Kapitel 6
Das war ausgesprochen ungezogen. Wo sind denn deine Manieren?« Badra sah kühl zu ihrem Freund herab. Ihrem Beschützer. Ihrem Gefährten im Schmerz.
Rashids schönes Gesicht verzog sich plötzlich reumütig. »Es tut mir leid, Badra. Ich wollte dich nicht verärgern.«
Sie kam die Treppe hinunter und auf ihn zu. »Warum hasst du ihn so sehr? Wegen dem, was er Jabari angetan hat?«
Für einen kurzen Moment lag echtes Bedauern in seinem Blick, aber es verblasste gleich wieder. »Es ist eher Neid als Hass. Khepri hat immer nur Glück gehabt. Er genoss stets … Vorteile, die den meisten anderen nicht zuteilwerden.«
Die unverblümte Offenheit ihres Freundes überraschte Badra. »Rashid, quäl dich nicht! Es gibt immer andere, die Vorzüge genießen, welche uns versagt bleiben. Das Leben nimmt uns bisweilen gewisse Wahlmöglichkeiten, und wir müssen das Beste aus dem machen, was uns gegeben wird.«
Rashids Gesicht verfinsterte sich. Sie kannte diesen Blick – Angst gepaart mit tiefer Scham.
»Du musst freundlich zu Khepri sein, besonders bei Lord Smithfields Dinnerparty heute Abend.«
»Das wird nicht nötig sein, denn ich bin nicht dabei.«
»Aber du hast es versprochen, Rashid!«
»Ich ertrage es nicht, dass mich die Engländer wie ein Ausstellungsstück begaffen. Ich hasse sie!«, sagte er verbissen. Doch Badra wusste, dass es einen tiefergehenden Grund gab, weshalb er sich weigerte, an der Gesellschaft teilzunehmen.
»Was ist passiert, Rashid? Ich weiß, dass irgendetwas vorgefallen sein muss. Das sehe ich dir an.«
Er schwieg, und ein Dienstmädchen ging mit Blumen in der Hand an ihnen vorbei. Badra spürte, dass er sich unwohl fühlte. »Lass uns unter vier Augen reden – in meinem Zimmer.«
Oben schloss sie die Tür hinter ihnen und beobachtete, wie Rashid sich im Schneidersitz auf den Boden setzte. Sie wartete geduldig ab, bis der Krieger tief durchgeatmet hatte. Sein Gesicht war blass und verschwitzt.
»Als ich im Park war … habe ich jemanden gesehen. Er sah genauso aus …« Rashid schluckte.
»Wie der Engländer, der dich verletzt hat«, beendete sie den Satz für ihn.
Er neigte den Kopf und malte mit dem Finger eine Linie im Teppich nach. »Badra, es gibt etwas, das du wissen solltest. Er hat mich nicht … gezwungen.«
Badra starrte ihn an. Ihr wurde übel.
»Er war ein englischer Adliger auf der Durchreise, der einen unserer Araberhengste kaufte, ein Mann mit viel Macht und hohem Ansehen. Ich bat ihn, mir zu helfen, dem Mann zu entkommen, der mir Nacht für Nacht Gewalt antat. Er sagte, eine solch große Gefälligkeit hätte einen hohen Preis. Er, er … begehrte mich. Falls ich mich nicht sträubte … würde er mir helfen. Als ich mich weigerte, fragte er, was denn schon ein Mal mit ihm im Vergleich zu einem Leben mit meinem Peiniger wäre? Ich war so verzweifelt, dass ich zustimmte. Als es … als es vorbei war, warnte er mich, es niemandem zu erzählen, sonst würde er mir die Schuld geben. Dann lachte er und ritt davon. Er ließ mich dort, Badra, gefangen. Es gab kein Entkommen.«
Rashids Stimme klang so rauh, dass Badra eine Gänsehaut bekam. »Das ist der Grund, weshalb ich nicht nach England wollte. Er ist hier, in London. Ich weiß es. Und ich ertrage es nicht, ihn zu sehen. Dieses Gesicht, das rote Haar verfolgt mich bis in meine Träume.«
»Wie alt warst du damals?«, fragte sie leise.
Sein langes dunkles Haar verhüllte ihn. »Alt genug, um zu wissen, was er getan hatte – was ich ihn tun ließ. Ich war acht.«
Badra kämpfte mit der Übelkeit, als sie an den kleinen Jungen dachte, der derartigen Schrecken ausgesetzt gewesen war. Was immer sie selbst erlitten hatte, Rashid hatte mindestens doppelt so schlimm leiden müssen.
»Gib dir keine Schuld! Ich habe Jahre damit verschwendet, das zu tun. Du musst lernen, mit den Erinnerungen zu leben. Mit der Zeit verblassen sie.« Obwohl sie ihm Mut machen wollte, klangen ihre Worte hohl.
Es entging ihm nicht. »Tun sie das?«, fragte er in zweifelndem Ton. »Jahrelang habe ich mit dieser Qual gelebt. Ich kann keinen Engländer ansehen, ohne dass mir kalter Schweiß ausbricht. Ich … ich schäme mich so.«
Erst jetzt sah er sie an. »Sag es mir, Badra, bitte! Sag mir, dass sie verblassen und ich wieder ein Mann sein kann!«
Es brach ihr das Herz. Sie stellte sich die Angstschreie des Knaben vor, während Fareeqs rechte Hand seine widerwärtigen Neigungen an ihm befriedigte … und dann die Scham des Jungen, nachdem er dem Engländer erlaubt hatte, dasselbe zu tun.
»Du bist ein Mann, Rashid! Ein tapferer, ehrbarer Krieger. Daran zweifelt niemand. Und dein Geheimnis wird bei mir sicher sein.«
Er berührte ihre Hand und nickte. Allmählich schien er sich wieder gefasst zu haben, und sein üblicher beherrschter Ausdruck kehrte zurück. »So wie deines bei mir«, erklärte er feierlich.
Sie drückte seine Hand. Für einen Moment saßen sie so zusammen, versunken in ihren Erinnerungen – und in ihrer Reue.
Es war ein schrecklicher Fehler, bei Lord Smithfields Abendgesellschaft zu erscheinen. Das erkannte Badra jetzt. Sie wollte sich einschließen und trauern, weil sie im letzten Jahr zu feige gewesen war, Kenneths Antrag anzunehmen. Zugleich regten sich die widersprüchlichsten Gefühle in ihr, und letztlich siegte ihre Neugier. Sie musste die britische Gesellschaft erleben, die zu ihrer Welt geworden wäre, hätte sie Khepri geheiratet. Deshalb bat Badra eine Magd, ihr beim Ankleiden zu helfen, und ging hinunter zu der Dinnerparty.
Unter ihrem eleganten smaragdgrünen Seidenkleid brach Badra kalter Schweiß aus, sobald sie die Menge sah. Ihr war, als müsste sie ersticken.
Die eleganten Damen in ihren raschelnden Seidenkleidern und die Herren in ihren vornehmen schwarzen Anzügen betrachteten sie neugierig, als Lord Smithfield sie vorstellte. Die Männer sahen sie interessiert und teils lächelnd an, während die Frauen sie eher kühl und abschätzend musterten. Badra fühlte sich wie ein ausgestelltes Kunstobjekt, das von allen angestarrt und untersucht wird.
Dann jedoch tauchte ein vertrautes Gesicht aus der Menge auf: der Duke of Caldwell. Schlagartig wurde Badras Mund sehr trocken.
Eine Frau in einem limonengelben Kleid lehnte sich sehr nahe zu Kenneth. Offensichtlich war sie fasziniert von ihm. Badra fiel auf, dass mehrere andere Damen ihm ebenfalls ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten. Seine Größe, sein phantastisches Aussehen und seine strahlend blauen Augen zogen die Damen an wie nasse Haut den Sand. Anscheinend vollkommen gelassen, plauderte er mit seinen Verehrerinnen.
Dann hob Kenneth den Kopf. Sein Blick begegnete Badras und hielt ihn buchstäblich fest. Einen Moment lang war ihr, als würden seine Augen sie verbrennen und mit einer Hitze erfüllen, die ihre geliebte ägyptische Sonne noch übertraf. Im nächsten Augenblick aber wandte er sich wieder der Dame an seiner Seite zu. Sie sagte etwas, worauf er sein tiefes Lachen erklingen ließ.
Badras Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Sie drang in seine fremde überhebliche Welt ein – allein. Sollte sie sich in der Gesellschaft einen gravierenden Fehler leisten, würde er sie nicht retten. Ihre Hände begannen zu schwitzen.
Als der Diener verkündete, dass das Essen serviert war, und alle ins Esszimmer geführt wurden, bekam Badra blanke Panik. Am liebsten wollte sie auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen.
Aber weder ihre Füße noch ihr Stolz erlaubten ihr, zu fliehen.
Der riesige Tisch war mit handgewebter Spitze bedeckt, auf der blitzende Teller, funkelndes Kristall und leuchtendes Silber arrangiert waren. Der stets mürrisch dreinblickende Diener stand in der Nähe und wirkte ebenso steif wie seine Uniform aus dunkelblauem Samt mit Goldstickereien. Er strahlte eine kalte Förmlichkeit aus, die nicht recht zu der eher lässigen Atmosphäre passen wollte, wie sie sonst bei Lord Smithfield herrschte. Kein Wunder, dass Rashid es vorzog, oben auf seinem Zimmer zu bleiben.
Badra wurde nervös, als ihr Tischnachbar, Viscount Oates, ihr galant den Stuhl vorzog. Ihre Beine schienen kurzzeitig wie festgefroren. Wie sollte sie das hier bewältigen? Sie war eine schlichte Beduinenfrau, die es gewohnt war, auf dicken Teppichen zu sitzen, flaches Brot anstelle von Besteck zu benutzen und schwere Kamelmilch aus groben Tassen zu trinken. Ein Diener schritt methodisch den Tisch ab und schenkte roten Wein in Gläser. Alkohol war Badra ebenso wenig gewohnt.
Sie blickte über den Tisch zum Duke, der sich mit seiner hübschen Tischnachbarin unterhielt. Dann sah sie sich um. Welche Gabel sollte sie nehmen? Was, wenn sie etwas verschüttete? Von den vielen verschiedenen Kristallgläsern ganz zu schweigen.
Die Frauen beäugten sie mit lebhaftem Interesse und schienen nur darauf zu warten, dass sie einen Fehler machte. Und wie wollte sie es verhindern? Ich kann das nicht!
Badra sah zu Kenneth, wollte ihn mit Blicken zwingen, sie anzusehen und ihr Mut zu machen. Aber er wirkte geradezu entschlossen, sie zu ignorieren.
Bitte, Kenneth, sieh mich an! Bitte! Ich habe Angst.
Endlich drehte er sich zu ihr um. Verzweifelt hielt sie seinen Blick fest und berührte hilflos die funkelnden Utensilien neben ihrem Teller. Dann blickte sie ihn fragend an.
»Sieh mir zu!«, bedeutete er ihr stumm.
Die Diener begannen, den ersten Gang zu servieren. Badra betrachtete die weiße Flüssigkeit in der zarten Porzellanschale und die unterschiedlichen Löffel. Kenneth hob den größten Löffel hoch, tauchte ihn in die Suppe und führte ihn dann langsam zum Mund. Badra versuchte, es ihm nachzumachen, schmeckte die seltsame Mischung und stellte fest, dass sie überraschend cremig war. Sie aß ein bisschen mehr und lächelte höflich, während Lord Oates mit ihr über die großartigen Pferde seiner Familie plauderte.
Ich werde nicht wie eine Wilde auftreten. Ich kann die richtigen Utensilien benutzen.
Badra beobachtete Kenneth sorgfältig, als die Diener die Suppentassen abräumten und den nächsten Gang auftrugen. Er nahm ein schweres Silberding, spießte damit das weiße Oval mit den grünen Bröseln auf und steckte es sich in den Mund. Badra tat es ihm gleich und widerstand dem Wunsch, sich ein Stück weißes Brot aufzubrechen, um die Sauce aufzunehmen, ebenso wie dem Drang, den schweren Mahagonistuhl wegzuschieben und sich auf den Boden zu setzen.
Ein rotgesichtiger Adliger in der Nähe sprach Kenneth über die Tafel hinweg an. »Na, Caldwell«, rief er, »kommen Sie dieses Jahr wieder auf mein Landgut, um mit mir auf die Jagd zu gehen? Wir könnten ein oder zwei Fasane schießen.«
»Solange ich die Vögel treffe und nicht Ihre Bauern, gern, Huntly. Beim letzten Mal hätte ich ja leider beinahe einen Ihrer Pächter anstelle des Vogels erwischt«, scherzte Kenneth zum Amüsement aller Umsitzenden.
Auf die bewundernden Blicke der Damen hin regte sich Eifersucht in Badra. Khepri war für immer fort, und Kenneth der Duke nahm geschmeidig dessen Platz ein – ein vornehmer, gebildeter Adliger, der sich nahtlos in diese fremde glitzernde Welt einfügte. Badra kam sich vor wie ein stumpfer Kieselstein inmitten von glitzernden Rubinen und Diamanten.
Zu ihrer Überraschung höhnte Lord Oates neben ihr: »Nichts gegen Fasanenschießen, aber ich frage mich, warum Sie den meisten Bällen der letzten Saison fernblieben. Meiden Sie womöglich den Heiratsmarkt? Oder fürchten Sie sich vorm Walzertanzen? Brachte man Ihnen in Ägypten keine gesellschaftlichen Umgangsformen bei?«
Kenneth kniff die Augen kaum merklich zusammen.
»Ach ja, ich vergaß! In diesem faulen Heidenstamm, der Sie großzog, hält man nichts vom Tanzen, es sei denn, man wird von einem britischen Säbel dazu angestachelt.« Oates lachte schallend, ohne darauf zu achten, wie sehr er seine Tischdame beleidigt hatte.
Ein Laut entwich Kenneths Lippen – ein Flüstern nur, beinahe wie ein Murmeln, das Badra aus der Vergangenheit vertraut war. Es handelte sich um einen Schlachtruf, den er immer dann ausstieß, wenn er mit männlichem Imponiergehabe konfrontiert war; ein Ruf zu den Waffen, den er von seinem Vater erlernt hatte. Das heißt, nicht von seinem leiblichen Vater, sondern von dem Scheich, der ihn aufzog.
»Was war das?«, rief eine Frau erschrocken.
Schweigen legte sich über die Tafel wie ein schwerer Vorhang, und Badra sah Kenneth eindringlich an. Sie konnte allerdings nicht leugnen, eine gewisse Freude darob zu empfinden, dass er den Gästen tatsächlich Angst einjagte. Khepri mochte hinter der Fassade des städtischen Herzogs verborgen sein, konnte jedoch jederzeit wieder hervortreten, wie der Khamsin-Schlachtruf mehr als anschaulich demonstrierte. Kenneth wandte sich der Dame zu.
»Das, meine liebe Lady Huntly, war der Ruf zum Tanz, wie ich ihn bei dem Stamm lernte, bei dem ich aufwuchs. Sie haben recht, Oates, die Khamsin tanzen nicht im traditionellen englischen Sinne. Ihre Tänze sind eindrucksvolle Demonstrationen von Kraft in Vorbereitung auf die Schlacht. Dabei versammeln die Krieger sich mit freien Oberkörpern und zeremoniellen Salbungen vor einem mächtigen Feuer, um sich auf das bevorstehende Blutvergießen einzustimmen. Sie tanzen, um ihrem Scheich zu zeigen, dass sie bereit sind, für ihren Stamm zu sterben.«
»Sind Damen bei dieser Zeremonie anwesend?«, wollte eine Dame atemlos wissen, die sich Luft zufächelte. Ein Schweißtropfen lief ihr über die Schläfe.
Kenneth sah Badra bedeutsam an. »Nein, denn es wird befürchtet, dass die Damen angesichts des Spektakels ohnmächtig würden.« Leiser fügte er hinzu: »Derartige Demonstrationen männlicher Potenz dürfen die Damen in der Abgeschiedenheit der dunklen Zelte genießen.«
Bei dieser Bemerkung errötete Badra heftig, und da Kenneth den Blick nicht von ihr abwandte, wurde ihr überall heiß, als säße sie vor einem solchen großen Feuer, wie er es beschrieb – als wären sie allein und er so kühn, etwas Verbotenes, Exotisches und Mysteriöses zu enthüllen.
Oh ja! Er besaß nach wie vor etwas Bedrohliches und zugleich Erregendes. Badras Lippen öffneten sich wie von selbst, als sie ihn beobachtete, wie er den Stiel seines Weinglases mit eleganten Fingern streichelte. In ihrer Phantasie erschienen Bilder von derselben Hand, die über einen weiblichen Schenkel strich, neckend und liebkosend …
Und auf einmal veränderte sich das Bild und zeigte ihren Schenkel, dazu den trägen lustvollen Blick des Herzogs, dessen Hand beständig höher glitt und dabei jeden Millimeter Haut entflammte, den sie berührte. Gleichermaßen verwirrt wie erregt, atmete Badra bebend ein.
Überall wurden nun Fächer aufgeklappt, mit denen die Damen sich am Tisch seufzend ihre roten Wangen kühlten. Mit geradezu boshaftem Vergnügen fragte Kenneth: »Möchten Sie vielleicht, dass ich Ihnen den Kriegstanz der Khamsin beschreibe?«
Wie im Chor riefen mehrere Frauenstimmen: »Oh ja!«
Der Duke of Caldwell kam ihrem Wunsch lächelnd nach. Die Frauen weiter unten am Tisch reckten die Hälse, um nur ja kein Wort zu versäumen. Es folgten bewundernde Seufzer, während er gestikulierend schilderte, wie sich die Krieger »raubkatzenähnlich« umschlichen, um dem Scheich ihre Kühnheit zu demonstrieren, wie sie vor dem Kampf auf die Gesellschaft ihrer Frauen verzichteten, nach dem Sieg allerdings in ihre Zelte gingen und dort eine »wilde unerschöpfliche Manneskraft« bewiesen. Kenneth deutete lediglich mit Blicken an, dass die Lager an solchen Abenden von weiblichen Wonneschreien erfüllt waren.
Alle lauschten ihm gebannt, und zum Ende seiner Erzählungen hatten sämtliche Frauen an der Tafel hochrote Gesichter. Einige sahen aus, als würden sie gleich in Ohnmacht fallen.
Der Duke lächelte sie höflich an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder ganz Badra widmete. Sie hatte das Gefühl, von seiner Erzählung bis ins Mark aufgeweicht zu sein, wehrlos dem brennenden Blick aus seinen Augen ausgeliefert.
»Nun, Badra, ich hoffe, du hast bei meinen Erklärungen zu den Khamsin-Riten kein Heimweh bekommen«, sagte er.
»Es hörte sich an, als wärst du derjenige, der Heimweh hat«, erwiderte sie.
Sein erstauntes Gesicht ließ ihren Atem stocken. Es lag eine Traurigkeit in seinen blauen Augen, die sie beinahe schmerzte. Sie erkannte seine Sehnsucht nach der Wüste, der Sonne und den Rufen der Krieger, wenn sie ihre Pferde in die Schlacht trieben. Doch im nächsten Moment war dieser Ausdruck verschwunden wie ein kostbarer Regentropfen im heißen Sand.
»Aber, meine liebe Badra«, sagte er lächelnd und mit nurmehr einem Hauch von einem ägyptischen Akzent, »wie könnte ich unter Heimweh leiden, wo ich mich hier doch gänzlich heimisch fühle?«
Er erhob sein Kristallglas. Badra aber konnte nicht so schnell vergessen, was sie eben gesehen hatte, erinnerte es sie doch an alles, was sie verloren hatte: seine Freundschaft, seinen Schutz und seine Liebe.
Sie war zu seiner Feindin geworden.
Und das machte ihr Angst, denn im Grunde seines Herzens war Kenneth immer noch ein Khamsin-Krieger, der seine Kraft unter einer Politur urbanen Humors und höflichen Adligengebarens versteckte. Sollte er von ihrem Verbrechen erfahren … würde er dann den ungezähmten Gefühlen in seinem Innern freien Lauf lassen und sie gegen sie wenden?
Ihr Herz pochte, und sie senkte den Blick, da sie an ihren heimlichen Traum dachte. Sie war seine Frau geworden und in dieser fremden neuen Welt an seiner Seite. Gemeinsam stellten sie sich allem, was sie erwartete, als ein Herz und eine Seele.
Aber das war ein Traum, der flüchtig wie der Nebel blieb. Sie war eine ehemalige Sklavin, eine Konkubine und nun auch noch eine Frau, die seine Ausgrabungsfunde schmuggelte – Schätze, die eigentlich einem Stamm gehörten, der Kenneth für immer aus seiner Mitte verbannt hatte.