust und blieb ganz still liegen.

Derselbe Akt, der Badra nichts als Schmerz gebracht hatte, bescherte Najla nichts als Ekstase. Badra wurde eifersüchtig. Ihr Falkenwächter gehörte nicht ihr allein. Und sie brannte darauf, ebenjene Ekstase zu erleben, in die Khepri Najla versetzt hatte, sein Gewicht auf sich zu fühlen und den muskulösen Körper zu erkunden, der kämpfte, um sie zu beschützen. Zugleich aber hatte sie Angst davor. Und deshalb hatte sie ihn abgewiesen.

Ein leises Hüsteln riss sie aus ihren Erinnerungen. Als sie sich umdrehte, fand sie sich Khepri gegenüber, dessen eine Hand auf dem Griff seines Krummsäbels ruhte. Er sah sie amüsiert an, und Badra errötete. Natürlich wusste er, wobei er sie überrascht hatte – nämlich beim Belauschen von Elizabeth und Jabari.

»Badra«, sagte er leise, »komm, geh ein Stück mit mir!«

Er verlangsamte seine Schritte und begleitete sie bis zu ihrem Zelt. Dort angekommen, strich er ihr sachte über die Wange.

»Mein Bruder und seine Gemahlin wünschen sich ein weiteres Baby. Das ist nur natürlich. Eines Tages wirst du dir dasselbe wünschen.«

Verlegen wandte Badra das Gesicht ab.

»Magst du keine Babys? Ich kenne lediglich eine Art, wie man sie macht«, sagte er augenzwinkernd.

»Ich habe zu arbeiten«, stammelte sie.

Sie wollte in ihr Zelt huschen, doch er hielt sie sanft am Handgelenk fest. »Komm zu meinem Zelt, wenn der Mond in den Himmel steigt«, sagte er. »Ich möchte dir etwas zeigen – etwas Besonderes.«

Badra erschauderte vor Angst wie vor Vorfreude.


Eine lange Zeit später – der Vollmond tauchte das Lager in silbernes Licht – traf Khepri sie vor seinem Zelt. Sein dunkles Haar, das unter dem Turban hervorquoll, leuchtete grau im Mondschein, und der Stahl seines Krummsäbels blinkte.

Sie gingen schweigend nebeneinander her, vorbei an den noch glimmenden Scheiten der Kochfeuer und den schwarzen Zelten der Khamsin-Familien. Es war erstaunlich ruhig, so dass sie den Wind hörten, der über den Sand strich, und die Pferde, die am Rande des Lagers grasten.

»Es ist sehr still heute Abend«, bemerkte Badra.

»Hörst du es nicht?«

»Was?«

»Den Klang der Nacht«, sagte er leise, »von Leidenschaft.«

Zunächst vernahm sie nichts, aber dann gingen ihr gleichsam die Ohren auf: die leisen Seufzer einer Frau vermischten sich mit dem tiefen Stöhnen eines Mannes. Raschelnder Stoff, heiseres Flüstern, Körper, die sich aneinanderrieben. Ein dunkles, lebendiges, erotisches Klanggemisch erfüllte die Nacht, regte Badras Sinne an und weckte ihre Phantasie.

Khepri fuhr leise fort: »Wenn ein Mann und eine Frau Gefallen daran finden, ihre Körper zu vereinen, schaffen sie die Musik der Liebe. Sie ist der schönste Klang in der Wüste.«

Sie passierten die Hauptgruppe der Zelte und den Bereich, wo die Pferde nachts angebunden waren. Vor ihnen lagen nun eine Bergkette, zackige Felsen, deren rauhe Ränder im fahlen Mondlicht schwarz-grau schimmerten. Khepri ging weiter.

»Was willst du mir zeigen?«, fragte Badra.

Khepri blieb in der Nähe des Eingangs zu einer Schlucht stehen, die sie kannte. »Hier herein«, sagte er.

Zu beiden Seiten ragten hohe Kalksteinwände auf, als sie durch die Schlucht wanderten. Schließlich hielt Khepri vor einer Gruppe größerer Felsbrocken an. »Da!« Er zeigte stolz auf einen der Felsen.

Badra stieß einen verzückten Schrei aus. Khepri hatte eine hüfthohe ägyptische Kobra aus dem Stein gemeißelt. Der Kopf war in drohender Schönheit erhoben, als könnte sie jederzeit zuschlagen.

»Ich wollte, dass du es im Mondlicht siehst.« Er strich mit der Hand über sein Werk. »Wenn das Licht darauf scheint …«

»Sie sieht echt aus«, flüsterte Badra staunend.

»An dieser Stelle hier bekam ich mein Kobra-Totem, und ich wollte die Erinnerung auf diese Weise bewahren«, erklärte er ihr und lehnte sich an die Skulptur.

»Erzähl mir davon!«, bat sie ihn.

»Ich war mit Jabari auf der Jagd nach kleinerem Wild. Er trat an diese Felsgruppe, als wir ein Zischen hörten. Ich sah sie zuerst. Es war eine Kobra, die wir bei ihrem Sonnenbad aufgeschreckt hatten.«

»Hast du sie getötet?«

»Nein. Mein Vater hatte mir gesagt, dass die Kobras kein Gift versprühen und in der ägyptischen Geschichte als heilig gelten, als hingebungsvolle Beschützer der Könige. Hätte ich sie getötet, hätte ich Unglück auf Jabari gezogen. Ich erinnerte mich an eine List, die mir ein alter Schlangenbeschwörer einst beigebracht hatte. Ich nahm mein Gewehr und zwang die Kobra, sich um den Lauf zu schlängeln. Dann war sie ganz ruhig. Von diesem Tag an hieß ich Kobra – derjenige, der handelt, geschmeidig wie eine Schlange.«

Sie lächelte und musste an seine erstaunlichen Reflexe denken, als er sie davon abgehalten hatte, sich mit seinem Dolch zu töten. »Du bist die Kobra. Dein Totem passt gut zu dir.«

Er betrachtete sie im strahlenden Mondschein. Der Mond, ihr Namensgeber. Khepri zeigte gen Himmel. »Genau wie dein Name, wenngleich die Schönheit des Vollmonds neben dir verblasst, Badra.«

Nervosität gepaart mit einer seltsamen Sehnsucht erfüllte sie. Sie blickte zu den Sternen am Nachthimmel. »Aber nichts kommt der Schönheit der Sterne nahe. Fast scheint es mir, als könnte ich sie berühren – wie die glitzernden Edelsteine, die ich einst in Kairo sah.«

»Du bist schöner als alle Sterne am Himmel Ägyptens.«

Seine tiefe Stimme war wie warmer Samt. Sanft umfasste er ihre Schultern. Sein Körper strahlte eine Hitze ab, die der glühender Kohlen in einem Lagerfeuer gleichkam. »Jabari hat mich von meinem Schwur entbunden, dich nicht zu berühren. Möchtest … möchtest du, dass ich dich küsse?«, fragte er leise. »Badra?«

Ja!, rief ihr Herz aus. Hoffnung regte sich in ihrer Brust, als sie ihn im Mondlicht ansah. Wie er ihren Namen ausgesprochen hatte – so sanft und zärtlich, dass es auf ihrer Haut kribbelte. Sie erschauderte. Diese neue, hitzige Intensität war etwas, das sie herbeigesehnt hatte und vor dem sie sich zugleich fürchtete. Er strich mit dem Finger über ihre Wange, neigte sich ihren bebenden Lippen entgegen, und sie nickte. Ja. Küss mich!

»Ich habe so lange auf dich gewartet, Badra«, hauchte er.

Sein Blick wurde plötzlich entschlossener, eindringlicher. Behutsam legte er die Hände an ihre Wangen und hob ihr Kinn. Seine Lippen senkten sich auf ihre zu einem Kuss, der ihr die Seele und den Atem raubte. Die Berührung war wie eine zärtliche Ehrerbietung. Verzaubert bewegte sie ihren Mund unter seinem. Dann presste er seine Lippen fest auf ihre, malte mit der Zungenspitze ihre Unterlippe nach und spielte damit. Als Badra einen leisen Laut des Wohlgefallens von sich gab, wagte er sich weiter vor. Erschrocken kniff sie die Lippen zusammen.

»Bitte, Badra, öffne dich mir!«, lockte er sie und bemächtigte sich aufs Neue ihrer Lippen.

Ihr Atem entwich in einem tiefen Stöhnen, als sie Khepris seidige Zunge empfing. Er kostete sie genüsslich und entflammte eine nie gekannte Sinnlichkeit in ihr. Badra klammerte sich an ihn, spürte seinen Körper, der sich fest und stramm an ihren presste. Mit geübter Fertigkeit erkundete er ihren Mund, verführte ihre Zunge zum Tanz mit seiner und weckte dabei ein seltsam schweres und heißes Gefühl in ihrem Bauch. Diese Hitze, die er in ihr entfachte, ließ Badra neue Hoffnung schöpfen. Ja, vielleicht war das die Wonne, die Elizabeth gemeint hatte.

Dann aber fühlte sie seine harte Männlichkeit, die sich an ihr rieb. Seine Arme umfingen sie und nahmen sie zwischen ihm und dem Felsen gefangen. Er war so viel größer und stärker als sie, und als er aufstöhnte, bekam sie Angst vor der plötzlichen Intensität seiner Zärtlichkeit. Ihre Erregung wich blanker Furcht vor seiner Kraft. Er würde ächzen und hecheln, wenn er ihren Körper mit derselben rücksichtslosen Lust nahm, wie Fareeq es immer getan hatte. Und sie würde ihn dafür hassen …

Er ließ sie los und atmete schwer, als er sie ansah. Mondlicht und dunkles Verlangen schimmerten in seinen Augen. »Mit deiner Schönheit treibst du einen Mann in den Wahnsinn. Ich hätte mich fast nicht beherrschen können. Wären wir vermählt, hätte ich es auch nicht«, sagte er heiser.

»Hättest du nicht?«, fragte sie mit bebender Stimme.

»Nein, ich ließe dich überhaupt nicht mehr aus meinem Bett. Wir beide wären viel zu beschäftigt, um Spaziergänge im Mondschein zu unternehmen.«

Bei diesen Worten wurden alle Schrecken der Vergangenheit wieder wach. Badra könnte es nicht ertragen, zu sehen, wie alles Sanfte und Beschützende an ihm verschwand, um nichts als grausame Lust zurückzulassen, mit der er über sie herfiel. Sie würde sich ängstlich unter ihm winden, ohne dem Gewicht seines Körpers auf ihrem entkommen zu können, und dann stieße er ebenso brutal in sie hinein wie Fareeq.

Im selben Augenblick wurde ihr die entsetzliche Wahrheit klar: Wären sie verheiratet, kämen keine Wonnelaute aus ihrem Zelt, sondern nur Badras Angstschreie. Die Krieger würden Khepri verächtliche Blicke zuwerfen und flüsternd über ihn herziehen. Sie aber mochte ihn viel zu sehr, um ihn so zu beschämen. Wie könnte sie einen solch männlichen, leidenschaftlichen Krieger zu einer Ehe verdammen, die trocken wie der Wüstensand wäre? Und wie lange würde es dauern, bis sie ihn in die Arme einer anderen Frau getrieben hatte, damit er seine körperlichen Bedürfnisse erfüllen konnte? Schon einmal hatte sie erlebt, wie er bei Najla fand, was sie ihm nie würde geben können.

Als sie ins Lager zurückkehrten, schluckte Badra die Trauer hinunter, die ihr die Kehle zuschnürte. Wenigstens war das etwas, worin sie reichlich Erfahrung hatte.

Am nächsten Tag wurde Khepri von seiner Vergangenheit eingeholt.

Fröhlich summend saß er vor seinem Zelt und dachte daran, wie unendlich weich und willig Badras Lippen sich angefühlt hatten. Heute Morgen schnitzte er ihr einen neuen Handwebstuhl. Als er Pferdehufe herandonnern hörte, blickte er auf. Am Horizont stob eine Staubwolke auf, und Khepri gefror das Blut in den Adern, als die Wolke näher und näher kam. Bei den Reitern auf den eleganten Arabern handelte es sich um hellhäutige Engländer, eskortiert von Khepris Stammesbrüdern.

Jabari hatte ihm von den Fremden erzählt, die zu Besuch kommen wollten. Sie behaupteten, Khepri könnte ein Verwandter von ihnen sein. Ihm war sofort mulmig geworden, doch er hatte gescherzt und gesagt, kein Engländer würde sich freiwillig zu seinem Verwandten erklären. Er war zu dickköpfig, zu frech – zu ägyptisch, um Engländer zu sein.

Zwei bleiche Ausländer – einer mit hellbraunem Haar und ein deutlich älterer mit einem dichten weißen Schopf – stiegen von ihren Pferden. Sie trugen die komischen Leinenanzüge, wie man sie oft an Archäologen sah. Khepri beobachtete, wie Jabari die Männer begrüßte. Der Scheich geleitete sie persönlich zu Khepris Zelt. Mit einer Schnelligkeit, die ungewöhnlich für sein Alter war, lief der weißhaarige Engländer vor.

Dann blieb er abrupt stehen. Sein Gesicht war faltenzerfurcht, ähnlich einem alten Felsen, und inmitten dieser Falten leuchteten Augen, die ebenso blau waren wie Khepris.

»Gütiger Gott, es ist wahr!«, sagte er in langsamem Englisch. »Du siehst genau wie Michael aus, als er in deinem Alter war.«

Khepri blickte unsicher zu Jabari, doch dieser wandte das Gesicht ab.

»Kenneth, ich bin dein Großvater. Wie lange habe ich gebetet, dass ich dich finden möge! Ich bin Charles Tristan, Duke of Caldwell«, fuhr der Mann fort.

Der jüngere Engländer mit dem lichter werdenden hellbraunen Haar und dem breiten Schnauz- und Backenbart trat vor. »Hallo«, sagte er herzlich, »ich bin Victor Edwards, Cousin zweiten Grades väterlicherseits. Ist das ein Segen, dass wir dich gefunden haben!«

Khepri war zunächst wie gelähmt vor Schreck. »Ich habe keine englischen Verwandten«, stammelte er schließlich in gebrochenem Englisch. »Meine Familie wurde vor Jahren von einem feindlichen Stamm getötet. Die Al-Hajid brachten meine Eltern und meinen Bruder um.«

»Ja«, bestätigte der alte Mann traurig, »aber dich nicht. Und jetzt habe ich dich gefunden, Kenneth Tristan, meinen Erben!«

Erben? Was war ein Erbe?

»Ich bin dein Großvater«, sagte der Mann noch einmal.

Großvater? Sein Großvater, Nkosi, besuchte gerade die Al-Hajid und seine Frau. Wieder sah Khepri ängstlich zu Jabari, aber der Scheich blickte nach wie vor mit versteinertem Gesicht in die Ferne. Wie konnte das sein? Er war ein Khamsin, ein Krieger des Windes, ein Ägypter. Er ritt über sandige Steppen und war der Bruder des größten Wüstenscheichs in Ägypten. Und jetzt kam dieser fremde Engländer von jenseits des Meeres und wollte plötzlich Anspruch auf ihn erheben? Khepris Magen krampfte sich zusammen. Er musste die Eindringlinge vertreiben.

Demonstrativ streckte er die Beine aus, so dass seine Fußsohlen auf die Fremden wiesen. »Gehen Sie weg von mir. Ich kenne Sie nicht«, sagte er brüsk.

Natürlich würden sie nicht verstehen, wie ungezogen diese Geste war. Sie waren ja Engländer. Jabari indessen erstarrte vor Wut.

»Khepri!«, zischte er streng. »Du vergisst deine Manieren. Ein Khamsin gibt sich Gästen gegenüber stets höflich.« Er wandte sich an die beiden Engländer. »Ahlan wa sahlan. Sie sind in meinem Zelt willkommen.«


Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Sandsturm. Während die ägyptischen Bediensteten der Engländer deren Gepäck abluden, empfing Jabari die Besucher persönlich mit Gahwa. Die Kaffeezeremonie war eine Ehre, die der Scheich ausschließlich den hochrangigsten Gästen vorbehielt. Elizabeth, Ramses und dessen englische Gemahlin Katherine leisteten ihnen Gesellschaft, während zahlreiche Stammesmitglieder in der Nähe des Zelts herumlungerten und die beiden Engländer neugierig beäugten.

Khepri beobachtete voller Stolz, wie formvollendet sein Bruder die grünen Kaffeebohnen in dem kleinen Topf röstete, sie in einer flachen Holzschale kühlte und dann mahlte. Die beiden Engländer saßen auf dem weichen Teppich und unterhielten sich leise. Khepri sah sie ein wenig verärgert an. Warum lauschten sie nicht dem wunderschönen Klang des Stößels im Mörser? Offensichtlich hatten die Fremden keinen Sinn für Jabaris Kunstfertigkeit. Khepri verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte die beiden Männer verächtlich an.

Als der Kaffee fertig war, reichte der Scheich seinen Gästen höflich zwei kleine henkellose Tassen. Das wertvolle Porzellan war schon seit Generationen im Familienbesitz. Mit gemurmelten Dankesworten nahmen die Engländer die Tassen und nippten daran. Sogleich verzog Victor das Gesicht und gab sich keinerlei Mühe, zu verbergen, dass ihm der Kaffee nicht schmeckte. Khepri wurde beständig wütender.

Er selbst genoss seinen Kaffee mit der würzigen Kardamomnote, und er konnte nicht umhin, eine gewisse Schadenfreude zu empfinden, als er bemerkte, dass die Engländer zwischen einzelnen Schlucken gierig an Datteln lutschten, um den bitteren Geschmack zu lindern. Nein, diese Männer waren unmöglich mit ihm verwandt. Sie konnten ja nicht einmal Kaffee trinken!

Andererseits musste er immer wieder den Älteren ansehen, dessen Gesichtszüge unleugbar eine große Ähnlichkeit mit seinen eigenen aufwiesen. Ihm war, als verlöre die Erde unter ihm ihren Mittelpunkt, während er dem Mann zuhörte, der Jabari erklärte, wie wichtig es für ihn sei, seinen Enkel gefunden zu haben.

Als der Scheich bedächtig nickte, schrie Khepri innerlich auf. Nein! Dieser Mann konnte kein Verwandter sein. Nicht von ihm! Mit unverhohlener Neugier starrten die Leute draußen ins Zelt hinein. Am Rande der Menge entdeckte er Rashid. Im Stammesblau gewandet, betrachtete er die englischen Besucher aufmerksam. Dann begegneten sich sein und Khepris Blick. Rashid wandte sich eilig ab und ging weg.

Verwirrt und unsicher wie Khepri war, schweiften seine Gedanken zu Badra ab. Was, wenn die Fremden ihn in ihr grünes Grasland mitnehmen wollten? Sein ganzes Sein kreiste um ihren Schutz. Auf sie zu achten war sein Leben, seine Liebe und sein tiefstes Verlangen galten allein ihr und erfüllten sein Herz mit einem süßen Schmerz. Er konnte sie nicht verlassen.

»Khepri«, sagte Jabari auf Arabisch, »dein Großvater hat dich etwas gefragt.«

Er ist nicht mein Großvater, dachte er verärgert.

»Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass du oder dein Bruder noch am Leben seid«, sagte der Engländer. »Kenneth, du bist der Erbe eines der höchsten Titel Englands. Du wirst ein enormes Vermögen und einen großen Besitz erben. Ich weiß, wie schwierig das für dich sein muss, aber ich bitte dich, mit mir nach England zurückzukommen.«

Erbe? Titel? Er sah Jabari an, der hastig übersetzte. Khepri traf es wie ein Hieb. Ägypten gegen Besitztümer eintauschen? Wer brauchte Vermögen? Er genoss täglich den Reichtum der weiten Wüste.

»Wer hat euch hergebeten?«, fragte er erbost.

»Ich war es«, antwortete Katherine in ihrer sanften Art. Die Frau von Nazim – vielmehr jetzt Ramses – wirkte besorgt. »Mein Vater, der Earl of Smithfield, war ein guter Freund deiner Familie. Ich schrieb meinem Vater von dem Krieger mit den blauen Augen, der unter den Khamsin lebt und dessen Familie getötet worden war, und er berichtete deinem Großvater davon.«

Jabaris Wächter legte tröstend den Arm um seine Frau. »Katherine meinte es nur gut. Sie wollte, dass du deine wahre Familie findest.«

Wahre Familie! Eine Familie, die weit, weit weg war und ihn zwingen wollte, alles zu verlassen. Nein, das würde er nicht! Seine Heimat waren die Wüste, die Felsschluchten und der heiße Sand, nicht irgendein fremdes Land mit Wasser und grünen Grasflächen. Wie könnte er den brennend blauen Himmel und die gelbe Sonne hinter sich lassen? Wie konnte er sein geliebtes Ägypten aufgeben?

Er blickte hilfesuchend in die Runde. Elizabeth schien ebenfalls besorgt. Jabari und Ramses betrachteten ihn streng, und Katherine sah ihn bittend an. »Er ist ein guter Mann, Khepri. Du entstammst einer sehr ehrbaren, vornehmen Familie, die der ägyptischer Könige in nichts nachsteht. Er ist dein Großvater.«

Sie ließen ihn gehen. Wie konnten sie? Bedeutete Jabari die Familie denn gar nichts? Aber sie waren eben nicht blutsverwandt, und allein das genügte wohl, um Jabari den Abschied leicht zu machen.

Damit blieb Badra seine einzige Hoffnung. Wenn sie ihn heiraten würde, könnte sein Bruder ihn nicht mehr diesem weißhaarigen Fremden von jenseits des Meeres ausliefern. Und Khepri brauchte sie. Niemals würde er sie verlassen.

Langsam wurde er ruhiger. Ja, gewiss würde sie ihn heiraten! All die Zuneigung und Aufmerksamkeit, die sie ihm im Laufe der Jahre geschenkt hatte, ihre Freundschaft und der Kuss sprachen dafür. Badra empfand dasselbe für ihn wie er für sie. Heirat war die Antwort auf alles. Selbst die Khamsin zu verlassen schien ihm weniger bedrohlich, solange er sie an seiner Seite wusste. Mit ihr könnte er das Land des grünen Grases ertragen, falls es sein musste.

Er entschuldigte sich höflich und verließ das Zelt, ohne auf Jabaris sorgenvolle Miene zu achten. Badra saß unter einer Akazie und wob eine farbenprächtige Decke.

»Ich dachte, du sitzt mit deinem Großvater beim Kaffee.« Sie strahlte ihn an. »Ist es nicht wunderbar, dass deine Familie dich gefunden hat? Der ganze Stamm redet über deine noblen Vorfahren und darüber, dass du mehr Reichtum besitzen wirst als die alten Könige Ägyptens.«

Sie auch? Verdrossen setzte er sich hin. Allein bei ihr zu sein gab ihm schon ein wenig Frieden. »Ich will damit nichts zu tun haben.«

Badras Unterlippe bebte. »Ich verstehe dich nicht. Du bist sein Enkel. Wenn ich wüsste, dass ein Kind oder Enkelkind, das ich für tot hielt, lebend gefunden wurde, würde ich Berge versetzen, um es wiederzusehen. Du kannst dich glücklich schätzen, glaub mir.«

Er hasste es, sie traurig zu sehen. Doch kaum dass er ihr sachte über die Wange strich, erschien wieder ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. Allah, er wollte sie in seinen Armen halten und nie mehr loslassen!

»Ich muss dich etwas Wichtiges fragen.«

Sie verkrampfte sich sichtlich, als er vor ihr auf die Knie fiel.

»Heirate mich, Badra!«, sagte Khepri und sah sie ängstlich an. »Ich wollte diese Bitte eigentlich in einem würdigeren Rahmen an dich richten, aber die Zeit drängt. Weise mich nicht ab! Heirate mich, und ich gebe alles auf: das Vermögen und das Land, das mich erwartet. Werde meine Frau, und ich bleibe hier, als ein Khamsin. Oder, wenn du es wünschst, gehe ich mit dir nach England, wo wir Reichtümer so groß wie die Schätze Ägyptens besitzen werden. Ich kann mit allem leben, solange du an meiner Seite bist.«

Bitte, flehten seine Augen, ich kann dich nicht verlieren!

Sie saß stumm da und nagte an ihrer Unterlippe. Hoffnungsvoll wartete er ab. Nach dem Kuss gestern, so wie sie für ihn empfand, würde sie sicher …

Ihre Worte trafen ihn wie ein Hieb mit einem nassen Tuch.

»Es tut mir leid, Khepri. Ich … ich kann dich nicht heiraten. Ich habe nicht dieselben Gefühle für dich wie du für mich«, flüsterte sie.

Für eine Minute war er sprachlos vor Schreck. Er sah sie fragend an. Nein? Sie wandte das Gesicht ab, und ein Gewicht wie von einem Felsen legte sich auf seine Brust, während seine letzte Hoffnung schwand. All die Jahre hatte er gewartet, sie verehrt, auf sie gehofft und geglaubt, er bedeutete ihr etwas. Er hatte sich geirrt.

Seine Verzweiflung verwandelte sich in rasenden Zorn, der schlimmer als der schrecklichste Sandsturm in ihm wütete. Khepri stand auf und zog seinen Dolch aus dem Gürtel, denselben, mit dem sie sich einst das Leben nehmen wollte. Etwas in ihm zerbröselte zu trockenem Staub.

Mit einem tiefen Stöhnen schnitt er sich die Handfläche auf – eine symbolische Erinnerung daran, wie er ihr bei ihrer ersten Begegnung das Leben gerettet hatte.

»Dies ist das letzte Mal, dass ich mein Blut für dich vergieße, Badra. Aber du brauchst dich nicht mehr um meine Wunden zu kümmern. Nimm den Dolch! Er gehört jetzt dir. In England werde ich keine Verwendung für ihn haben.« Mit einem angewiderten Ausdruck schleuderte er die Waffe in den Sand, wo sie wippend steckenblieb.

Dann ging er, eine Spur von Blutstropfen auf dem Boden hinter sich lassend wie rote Tränen. Der brennende Schmerz in seiner Hand jedoch war nichts im Vergleich zu dem in seinem Herzen.


Für Khepri schien die Zeit auf grausame Weise stillzustehen, obwohl mehrere Tage vergingen. Er hatte sich entschieden, nach England zu gehen. Hier hielt ihn nichts mehr. Badra hatte ihn abgewiesen, und morgen würde er abreisen.

Jabari hatte ihm zwar sein Mitgefühl ob Badras Ablehnung ausgesprochen, nahm aber offensichtlich nicht wahr, wie sehr Khepri litt. Mit einem bitteren Lachen kam Khepri vor dem Zelt des Scheichs an. Dort stieß er beinahe mit Rashid zusammen, der gerade nach draußen trat. Der muskulöse Krieger versperrte ihm den Weg und sah ihn finster an.

»Aus dem Weg!«, befahl Khepri ihm. »Ich habe keine Zeit, mit dir zu streiten.«

Der Krieger jedoch rührte sich nicht. Stattdessen starrte er Khepri weiter an, die Lippen zusammengekniffen und die Augen eisig.

»Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es!«, zischte Khepri verärgert. »Ich muss meinen Bruder sehen, bevor ich nach England gehe.«

Auf einmal grinste Rashid hämisch. »Dein Bruder? Nicht mehr. Geh nach England! Du gehörst in das Land der schmerbäuchigen Engländer. Da passt du sehr gut hin«, höhnte er.

Khepri antwortete mit einer verächtlichen Geste. Der andere aber betrachtete ihn finster. »Du solltest Badras neuem Falkenwächter etwas mehr Respekt zeigen.«

Wie gelähmt vor Entsetzen stand Khepri da, während Rashid leise lachend fortstolzierte.

Khepri zitterte noch, als er Jabaris Zelt betrat. Der Scheich bedeutete ihm, sich neben Ramses zu setzen, und er gehorchte.

»Rashid behauptet, er sei Badras neuer Falkenwächter«, platzte es aus Khepri heraus.

Der Scheich und sein Wächter tauschten Blicke aus. »Das ist wahr. Ich möchte, dass Badra sich weiter beschützt fühlt, wenn du fort bist. Deshalb ernannte ich ihn zu ihrer neuen Wache.«

»Sie braucht keinen Wächter mehr. Fareeq ist längst tot«, protestierte Khepri. Allah, er verabscheute den Gedanken, dass Rashid in der Nähe seiner geliebten …

»Es gibt andere Männer, die ihr nicht mit dem gebührenden Respekt begegnen könnten. Und Badra … sie bat um Rashid«, erklärte Ramses.

Sie hatte um ihn gebeten? Um ein Al-Hajid-Schwein? Rashid sollte beschützen, was einst sein war? Seine Welt löste sich vor seinen Augen auf. Alles Vertraute verschwand, einschließlich seiner eigenen verfluchten Würde.

»Khepri, äh, Kenneth, ich bat dich aus einem besonderen Grund her.« Jabari zog einen wunderschönen Dolch mit Juwelenbesatz aus einer Lederscheide. Ramses betrachtete ihn voller Ehrfurcht.

»Du bist kein Blutsverwandter von mir, doch bevor du gehst, möchte ich dich zu einem machen. Heute Nacht, unter dem Mond und den Sternen, werde ich uns im Blut verbinden. Und ich überreiche dir diesen Dolch hier offiziell. Es ist der Hassid-Hochzeitsdolch, der von einem Bruder zum nächsten weitergereicht wird. Ich gebe ihn dir, denn auch wenn du nicht mein Bruder im Blute bist, bist du es doch in meinem Herzen.« Ehrfürchtig hielt er ihm den Dolch mit beiden Händen hin.

Dann fügte er feierlich hinzu: »Ich gebe ihn dir heute für den Tag, an dem du heiratest, damit du immer weißt, dass unser Bund auf ewig besteht.«

Heiraten? Khepri verspürte eine drückende Leere in seiner Brust. Wie konnte Jabari so blind sein? Wie konnte der Mann, der ihm näher war als ein Bruder, von ihm erwarten, eine andere Frau als die zu heiraten, nach der er sich seit Jahren verzehrte – und die ihm das Herz gebrochen hatte?

Wut und Verbitterung regten sich in ihm. Sie ließen ihn gehen. Mit keiner Silbe hatte Jabari den Plänen der Engländer widersprochen. Sie wollten ihn hier nicht. Badra wollte ihn nicht. Also würde er Ägypten verlassen und nie mehr zurückblicken. Vor allem würde er ihnen unmissverständlich klarmachen, dass er nicht mehr wiederkäme.

Er warf den wunderschönen mit Rubinen und Diamanten verzierten Dolch beiseite. »Nein, Jabari, ich will ihn nicht.«

Der Scheich fuhr zurück, erstaunt und sichtlich empört, während Ramses Khepri mit offenem Mund anstarrte.

»Du … lehnst meinen heiligen Hochzeitsdolch ab?«

Khepri war fast blind vor Zorn. »Behalte deinen verdammten Dolch! Ich bin nicht dein Bruder. Ich war es nie und werde es nie sein«, knurrte er, stand auf und ging.


Zum letzten Mal verbrachte er eine einsame Nacht in seinem Zelt. Da er kein Auge zubekam, lag er da, lauschte den Klängen der Wüste und gab sich seiner Verzweiflung hin. Badra hatte ihn abgewiesen. Sie liebte ihn nicht, hatte es nie getan.

Eine tödliche Stille legte sich über das Lager, als Khepri sich am nächsten Tag zur Abreise bereit machte. Viele vermieden es, ihn anzusehen. Eine einzige Truhe enthielt seine gesamten Habseligkeiten: seine kleineren Skulpturen, seinen Krummsäbel, Bücher in Arabisch. Ein schwaches Geräusch drang von draußen in sein Zelt. Er schlug die Plane zur Seite. Sie war es.


Badra ging hinein, obgleich Khepri sie nicht in sein Zelt gebeten hatte. Ohne auf sie zu achten, schleuderte er verschiedene Gegenstände in eine große Truhe. Sie hatte ihn verletzt, so wie er Jabari verletzte. Der Scheich sah immer noch tief getroffen aus.

Unsicher fingerte Badra an den Fransen ihres hübschen blauen Schleiers. Ihm Lebewohl zu sagen brach ihr das Herz.

»Du hast also Rashid gebeten, dein Wächter zu sein«, murmelte er.

»Er ist ein guter, tapferer Krieger …«

Sie verstummte. Als Khepri seinen Fortgang verkündet hatte, hatte sie Rashid angesprochen und einen Pakt mit ihm geschlossen. Sie hatten sich gegenseitig geschworen, die dunklen Geheimnisse ihrer leidvollen Vergangenheit zu bewahren und mögliche Werber um Badra abzuwehren, indem sie vorgaben, einander zugetan zu sein. Keiner von ihnen wollte jemals heiraten.

Nun stand sie hier, und das Geheimnis, das sie Khepri enthüllen musste, wollte ihr nicht über die Lippen kommen. Er musste wissen, weshalb sie ihn abgewiesen hatte. Doch er war beängstigend distanziert, und seine Augen – ach, diese Augen! – leuchteten frostig wie blaues Eis.

Ihr Mut verließ sie. Sie konnte es ihm nicht sagen.

»Khepri, ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen und dir alles Gute zu wünschen.« Ihre Stimme versagte. »Ich werde dich schrecklich … vermissen.«

Mit dem Fuß trat er seine Truhe zu und weigerte sich, Badra anzusehen.

»Ich wünschte, alles … könnte anders sein«, stammelte sie leise.

Ich wünschte, ich könnte anders sein. Du wirst nach England gehen und eine Frau finden, die dich so liebt, wie ich es nicht kann. Und jedes Mal, wenn ich mir vorstelle, wie sie in deinen Armen liegt, werde ich innerlich ein bisschen mehr sterben. Aber ich kann nicht mit dir zusammen sein. Meine Vergangenheit hat mich für immer gezeichnet, und ich habe zu große Angst.

»Geh, Badra! Ich muss zu Ende packen«, sagte er kalt in einem steifen, aber fließenden Englisch.

Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie ging.


Es gab keine Abschiedszeremonie für ihn und auch keine Umarmung. Einzig Elizabeth und Katherine nahmen ihn in die Arme, und Katherine bat ihn, ihren Vater aufzusuchen. Eine betretene Stille herrschte unter den Khamsin, die sich am Rande des Lagers versammelt hatten, um der Abreise der Engländer beizuwohnen. Sie alle waren dabei, als Kenneth, der Erbe des Herzogs, die einzige Familie verließ, die er je gekannt hatte.

Ein heftiger Wüstenwind blies über den Sand und trieb Khepri brennende Körner in die Augen. Allein deshalb wurden sie feucht, als er auf sein Pferd stieg und einen letzten verstohlenen Blick auf Badra warf. Sie hielt die Hand des Scheichs, als wollte sie ihn trösten. Jabari sah mitgenommen aus. Fast wollte man glauben, Khepri hätte ihm einen Dolch ins Herz gestoßen.

Doch sie alle bedeuteten ihm nichts mehr. Er drehte sich um und ritt davon, gefolgt von seinem Großvater, seinem Cousin und seinen Bediensteten.

Er blickte nicht zurück.

Leidenschaft der Wüste: Sie suchte seinen Schutz - und fand die Liebe
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