Kapitel 2

London, im Februar 1895

Die neue Hose war im Schritt zu eng.

Ein beklemmendes Engegefühl verschlug ihm den Atem, als der Schneider das edle schwarze Tuch mit einem Schwung nach oben zog. Kenneth Tristan, Duke of Caldwell, stieß einen stummen Pfiff aus, so schmerzhaft schnitt ihm das Beinkleid in seine unteren Regionen. Dann murmelte er einen arabischen Fluch über den Schneider und dessen offensichtliche Verwandtschaft mit einem weiblichen Wüstenschakal.

»Oh, oh, das habe ich befürchtet, Euer Gnaden! Mein neuer Gehilfe hat sich nicht die genaue Größe notiert. Ihr seid viel größer, als er dachte«, sagte der grauhaarige Schneider kopfschüttelnd. Dann sank er auf die Knie und studierte Kenneths Lenden mit derselben Intensität, wie dessen französischer Koch einen Rinderbraten prüfte.

»Befreien Sie mich aus diesem höllischen Ding, bevor es mich noch zum Eunuchen macht!«

Der Schneider blickte verwirrt zu ihm auf. »Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden. Ich verstehe nicht.«

Sein Englisch war beinahe perfekt, nur sorgte sein ausgeprägter ägyptischer Akzent immer wieder für Stirnrunzeln. Er biss die Zähne zusammen und sagte so deutlich wie möglich: »Zieht sie aus! Die Hose passt nicht.«

Der Schneider stand auf und rang die Hände. »Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden. Ich fürchte, mein neuer Assistent muss noch lernen, richtig Maß zu nehmen.«

»Lasst es besser von einer Frau machen. Frauen wissen, wie man richtig misst. Glauben Sie mir!«

Flanders sah ihn entsetzt an und begann tatsächlich zu schwanken. Vor seinem Tod hatte Kenneths Großvater den Protokolllehrer engagiert, der seinen Enkel unterrichten sollte. Er hatte gehofft, Kenneth würde sich rasch in die feine englische Gesellschaft einfügen. Das war bislang allerdings nicht der Fall. »Eine Frau! Unter keinen Umständen, Euer Gnaden! Euresgleichen wäre empört«, bemerkte Flanders.

Stets waren alle um »seinesgleichen« besorgt, um jene Adligen, die auf ihn herabsahen, weil er aus dem heidnischen Arabien kam. Kenneth blickte zu dem Schneider hinunter, der die Hose aufschnitt. »Am Bein passt sie auch nicht.«

»Denkt bitte daran, Euer Gnaden: Niemand spricht vom ›Bein‹ oder irgendeinem anderen Körperteil«, korrigierte Flanders ihn, »jedenfalls nicht in der feinen Gesellschaft. ›Gliedmaß‹ lautet die korrekte Bezeichnung.«

Immerzu erzählten ihm die Leute, wie er sprechen, was er sagen sollte. Kenneth runzelte die Stirn. »Wo wir gerade von Beinen reden: Warum ist mein Esstisch vollkommen verhüllt? Die Beine sind aus handgeschnitztem Mahagoni und sollten zu sehen sein.«

Flanders senkte die Stimme. »Weil der Anblick eines Tisch…beines … Männer bekanntermaßen erregt. Deshalb werden sie nicht gezeigt.«

Guter Gott! Engländer erregte es, ein Tischbein zu sehen? Das war wahrlich eine merkwürdige Kultur. Nach Monaten, in denen man ihn getadelt, zurechtgewiesen, korrigiert und zu dressieren versucht hatte, reichte es Kenneth. Er marschierte mit großen Schritten aus dem Ankleidezimmer in seinen benachbarten Salon. Dort blieb er vor seinem Satinholzsekretär stehen und starrte ihn an.

Seine Entourage trippelte hinter ihm her, eine kleine Horde sehr anständiger schwarzgewandeter Wanzen. Flanders’ besorgte Stimme erklang: »Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden, aber was tut Ihr?«

»Ich sehe mir die Beine des Sekretärs an.« Er richtete sich auf und blickte auf seinen Schritt herab. »Nein, funktioniert bei mir nicht. Ich bin kein bisschen erregt.«

Mit einem verstohlenen Grinsen kehrte er ins Ankleidezimmer zurück, um sich weiter malträtieren zu lassen. Der Küchenhelfer erschien mit wichtiger Miene. Kenneth unterdrückte seinen Ärger. Sein französischer Koch bereitete mit Vorliebe schwere Sahnesaucen, die der Verdauung nicht guttaten. Leider war ein hochgelobter Koch unentbehrlich, wenn man Gesellschaften gab, und Pomeroy war ein solcher, persönlich eingestellt von Cousin Victor.

»Entschuldigt, Euer Gnaden, Chef Pomeroy würde gern wissen, ob Ihr heute Abend Huhn oder Rind zum Abendessen wünscht.«

Kenneth sah Flanders an, während er antwortete: »Sag ihm, ich wünsche die … Hühnerbrust.«

Flanders verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen.

»Ja, genau, eine hübsche runde weiße Brust. Ich hätte sehr gern die Brust – und je größer, desto besser!«

Der Küchengehilfe, der nicht mitbekam, was hier passierte, nickte nur und ging wieder.

Kenneth stand in seinem opulenten Ankleidezimmer und staunte ein weiteres Mal darüber, wie sorgfältig sein ganzes Leben geordnet war. Er hatte einen Butler, der für ihn die Tür öffnete, eine Magd, die ihm Feuer machte, und einen Koch, der ihm Verstopfungen bescherte.

Der Schneider holte ein langes Band hervor. »Wenn Ihr gestattet, nehme ich noch einmal korrekt Maß, Euer Gnaden.«

Kenneth gab es auf und zog sich bis auf die weiße Seidenunterhose aus. Dann streckte er die Arme aus. Er kam sich wie ein verdammter Idiot vor. Der Schneider legte das Band an seinem Hals an und maß von dort bis zu seinem Handgelenk. Keine Würde. Keine Privatsphäre.

»Diese Arbeit sollte dennoch einer Frau übertragen werden. Ich wüsste genau die richtige«, murmelte er dem Schneider zu und schloss die Augen.

Er dachte an die schwarzen Zelte in der ägyptischen Wüste, wo es einem Mann erlaubt war, sich mit Freuden dem Genuss hinzugeben, von einer Frau entkleidet zu werden. Badra. Dunkle Augen, die wie die Sterne in einer klaren Nacht funkelten. Sein Herz pochte, als er sich daran erinnerte, wie die Sonne ihre Wangen geküsst hatte, an den eleganten Schwung ihrer Hüften, bei dem sich alle Männer bewundernd zu ihr umdrehten. Und er erinnerte sich an den Kuss im kühlen Wüstenmondschein …

Das Blut rauschte in seine unteren Regionen.

Kenneth sah hinunter und unterdrückte ein Stöhnen. Sein anschwellendes Glied reagierte mit Zucken und Nicken auf seine Gedanken. Badra, sagte es. Oh ja, ja, ja – wir mochten sie sehr, sehr gern. Wie ein ungezogenes Kind hatte es seinen eigenen Kopf.

Flanders sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen, der rotwangige Schneider hingegen schien schlicht beeindruckt.

»Oho!«, sagte er leise und legte eine Hand an seine Wange. »Äh, jetzt erkenne ich, dass die Hose nie passen wird.«

Kenneths Blick richtete sich wieder auf seinen Benimmlehrer. »Und was sieht das Protokoll für eine Situation wie diese vor?« Ohne auf die Antwort zu warten, winkte er ab. »Raus! Alle! Schickt mir meinen Kammerdiener mit Kleidern, die passen, verdammt! Und dann gebt dem Mann einen alten Anzug von mir, an dem er Maß nehmen kann!«

Alle flohen wie ein Rudel streunender Köter. Kenneth sank auf den Boden und setzte sich in Beduinenhaltung hin. Dann schloss er wieder die Augen, atmete tief durch und ließ die Spannung aus seinen Schultern entweichen. Er war so müde, seit sein Großvater gestorben war. Und die schweren sahnigen Speisen seines französischen Kochs machten alles nur noch schlimmer. Während der letzten zwei Monate war er besonders mit einer Einrichtung seines großen Herrenhauses vertraut geworden: seinem außerordentlich modernen, großzügigen »Bedürfniszimmer«.

Wenige Minuten später klopfte es an der Tür. Er rief »Herein« und öffnete ein Auge. Schüchtern trat sein neuer Kammerdiener ins Zimmer, der Kleidungsstücke über dem Arm trug.

»Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden – seid Ihr nicht wohl?«

»Ich mag es, auf dem Boden zu sitzen«, antwortete Kenneth ruhig.

Der Valet errötete. Kenneth stand auf. »Du bist der neue Kammerdiener – Hawkins, nicht wahr?«

»Ja, Euer Gnaden.«

»Solange du nicht bei mir Maß nehmen willst, werden wir bestens auskommen«, murmelte er. Der junge Mann lächelte unsicher.

Weil er mehr über seinen Diener wissen wollte, fragte Kenneth ihn nach seiner Herkunft und erfuhr, dass Hawkins einer großen Familie im Osten Londons entstammte. Der Mann plauderte über seine Eltern und Geschwister, während er alle Kleider vom Fußboden aufhob und Kenneth dann ein frisches Hemd hinhielt. Dieser drehte sich wieder zu dem großen vergoldeten Spiegel an der Wand um und streckte die Arme aus, damit Hawkins ihm das Hemd überziehen konnte.

»Das ist aber ein sehr extravagantes Mal, Euer Gnaden.«

Kenneth sah auf seinen rechten Oberarmmuskel. Dort prangte die kleine Tätowierung von einer sich zischend aufrichtenden Kobra in blauer Tinte. Er berührte sie ehrfürchtig, zog die Hand jedoch gleich wieder weg, als hätte er sie sich verbrannt.

»So etwas habe ich noch nie gesehen. Was bedeutet es?«

»Es ist ein Symbol meiner Vergangenheit«, antwortete Kenneth knapp.

Hawkins’ Augen leuchteten auf, als er Kenneth in das frische weiße Leinenhemd half.

»Eure Vergangenheit in Ägypten? Ein paar Dinge habe ich darüber bereits gehört. Ihr habt bei einem ägyptischen Kriegerstamm gelebt?« Hawkins befestigte den merkwürdigen engen Kragen, den Kenneth selbst nach einem Jahr in englischer Kleidung immer noch viel zu unbequem fand.

Ein vertrauter Schmerz legte sich wie eine Schraubzwinge um sein Herz. Flanders’ auf einmal sehr nützlich anmutender Rat ging ihm durch den Kopf: keine Vertraulichkeiten mit Bediensteten!

»Hilf mir einfach beim Ankleiden, Hawkins! Du wirst nicht fürs Fragenstellen bezahlt«, sagte er und sah den Kammerdiener im Spiegel an.

Hawkins schluckte. »Ich … ich bitte um Verzeihung«, stammelte er.

Der junge Mann sah so ängstlich aus, dass Kenneth ein schlechtes Gewissen bekam. Wahrscheinlich fürchtete Hawkins nun, wegen seiner zu vertraulichen Fragen gefeuert zu werden. Dabei war es Kenneths Fehler gewesen, dass er überhaupt etwas zu fragen gewagt hatte. Er, der von Kind an die lässige Umgangsart der Khamsin gewöhnt war, hatte immer noch Mühe mit der strengen Klasseneinteilung in England. So schwer es ihm auch fiel, er musste seine natürliche Freundlichkeit unterdrücken.

Du bist jetzt der Duke of Caldwell, nicht mehr Khepri!

Aber er war einsam. Innerhalb eines Jahres hatte er ein ungezwungenes Leben unter zweitausend Menschen gegen eines mit sich allein eingetauscht, mit den Bediensteten als einziger Gesellschaft in seinem riesigen Haus. Sein Leben fühlte sich sinnlos an – bis er die Telegramme aus Ägypten erhielt.

Kenneth betrachtete das sorgsam polierte Mobiliar seines gigantischen Salons. Auf dem Satinholzsekretär lagen zwei Telegramme neben einem Messingtintenfass und einem glänzenden goldenen Füllfederhalter. Das eine enthielt aufregende Neuigkeiten: Eine der Halsketten von Prinzessin Meret war gefunden worden.

Der größte Traum seines Vaters war wahr geworden.

Jahrelang hatte Kenneths Vater nach den legendären Halsketten von Prinzessin Meret gesucht. Als Kenneth vier Jahre alt gewesen war, hatte sein Vater die Ausgrabung in Dashur finanziert, weil er sicher gewesen war, dass dort der Eingang zur Pyramide mit den darunterliegenden Gräbern zu finden war. Und damit seine Familie in dem ruhmreichen Moment bei ihm sein konnte, hatte er sie alle mit nach Ägypten genommen. Zuerst hatten sie die Wüste zum Roten Meer auf einer Touristenroute durchquert, um das alte Land zu erkunden.

Dann hatten die Al-Hajid sie überfallen, und mit dem gewaltsamen Tod seines Vaters hatten auch dessen Träume und die Ausgrabungspläne geendet.

Vor zwei Monaten war es Kenneth gelungen, eine gewaltige Geldsumme bereitzustellen, mit der die Arbeit seines Vaters fortgesetzt werden konnte. Jacques de Morgan, Ägyptens Direktor für Antiquitäten, leitete die Ausgrabungen. Er hatte sowohl den Eingang zu den verborgenen Gräbern als auch eine der Halsketten gefunden. Vollkommen ekstatisch hatte Kenneth begonnen, eine Reise nach Ägypten zu planen, um selbst den Ausgrabungen beizuwohnen. Doch er hatte sich besonnen.

Als er letztes Jahr fortgegangen war, hatte er geschworen, nie wieder zurückzukehren. Der Sand Ägyptens barg zu viele bittere Erinnerungen. Deshalb beschloss er, lieber zu Hause auf Neuigkeiten zu warten, und ordnete an, dass seine Truhen wieder ausgepackt wurden.

Jetzt aber war ein weiteres Telegramm eingetroffen. Darin teilte man ihm mit, dass die Halskette gestohlen worden war. Und diese Nachricht rüttelte den Krieger in ihm wach. Uralte Schreie, über zweitausend Jahre von Generation zu Generation überliefert, hallten ihm durch den Kopf: der Kriegsruf der Khamsin. Sein Blut kochte und forderte Vergeltung.

Hawkins bürstete Kenneths dunkelgrauen Gehrock und seine gestreifte Hose. Instinktiv griff dieser an seine Hüfte und zog die Hand gleich wieder weg. Gewohnheiten sind schwer abzulegen. Da war kein Krummsäbel.

Nein, er war kein Khamsin mehr. Und trotzdem fühlte er sich ohne Waffen wie nackt.

Zumindest verlieh das Ziel, den Dieb zu finden, seinem Leben endlich wieder einen Sinn. England verfügte über den größten und besten Schwarzmarkt für gestohlene Antiquitäten. Das wusste er, seit er diskret die Geschäfte durchstöbert und nach vermissten Kunstgegenständen Ausschau gehalten hatte. Ihm gefiel die Herausforderung. Ja, verflucht, er brauchte endlich eine!

Kenneth lächelte seinem neuen Kammerdiener aufmunternd zu und dankte ihm stumm, worauf Hawkins sichtlich erleichtert wirkte.

»Schick mir Zaid!«, befahl Kenneth ruhig.

»Sehr wohl, Euer Gnaden.« Der Kammerdiener verbeugte sich respektvoll.

Als er gegangen war, strich Kenneth sich über die steife Kleidung und betrachtete den Fremden, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte. Er besaß alles: Reichtum, Titel, Ansehen.

Und zugleich hatte er nichts. Ein Gefühl beklemmender Leere nagte an ihm, dem er sich jedoch nicht hingeben wollte. Also straffte er die Schultern und ignorierte den Schmerz in seiner Brust.

»Ihr habt nach mir gerufen, Euer Gnaden?«

Hinter ihm im Spiegel erschien sein Sekretär. Kenneth fuhr irritiert herum. Er hatte Zaid nicht kommen gehört. Was war aus seiner legendären Fähigkeit geworden, ein Sandkorn zu hören, das zu Boden fiel? Seine Prioritäten hatten sich verschoben wie die ägyptischen Dünen. Mit seiner Anpassung an den britischen Lebensstil schwand seine kriegertypische Aufmerksamkeit.

Er sah den Mann mittleren Alters an, der vor ihm stand. Sein Großvater hatte ihn während einer Ägyptenreise kennengelernt und aus der Armut gerettet. Zaids Hautfarbe glich starkem arabischen Kaffee mit Milch. Er sprach, schrieb und las sowohl Arabisch als auch Englisch fließend, war intelligent und stets beherrscht. Still und fleißig kümmerte er sich um alle geschäftlichen Belange des Herzogtums, und Kenneths Großvater hatte ihm blind vertraut.

»Ich sagte doch, Zaid, wenn wir unter uns sind, nenn mich Kenneth.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Kenneth strich sich übers Revers. »Irgendwelche neuen Telegramme aus Ägypten?«

»Heute Morgen kam eines.« Zaid reichte ihm das Telegramm.

Verlegen rückte Kenneth seine Krawatte zurecht. »Was steht drin?«

Sein Sekretär las ihm laut vor, was de Morgan von den Ausgrabungen berichtete. Kenneth hörte zu. Wie de Morgan schrieb, hatte man an der Stelle, wo die Halskette gestohlen worden war, einen Stofffetzen im Sand gefunden. Es handelte sich um jenen blauen Stoff, wie ihn ein Wüstenstamm namens Khamsin trug. De Morgan erwähnte außerdem, dass vier Khamsin zu Besuch gewesen waren, bevor die Halskette verschwand: Jabari, Rashid, Elizabeth und Badra.

Kenneth hielt mühsam seine Stimme im Zaum, als er Zaid wieder entließ. Sobald er allein war, ging er unruhig im Zimmer auf und ab.

Könnte Jabari die Halskette gestohlen haben?

Es wäre eine angemessene Rache für seine Beleidigung des Scheichs, bevor Kenneth aus Ägypten fortgegangen war. Andererseits hatte Jabari große Achtung vor den alten ägyptischen Ruinen. Mithin ergab es keinen Sinn. Zutiefst verstört griff Kenneth in die Porzellanschale mit Zitronenbonbons und steckte sich einen in den Mund. Der Bonbon war schnell gegessen, und weil er immer noch Hunger hatte, eilte er die glänzende Holztreppe hinunter in die Küche. In der Tür blieb er stehen. Wie hatte Flanders noch wieder und wieder gesagt? Wenn Ihr etwas braucht, läutet.

Zum Teufel mit der verdammten Klingel! Wieso konnte er sich nicht einfach ein Stück Obst holen? Wozu der ganze Pomp und die Förmlichkeiten? Er wollte mit eigenen Händen eine Orange schälen, den Zitrusduft einatmen, fühlen, wie der Saft in seinen Mund spritzte, wenn er hineinbiss – und nicht winzige Stücke serviert bekommen.

Kenneth stieß die Tür auf und blieb wie versteinert stehen.

Sein französischer Koch lehnte am Fleischblock und brüllte die schluchzende Küchenmagd wütend an. Ein großes Stück rohes Rindfleisch lag wie eine Opfergabe auf dem Schneidbrett. Kenneth starrte den Koch an, der plötzlich seine Anwesenheit bemerkte. Er stieß einen kurzen Befehl aus, und sämtliche Augen im Raum richteten sich auf Kenneth.

»Warum schreien Sie sie an?«, fragte Kenneth ruhig.

Ein nervöses Zucken zeigte sich auf der plumpen Wange des Kochs. »Nun, Euer Gnaden, das ist nichts, worum Ihr Euch Sorgen machen müsst … eine reine Personalangelegenheit. Ich habe das Mädchen entlassen.«

Kenneth versuchte, die Situation einzuschätzen, da fiel ihm der runde Bauch des Mädchens auf. Er betrachtete die Magd, die ihn mit rotgeränderten Augen flehentlich anblickte.

Unmengen Bedienstete waren allzeit für ihn auf Abruf bereit, Schneider vermaßen seine Männlichkeit, und ein Gesellschaftssekretär machte ständig wegen des für einen Herzog angemessenen Protokolls Theater. Kenneth stellte sich vor, wie das Mädchen durch die nebelverhangenen Straßen Londons wanderte und um Arbeit bettelte, erschöpft, mit eingefallenen Wangen und voller Verzweiflung.

Er wurde wütend. Wie konnte diese Gesellschaft einfach eine Frau verstoßen, die ein uneheliches Kind unter dem Busen trug, wo doch direkt vor ihrer Haustür weit schlimmere Verbrechen begangen wurden?

»Sie werden sie nicht entlassen!«, sagte er ruhig, aber bestimmt.

Pomeroy quollen beinahe die Augen aus dem Kopf, und die kurzen Haare seines Schnauzbarts vibrierten. Dann begann er zu zischen wie heiße Butter in einem Topf. Kenneth betrachtete ihn interessiert, denn es sah recht komisch aus.

»Aber, Euer Gn-Gnaden«, stammelte der Koch.

»Nur weil sich das arme Mädchen in unglücklichen Umständen befindet, wollen Sie es auf die Straße setzen?«

Pomeroy stotterte noch ein bisschen weiter. Sein Gesicht wurde röter als das Fleisch auf dem Schneidbrett.

Unterdessen ging Kenneth zu der Magd, die sich das Gesicht an ihrer fleckigen Schürze abwischte. »Du wirst nicht gehen. Ich möchte keine gute Hilfe verlieren.«

»Danke, Euer Gnaden!«, flüsterte sie und rang die Hände. »Er hat gesagt, er heiratet mich, und – und dann ist er weg.«

»Jeder macht einmal Fehler.« Kenneth dachte an Badra, seinen schlimmsten Fehler, und ihr Nein zu seinem Antrag.

Pomeroy war inzwischen so rot, dass er jederzeit zu platzen drohte. »Euer Gnaden, ich muss darauf bestehen … Ihr dürft ihr nicht erlauben, hierzubleiben. Sie ist ein schlechtes Beispiel für das Personal.«

Kenneth wandte sich an die Küchenmagd. »Kannst du kochen?«

Sie nickte scheu. »Ich habe für meine Familie gekocht, Euer Gnaden. Einfache Kost, aber …«

»Gut. Einfache Kost klingt wunderbar. Dann fang mit dem Abendessen heute an. Du bist die neue Köchin.« Kenneth sah den französischen Koch kühl und gelassen an. »Packen Sie Ihre Sachen! Sie sind entlassen.«

Pomeroy fiel die Kinnlade herunter. »Aber, aber …«, prustete er.

»Heute!«, unterbrach Kenneth ihn.

Er fühlte sich deutlich besser, als er den auf Französisch schreienden Pomeroy stehenließ und in die Stille seiner Bibliothek flüchtete. Dort sank er auf einen zu weichen Sessel, stützte das Kinn in seine Hand und blickte in das Feuer, das im weißen Marmorkamin knisterte. In sämtlichen Räumen des Herrenhauses brannten Feuer. Er war wohlhabend und konnte sich die Kohle leisten. Außerdem war ihm so entsetzlich kalt …

Auf ein leises Geräusch hin wandte er sich zur Tür um. Zaid stand mit einem Stapel Papiere da.

»Soll ich die unterzeichnen?«

Zaid nickte, und Kenneth begab sich zu dem Satinholzschreibtisch. Er setzte sich in den wuchtigen Stuhl und starrte auf die Dokumente, die Zaid ihm gab. Sie sahen offiziell und wichtig aus.

Langsam tunkte er den dicken goldenen Federhalter in das Tintenfass. Einen Moment lang schwebte seine Hand unschlüssig über dem Papier, dann streckte er den Rücken durch und malte die zarten Kringel und Schleifen, die keinerlei Bedeutung für ihn hatten. Immerhin sahen sie sehr offiziell aus. Zaid schüttete Sand auf die Unterschrift, um die Tinte zu trocknen.

Sobald er fertig war, zog Kenneth seine goldene Uhr aus der Westentasche. Sein Freund, Landon Burton, der Earl of Smithfield, hatte ihn gebeten, ihn im Antiquitätengeschäft seines Cousins Victor zu treffen. Er versprach eine kleine Überraschung.

»Lass den Wagen anspannen, Zaid! Ich bin für mein Treffen mit Lord Smithfield spät dran.«

Der Sekretär ging, und Kenneth betrachtete die kleinen Sandkörner, die noch an der schwarzen Tinte hafteten. Sand. Ägypten. Seine Füße sehnten sich danach, jenes Land zu fühlen, das er einst seine Heimat genannt hatte. Aber es war nicht mehr seine Heimat.

Was für eine Ironie des Schicksals! Der englische Duke, der geschworen hatte, niemals nach Ägypten zurückzukehren, verzehrte sich nach diesem Land wie nach nichts anderem. Er kam sich wie ein Vertriebener vor, ohne Land oder Kultur. Von jenem Moment an, als er Ägypten verlassen hatte, war er entschlossen gewesen, die Frau zu vergessen, die sein Herz gebrochen hatte. Badra gehörte seiner Vergangenheit an, in der er wie der Wind durch die Wüste geritten war und mit starkem Arm den Krummsäbel geschwungen hatte. Er war nicht mehr Khepri. Und dennoch lockte ihn die Erinnerung an Badras Schönheit wie Sirenengesang. Er sollte sich Lumpen in die Ohren stopfen, damit die Melodie verstummte.

Gott stehe ihm bei, falls er sie jemals wiedersah! Gott stehe ihnen beiden bei!

Leidenschaft der Wüste: Sie suchte seinen Schutz - und fand die Liebe
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