Kapitel 3
Der Auftrag war weit gefährlicher, als sie zunächst angenommen hatte. Badras Herz setzte aus, als sie aus dem Kutschenfenster schaute. Sie hauchte von innen gegen die Scheibe und malte ihren Namen in Englisch. Beim Anblick der Buchstaben musste sie lächeln. Früher war sie Analphabetin gewesen, heute konnte sie Englisch und Arabisch lesen und schreiben. Das war ihr größter Erfolg.
Dann packte sie die Angst. War sie im Begriff, ihren größten Fehler zu begehen?
Gestohlene Artefakte zu einem Fremden zu schmuggeln war eine Sache. Aber eine Halskette, die Khepris Eigentum war? Ihr brach Schweiß aus, als sie die Hände in ihrem Muff fest zusammenpresste.
Das kalte graue Land, das Khepri nun seine Heimat nannte, machte sie frösteln. Sie sehnte sich nach dem warmen Sand Ägyptens, den sanften Wüstenbrisen und der brennenden gelben Sonne. Sie erschauderte vor dem Gedränge und Gestank Londons, dem dichten schwarzen Kohlenqualm in der Luft, dem jämmerlichen Flehen der in Lumpen gehüllten bettelnden Kinder, die in Hauseingängen kauerten, wie auch vor dem unablässigen Rattern der Kutschen, die gleichgültig durch Schlamm und Dreck rollten.
Badra sah zu Rashid, der sich mit Lord Smithfield, Katherines Vater, unterhielt. Der Earl hatte ihnen geholfen, einen vertrauenswürdigen Käufer für die Goldartefakte der Khamsin zu finden. Mit dem Geld konnten sie die Stammeskinder in England zur Schule schicken. Rashid trug seine weite Hose, das blaue Binish und hatte einen Turban um seine langen dunklen Locken gewunden. Sein einziges Zugeständnis an den englischen Stil war ein dicker Wollumhang gegen die eisige Kälte.
An ihrem Bestimmungsort angekommen, schlang Badra ihren Wollumhang, unter den der Wind pfiff, dichter um sich. Ihre Kleidung fühlte sich seltsam an, und in den Schnürstiefeln fiel ihr das Gehen schwer. Ein hölzernes Schild schaukelte im Winterwind über dem Ladenfenster. Darauf stand ANTIQUITÄTEN.
Sie folgte Rashid und dem Earl nach drinnen. Ein kleines Silberglöckchen läutete munter, als sie die Tür öffneten. Badra blieb ein wenig zurück und tat, als würde sie die blinkenden Kunstgegenstände in der Auslage bewundern. Als der Inhaber die beiden Männer ins Hinterzimmer bat, wo sie in Ruhe das Geschäftliche abwickeln konnten, stockte Badra der Atem.
Sie erkannte den Ladengehilfen wieder: Er verkaufte hinter dem Rücken seines Arbeitgebers Artefakte auf dem Schwarzmarkt.
Badra zog vorsichtig die ägyptische Halskette aus dem Beutel – der »Reticule« hieß, wie sie erfahren hatte – und legte sie auf den Tresen. Schreckliche Schuldgefühle überkamen sie. Wenn Jabari wüsste, was sie hier tat, nämlich ihrer aller Vermächtnis entehren und zu einer niederen Grabräuberin werden …
Aber diesen Gedanken verdrängte sie und sprach hastig auf Englisch. Der Angestellte sah sich die ägyptischen Gravuren an, die zwei Greife und eine Geiergöttin darstellten. Lapislazuli und Karneole blitzten im Licht.
»Sehr schön«, sagte er bewundernd und mit einem breiten Akzent. »Davon Duplikate zu machen wird schwer, dürfte aber einen hübschen Preis bringen.«
Duplikate? Deshalb wollte Masud, dass die Kette hierhergeschmuggelt wurde. Der Mann fertigte Duplikate. Wie dem auch sei, ihr Teil des Auftrags war erledigt und damit Jasmines Sicherheit garantiert. Der Angestellte überreichte ihr ein Bündel Banknoten für Masud. Mit zitternden Händen nahm Badra das Geld – schmutziges Geld gegen Diebesgut, und sie war die Überbringerin.
Kaum hatte sie die Geldscheine in ihren Muff gesteckt, da läutete die Türglocke ein weiteres Mal. Badra drehte sich zur Tür, um zu sehen, wer gekommen war. Ihr entfuhr ein stummer Schrei, als sie in ein Paar strahlend blaue Augen blickte, von denen sie geglaubt hatte, sie nie wiederzusehen.
Khepri.
Badra.
Die Zeit machte einen Schritt zurück, genau wie er.
Gelähmt vor Schreck starrte Kenneth die Frau an, die er einst geliebt hatte. Er konnte weder denken noch atmen, so sehr verzauberte ihre exotische Schönheit ihn. Erinnerungen an heiße arabische Nächte wurden wach, wie auch an die Geheimnisse in den schwarzen Zelten unter einem endlosen Sternenhimmel. Diese leuchtenden braunen Augen, zarten Wangenknochen und der sinnliche weiche Mund brachten sein Herz nach wie vor zum Rasen. Sie wirkte verängstigt und unsicher. Als sie einen Schritt auf ihn zumachte, stolperte sie wie ein neugeborenes Fohlen, das zu fallen drohte.
Die Gewohnheit, angeeignet in fünf Jahren, die er sie davor geschützt hatte, sich auch nur den Fuß an einem Stein zu schrammen, ließ ihn sogleich auf sie zuspringen, um sie aufzufangen. Er hielt sie am Ellbogen, damit sie das Gleichgewicht wiederfand. Als ihre Blicke sich begegneten – dunkelbraun und tiefblau –, öffnete Badra den Mund und stieß ein leises »Oh!« aus.
Kenneth bemerkte, dass ihr Arm von weicher grauer Wolle bedeckt war. Es kam ihm widerlich vor. Badra in englische Kleidung zu stecken, das war, als würde man die Statue von Ramses II. mit einem Anzug und einer Krawatte verhüllen.
Einfach lächerlich!
Doch nichts konnte ihre Schönheit mindern, nicht einmal Sackleinen.
Kenneth mühte sich, seine Gefühle zu beherrschen, richtete sich kerzengerade auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Hallo, Badra«, sagte er in förmlichem Englisch.
»Khepri«, antwortete sie. Ihre leise Stimme umfing ihn wie ein Seidenschal und lockte seine Sinne in den Wahn.
»Kenneth«, korrigierte er.
Er hob den Muff auf, den sie fallen gelassen hatte, und eine Pfundnote flatterte heraus. Wieder bückte er sich, bevor er ihr beides mit einem fragenden Blick wiedergab.
»Ich … ich weiß nicht, wo ich das englische Geld hinstecken soll«, stammelte sie.
Mit einem Kopfnicken zu dem Reticule an ihrem Arm bedeutete er ihr den richtigen Platz dafür.
»Wie schön, dich wiederzusehen, Khep … ich meine Kenneth.« Badra nahm den Geldschein und den Muff. Ihre Wangen waren tiefrot. Nicht dass er nicht ebenfalls verlegen wäre, doch ihr war es deutlicher anzusehen.
»Wie ich sehe, geht es dir recht gut«, fügte sie hinzu.
Er war sprachlos. Recht gut? Wenn er nichts wollte, als sie in die Arme zu nehmen und bis zur Besinnungslosigkeit zu küssen? Nachdem sie ihn mit ihrer Abweisung bis ins Mark getroffen hatte? Das war beinahe zum Lachen, aber er verkniff es sich.
»Was machst du hier, Badra?«
»Rashid und ich besuchen Lord Smithfield.«
Er fluchte im Stillen. Der Earl dachte wahrscheinlich, er würde sich freuen, Leute jenes Stammes wiederzusehen, der ihn aufgezogen hatte. Weit gefehlt!
»Warum?«, fragte er knapp.
»Ramses sollte herkommen, aber Katherine ist schwanger, und er fürchtete, dass die weite Reise zu anstrengend für sie wäre. Deshalb kamen wir an ihrer statt. Erinnerst du dich an die Artefakte aus dem Grab von Ramses’ Vorfahren?«
Auf sein Nicken hin fuhr sie fort: »Lord Smithfield hilft uns, einige der Stücke zu verkaufen. Mit dem Geld möchte Jabari ein paar Kinder auf englische Schulen schicken. Sie brauchen eine bessere Bildung.« Sie lächelte. »Wie geht es deinem Großvater?«
Sein Hals fühlte sich unangenehm eng an. »Mein Großvater … ist vor zwei Monaten gestorben. Eine plötzliche Krankheit. Jetzt bin ich der Duke of Caldwell.« Er schloss für einen kleinen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder. »Aber ich kann mich glücklich schätzen, dass wir ein wenig Zeit zusammen hatten, ehe er von uns schied.«
Sie sah ihn mitfühlend an. »Oh, Kenneth, das tut mir sehr leid. Warum hast du nicht geschrieben und es uns mitgeteilt?«
Ihnen? Er hatte den Stamm verlassen. Sie wussten nichts über sein Privatleben. Natürlich hätte er seinen tiefen Kummer gern mit ihnen geteilt. Gerade erst hatte er seinen Großvater kennengelernt, da verlor er ihn auch schon. Seit seinem Tod fühlte Kenneth sich schrecklich einsam.
Aber er konnte es ihnen nicht erzählen.
Abrupt wechselte er das Thema: »Wie ich hörte, hast du meine Ausgrabungen in Dashur besucht. Hast du dort irgendetwas gesehen, das dir gefiel?«
Wieder wurde sie rot. »Es … es war sehr interessant. Woher weißt du, dass wir da waren?«
»Ich weiß alles über die Ausgrabung.« Er betrachtete ihr Gesicht, vor allem ihre wunderschönen großen Augen. Bei ihrem Anblick regte sich sein altvertrautes Verlangen. Nein, er durfte dem nicht nachgeben. »Wie geht es Elizabeth? Hat ihr die Pyramide gefallen?«
»Ja, sehr sogar, und Jabari auch. Beiden hat es gut getan, einmal etwas anderes zu sehen. Tarik ist beinahe zwei Jahre alt und sehr«, sie lächelte, wobei ein Leuchten über ihr Gesicht ging, »sehr jungenhaft.«
Auf einmal verspürte Kenneth ein unerträgliches Heimweh nach der Wüste, die früher sein Zuhause gewesen war. Er musterte Badra. Sie trug ein weiches graues Wollkleid mit Spitzenbesatz unten an den Ärmeln. Ein warmer Filzhut bedeckte ihr zu einem festen Knoten aufgestecktes seidiges Haar. Unter all den englischen Frauen, denen er begegnet war und von denen er einige in seinem verzweifelten Versuch in sein Bett nahm, Badra zu vergessen, konnte es keine mit ihrer Schönheit aufnehmen.
Er musste seine Gefühle um jeden Preis verbergen. Zeige sie niemals dem Feind, hatte Jabari ihm geraten, sonst wirst du gnadenlos geschlachtet. Gott, der Scheich hatte recht – nur hatte er ihm nie verraten, dass der Feind auch eine wunderschöne Frau sein konnte.
»Richte ihnen meine Grüße aus«, sagte er förmlich.
Mit diesen Worten wandte er sich von Badra ab und ging zu dem Ladengehilfen, der ihn mit einem freundlichen Lächeln begrüßte. Kenneth stützte die Hände auf den Tresen und sah den Mann eindringlich an. »Sind irgendwelche neuen Stücke hereingekommen? Ich interessiere mich besonders für eine goldene ägyptische Halskette. Auf dem Anhänger sind zwei Greife und die Geiergöttin eingraviert.«