Kapitel 9

Sie musste das Buch verstecken. Da fiel ihr Blick auf ihren dicken Wollrock. Sie schaffte es gerade rechtzeitig, ihre Röcke raschelnd wieder zu richten, als die Tür aufging.

Kenneth kam herein. »Hast du etwas gefunden, das dir gefällt?«

»Oh ja, ich habe den Dickens-Roman, und ich freue mich schon darauf, ihn zu lesen!«, plapperte sie angestrengt munter.

»Sehr schön. Warum liest du mir nicht daraus vor?«

»Dir vorlesen?«

»Mir fehlt der Klang deiner Stimme.« Er sah sie freundlich an. »Wenn du sprichst, ist es, als würde ich Ägypten hören. Ich würde mir sehr gern von dir auf Englisch vorlesen lassen.«

Sein schlichtes Geständnis rührte sie. Er zeigte auf die großen Sessel mit den gestreiften Polstern. Badra war dunkelrot vor Verlegenheit. Wie sollte sie sich mit dem dicken Ledereinband zwischen den Schenkeln hinsetzen? Sie konnte ja kaum gehen.

Ebenso wenig aber konnte sie hier stehenbleiben und hilflos vor sich hin lächeln. Sie schluckte und ging mit winzigen Schritten auf einen der Sessel zu.

Kenneth betrachtete sie stirnrunzelnd. »Hast du immer noch Probleme mit diesen Schuhen? Lord Smithfield könnte dir ein anderes Paar besorgen, das bequemer ist.«

»Nein, sie sind bestens«, erwiderte sie und machte noch einen Schritt. Dabei fühlte sie, wie das Leder zwischen ihren Beinen tiefer rutschte.

Wie angewurzelt blieb sie stehen.

»Du gehst, als hättest du furchtbare Schmerzen. Lass mich dir helfen!«, sagte Kenneth besorgt.

Sie hob eine Hand. »Nein, bitte, ich bin ganz …«

Rums! Das Buch landete mit einem dumpfen Knall auf dem Teppich.

Kenneth lüpfte eine Augenbraue.

»Hast du etwas fallen gelassen?«, fragte er höflich. Ihre Wangen brannten, als er auf den Saum ihres Rocks blickte.

Sie trat einen Schritt zurück und enthüllte das verbotene Buch unter ihren Kleidern. Kenneth beugte sich hinab, hob es auf und drehte es um. Es schlug genau auf der Seite auf, die sie so fasziniert hatte – das Bild von einem Mann, der sein Gesicht tief zwischen die runden Schenkel einer Frau tauchte.

»Interessant!«, murmelte er mit einem Funkeln in den blauen Augen. »Badra, wenn du mehr darüber wissen möchtest, empfehle ich dir, das Buch zu lesen und es nicht zu benutzen, um damit die Illustrationen nachzustellen.« Höchst amüsiert legte er den schweren Band auf den Tisch.

Ihre Wangen glühten. »Ich … ich wollte nur wissen, was dir gefällt.« Erst als sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde sie sich ihrer Zweideutigkeit bewusst und errötete noch mehr.

Der Duke of Caldwell sah sie einfach nur stumm an. Sein Blick allerdings verhehlte nicht, wie sehr er Badra begehrte. Er streckte eine Hand aus und strich ihr sachte über die Unterlippe. »Mein Geschmack hat sich nicht verändert.«

Badra schloss die Augen und erbebte unter der Wärme der Berührung, während eine tiefe Sehnsucht sie erfüllte.

»Du bist so wunderschön!« Beim Klang seiner Stimme erschauderte sie.

Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, ja zu sagen, als er ihr den Antrag gemacht hatte? Hätte Kenneth ihr genauso weh getan wie ihr früherer Herr? Sie besaß keine Courage. Nein, sie könnte niemals die Dinge tun, welche die Frau in diesem Buch tat – nicht freiwillig. Niemals! Und deshalb musste sie sich selbst immer wieder aufs Neue ermahnen: Kenneth verdiente eine Frau, deren Leidenschaft seiner eigenen angemessen war.

Wenn sie sich doch nur trauen würde, einen Funken des Verlangens zu empfinden, das sie in seinen Augen erkannte! Könnte sie es? Badra sehnte sich danach, es zumindest zu versuchen.

Er kam näher. Immer noch glitt sein Daumen in einer federleichten Liebkosung über ihre Unterlippe. Ihre Blicke begegneten sich. Er war so anders und zugleich so vertraut. Zögernd berührte sie sein kantiges glattrasiertes Kinn, während sie die faszinierenden grünen Punkte in seinen blauen von langen dunklen Wimpern umrahmten Augen betrachtete.

Sein schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, und sie strich es mit zitternden Fingern zur Seite. Einst reichte es ihm weit über die Schultern, jetzt war es kurz geschnitten. Und trotzdem war der Mann, den sie in diesem Augenblick vor sich sah, ihr Khepri, der sein Leben gegeben hätte, um sie zu schützen.

Kenneth nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen. Er schloss die Augen, bevor er sie sanft küsste. Sein Mund fühlte sich feucht und warm an. Dann legte er ihre Hand an seine Wange. Sosehr es sie reizte, ihn zu streicheln, seine glatte feste Haut zu erkunden, überkam sie gleichzeitig eine entsetzliche Unsicherheit. Badra wollte ihre Hand wegziehen, hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und einer tief verwurzelten Angst vor dem rohen Verlangen, das sich in Kenneths Zügen spiegelte. Wo würde das hier hinführen?

Vor langer Zeit hatte er einen Eid geschworen, ihre Tugend bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. War er nun im Begriff, ihr ebendiese Tugend zu rauben? Immerhin war er kein Khamsin mehr, sondern ein englischer Herzog. Regeln, die einst bindend gewesen waren, galten nicht länger für ihn.

Sie lachte leise, um ihre Nervosität zu überspielen, und legte die Hände auf seine Schultern. Durch den Stoff seines Jacketts spürte sie seine starken Muskeln. Unter seinen maßgeschneiderten Anzügen verbarg sich nach wie vor der gestählte Körper eines Kriegers.

»Du siehst so anders aus. Aber es steht dir. Wie die Kobra, dein Totem, hast du deine Khamsin-Haut abgelegt und eine englische gebildet, mit der du dich nahtlos in deine Umgebung einfügst.«

Ein Anflug von Trauer huschte über sein Gesicht. »Vielleicht bin ich eine Kobra, aber eine, die sich in ihrer neuen Haut unwohl fühlt«, gestand er. »Ich komme mir vor, als wäre ich in eine mir gänzlich fremde Haut gestopft worden.«

Seine Ehrlichkeit erschreckte sie. »Aber du hast dich gut angepasst.«

»Mir bleibt gar keine andere Wahl. Ich habe jetzt vollkommen andere Verpflichtungen und Pflichten, Badra. Pflichten, die ich ebenso ernst nehmen muss wie jene, die ich als einfacher Krieger hatte.«

Zweifellos verdiente er nach wie vor ihren Respekt. »Du bist einer der ehrbarsten Krieger, die unser Volk kennt, Khepri. Ich bin sicher, dass du ein gleichermaßen ehrbarer Herzog bist.«

Sein Blick wirkte etwas distanziert, als er sanft die Hand an ihre Wange legte und sie mit dem Daumen streichelte.

»Für dich bin ich immer noch Khepri, oder, Badra? Ich bin ein Herzog mit einem leichten Faible für Ägypten und seine Vergangenheit. Ach, du duftest nach Ägypten – nach Wüstenpflanzen, Sonnenschein, Hitze und heißem Sand!«, sagte er leise. »Selbst wenn du dich in noch so viele Lagen englischer Kleidung hüllst, wirst du stets die Wüste sein. Du trägst sie in dir.«

»Du auch in dir. Du kannst sie nicht zurücklassen, denn hier, in deinem leb, bist du immer noch Khepri.« Sie nahm seine Hände und drückte sie auf sein Herz.

Er beugte sich näher zu ihr. Begehren blitzte in seinen Augen auf. »Gib mir die Wüste zurück, Badra! Noch einen Kuss, eine kleine Erinnerung an die Heimat, die ich zurückließ. Küss mich, Badra, und lass mich noch einmal Ägypten kosten!«, flehte er sie mit heiserer Stimme an.

Tief in seinen meerblauen Augen erkannte sie den wahren Kenneth: schiffbrüchig und allein in einem Ozean der Ungewissheit, überflutet von neuen Pflichten in einem neuen Leben und zugleich von einer unendlichen Sehnsucht nach der vertrauten sengenden Hitze Ägyptens erfüllt.

Wie könnte sie ihm einen Kuss verweigern, wenn er darin nichts als die Erinnerung an das Land suchte, das sie beide liebten und das er aufgegeben hatte?

Geradezu berauscht von ihrer eigenen Kühnheit, legte Badra den Kopf in den Nacken und nahm all ihren Mut zusammen. Er war so groß, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste – wie eine Blume, die ihre Knospe der Sonne entgegenreckte, auf dass sie ihre Blüten berühren und ihnen Leben einhauchen möge.

Seine brennenden Lippen verhießen eine Sinnlichkeit, die sie an die schwarzen Zelte unter dem Nachthimmel Ägyptens erinnerte, an das leise Reiben von nackter Haut an nackter Haut, die gedämpften Schreie, die in die Wüste hinaushallten. Badra dachte an Frauen, die von ihren Kriegern beglückt wurden.

Ja, sie wollte mehr!

Ein winziger Seufzer entwich ihrer Kehle, worauf Kenneth mit einer starken Hand in ihren Nacken griff und sie hielt, während er seinen Mund noch fester auf ihren presste. Seine Berührung war sanft, rücksichtsvoll, zurückhaltend. Dann fühlte sie seine Zungenspitze, die den Spalt ihrer geschlossenen Lippen nachmalte und dabei einladend flatterte. Sie nahm die Einladung an und öffnete ihren Mund.

Wie die Zunge einer Schlange schnellte seine hinein, erkundete sie mit geschmeidigen Bewegungen und nahm sie vollständig ein. Badra ließ ihn gewähren, ja, sie wollte von ihm genommen werden.

Kenneth legte einen Arm um ihre Taille und zog sie ganz nah zu sich. Er glitt mit der Hand über ihre Hüften zu ihrem wollverhüllten Po, dessen weiche Rundung er zärtlich knetete. Sie stöhnte und hielt sich an seinen Schultern fest, während ihr Körper unter den seltsamsten Empfindungen erbebte. Da war dasselbe Gefühl, das sie gehabt hatte, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Es musste Leidenschaft sein. Vielleicht könnte sie ihre Angst überwinden, wenn er …

Dann löste er den Kuss und sah sie atemlos an.

»Nein, hör nicht auf!«, protestierte sie heiser. »Mehr!«

Sie rieb sich an ihm, wollte mehr von dieser Nähe, die sie brauchte, um das Feuer in ihren Lenden zu löschen. Mit geradezu verzweifeltem Verlangen schlang sie ihre Arme um seinen Hals, zog ihn zu sich hinunter und küsste ihn.

Er stöhnte tief und schob sie behutsam zu dem großen Schreibtisch. Während sie sich weiter küssten, hob er sie hinauf. Sie fühlte die feste Holzplatte unter und seinen starken männlichen Körper über sich, der sie dagegendrückte.

Auf einmal war alles unwirklich, als spielte es sich in einem Traum ab. Badra gab sich ihrer Lieblingsphantasie hin – Khepri machte ihr einen Antrag, und sie brachte den Mut auf, ja zu sagen. Sie heirateten in England. In ihrer Hochzeitsnacht …

Die Phantasie ging unter der Hitze von Kenneths seidigem Mund in Wirklichkeit über. Seine Küsse waren süßer als warmer Honig, seine Arme so sicher und stark wie die Tempelsäulen Ägyptens. Dieselben Hände, die eine brutale Kraft beweisen und mit Leichtigkeit einen Gegner töten konnten, waren unglaublich sanft zu ihr, während er leise liebevolle Worte in ihr Ohr flüsterte.

Seine Hände …

Ihr wurde bewusst, dass die großen männlichen Hände an ihren Röcken zerrten und sie nach oben rissen. Im nächsten Augenblick fühlte sie die Wärme auf ihren bloßen Hüften, ein köstliches Reiben von Haut auf Haut, als er ihr die komische englische Unterwäsche herunterzog und über die weichen Ziegenlederstiefel streifte, die nicht an ihren Füßen drückten.

Als Nächstes spürte sie seinen Daumen an der Oberkante ihres Seidenstrumpfes, der weiter und weiter nach oben wanderte und ihren erhitzten Schenkel streichelte. Sie stöhnte hilflos auf. Kenneth antwortete mit einem ungeduldigen Knurren und schob ihren Rock, den Unterrock und das lange Hemd nach oben um ihre Hüften.

Eine entsetzliche Vorahnung dämpfte ihre verträumte Leidenschaft und riss sie jäh aus der Süße ihres unschuldigen Phantasiebildes.

Erschrocken klemmte sie die Beine zusammen. Doch dann rieb sich rauhe Wolle an ihren entblößten Beinen, als Kenneth sie mit einem Knie spreizte und sich zwischen Badras Schenkel stellte. Ein Luftzug kühlte ihre weiblichste Stelle, und Badra kam sich offen und verletzlich vor. Kenneth löste den Kuss und hob den Kopf, worauf Badra die Augen öffnete und ihn ängstlich ansah.

Sein Gesicht war angespannt von männlicher Lust. Keine Spur von Zärtlichkeit.

Er öffnete seine Hose und zog sie zusammen mit seiner weißen Seidenunterhose herunter. Sein Glied sprang vor, groß und vollständig erigiert. Dann lehnte er sich vor, so dass sie wehrlos seiner Härte und Hitze ausgeliefert war.

Das hier war ihr Alptraum, der ein weiteres Mal wahr wurde. Wieder einmal war sie unter dem Gewicht eines Mannes gefangen, Sklavin seiner Bedürfnisse.

Eine wilde Besitzgier blitzte in Kenneths Augen auf. »Du bist mein, Badra – mein allein. Das warst du immer!«

Fareeqs Worte hallten ihr durch den Kopf. »Ich werde dich niemals gehen lassen, Badra! Du bist mein – meine Sklavin!«

Kenneth beugte sich weit über sie, drückte ihre Hände auf den Schreibtisch und stieß mit seiner festen Männlichkeit gegen die weiche Höhle zwischen ihren Schenkeln. Sie bekam furchtbare Angst.

Panisch wand sie sich in seiner stählernen Umarmung. Er war ein mächtiger englischer Adliger. Sein Wort war hier Gesetz, folglich würden die Bediensteten ihre Schreie ignorieren. Sie war wehrlos in seinen Armen, ohnmächtig im Angesicht seines Verlangens. Die enorme Stärke, mit der er sie festhielt, war furchteinflößend. Er könnte sie zerdrücken wie ein Blütenblatt und ihren Körper benutzen, wie immer er wollte. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder von Fareeqs verquollenem Gesicht und dem Ausdruck grausamer Siegesgewissheit auf, als sie hilflos unter ihm lag.

Nun wurde es durch Kenneths Antlitz ersetzt.

Die Vergangenheit holte sie mit unnachgiebiger Brutalität ein: Fareeqs Körper, der sie in die schmutzigen Ziegenfelle gepresst hatte, der brennende Schmerz, als er sich in ihren unerfahrenen Körper gedrängt hatte, während sie geschrien und vergeblich versucht hatte, sich zu wehren …

Nie wieder! Badra sträubte sich gegen Kenneths Gewicht, das sie nach unten zwang, und verweigerte seine heißen Küsse, indem sie das Gesicht abwandte. Mit aller Kraft widersetzte sie sich ihm, bis er ihre Hände losließ. Die runde Spitze seines Glieds begann bereits, sich in sie hineinzuschieben. Badra stieß die Fäuste gegen seine muskulöse Brust.

»Hör auf! Geh runter von mir!«, kreischte sie und schlug auf ihn ein.

Schwer atmend und mit einem Ausdruck blinder Leidenschaft starrte er sie an. Nacktes Verlangen stand ihm ins Gesicht geschrieben, und für einen Moment wurde Badras Angst noch größer. Er würde nicht von ihr lassen. Dann jedoch murmelte er einen arabischen Fluch, richtete sich auf und wich zurück.

Badra sank sofort vor dem Schreibtisch auf die Knie, so dass sich um sie herum ihre Röcke wie herabgefallene Blütenblätter bauschten. Vor lauter Tränen konnte sie nichts mehr sehen – Tränen der Angst und Scham.

Er wollte ihre Hand nehmen. »Fass mich nicht an!«, schrie sie und versetzte ihm eine Ohrfeige.

Durch den Tränenschleier erkannte sie verschwommen, wie er weiter zurücktrat und sich die Hose zuknöpfte. Er war immer noch außer Atem. »Ich wollte dir aufhelfen«, sagte er schließlich.

Zitternd und nach Luft ringend, richtete sie sich auf. Kenneth berührte die leichte Rötung auf seiner Wange, die Badra ihm zugefügt hatte.

»Badra, was ist los?«, fragte er gleichermaßen verwirrt wie besorgt. Und seine Sorge drohte einen Sturm der Gefühle in ihr auszulösen. Sie durfte auf keinen Fall schluchzend vor ihm zusammenbrechen …

Absichtlich schlug sie einen verächtlichen Ton an und blickte angewidert drein, als sie antwortete: »Das war ein schrecklicher Fehler. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich die Gefühle nicht erwidern kann, die du für mich hegst, Kenneth.«

Seine Besorgnis wich der unergründlichen Miene des Kriegers. »Ich werde die Kutsche rufen und dich nach Hause bringen lassen.«

Mit diesen Worten kehrte er ihr den Rücken zu. An der Tür blieb er kurz stehen, eine Hand am Rahmen. Sein Siegelring blinkte im Licht. »Leb wohl, Badra!«

Sie wusste, dass er damit einen Abschied für immer meinte, und blickte ihm nach, als er im Korridor verschwand.

Mit den Tränen kämpfend, voller Schmerz und Sehnsucht, blieb sie zurück. Sie hatte zu große Angst, ihr Geheimnis zu gestehen. Dennoch bereute sie beinahe, dass sie Jabari das Versprechen abgerungen hatte, niemandem von den Auspeitschungen und Vergewaltigungen Fareeqs zu erzählen. Die Jahre hatten ihr Geheimnis unter ebenso vielen Schichten vergraben wie der Sand die ägyptischen Grabstätten. Ihre Vergangenheit war tot und begraben. Es war zu spät, sie ans Tageslicht zu zerren und sich der Scham und dem Mitleid zu stellen.

»Es tut mir leid, Khepri! Ich wünschte, ich könnte anders sein«, flüsterte sie ihm nach.

Er hörte es nicht mehr.


Kenneth schleppte sich hinauf in sein Schlafzimmer. Sein Kopf schwirrte von Badras Duft, das Blut pumpte heiß durch seine Adern, und seine schmerzenden Lenden schrien nach Erleichterung.

Es hatte ihn alle Selbstbeherrschung gekostet, die er als Khamsin-Krieger gelernt hatte, um von ihr abzulassen. Eine Minute lang hatte er geglaubt, er würde es nicht können, so übergroß war das Verlangen gewesen, in sie einzudringen und sie sein zu machen. Leidenschaft und Selbstdisziplin hatten in seinem Innern gerungen, doch letztlich hatte die Beherrschung gesiegt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, wo er immer noch die Honigsüße ihres Mundes schmeckte. Er begriff es einfach nicht. Die Art, wie sie seine Küsse erwidert hatte, wie ihre Lippen unter seinen rosig und weich geworden waren, ihre Augen dunkel vor Verlangen … warum schrak sie auf einmal zurück?

Vor seiner Schlafzimmertür blieb er stehen, weil ihn eine Erinnerung einholte: Jabari, der ihm gesagt hatte, er solle ihre Tugend bewachen. Sein Scheich hatte ihm nie etwas über ihre Vergangenheit erzählt. Und das eine Mal, das Kenneth ihn gefragt hatte, hatte Jabari ihm ruhig erklärt, er müsse lediglich wissen, dass es seine Pflicht wäre, sie zu beschützen.

Jetzt aber fragte er sich, was Fareeq ihr angetan hatte. Badra hatte niemals auch nur das geringste Interesse an einem anderen Mann gezeigt, auch nicht an Rashid. Die beiden benahmen sich eher wie Freunde, nicht wie ein verliebtes Paar.

Hatte Badra Angst vor ihm? Er dachte an ihr angewidertes Gesicht und ihre Worte: »Das war ein schrecklicher Fehler. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich die Gefühle nicht erwidern kann, die du für mich hegst, Kenneth.«

Gedemütigt, wehrlos und verletzlich fühlte er sich, wie eine Kobra ohne Giftzähne und ohne schützende Haut.

Er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche und ging auf den Dachboden. Staubflocken tanzten in den Lichtstrahlen der Spätnachmittagssonne, die durch das runde Fenster hineinfiel. In einer Ecke stand eine Truhe mit Messingbeschlägen, der Kenneth sich mit langsamen Schritten näherte. Er schloss die Augen und atmete Erinnerungen ein.

Dann öffnete er die Truhe und starrte hinein. Er berührte ein Bündel vergilbten Pergaments, das von einem blauen Seidenband zusammengehalten wurde, löste das Band und nahm den obersten Brief in die Hand. Blinzelnd betrachtete er die fremden mit Tinte geschriebenen Lettern.

Die kursive elegante Schrift sagte ihm nichts.

Lies mir vor, Badra! Seine Worte hallten ihm höhnend durch den Kopf.

Lies mir vor, Badra, denn ich kann selbst nicht lesen – kein Englisch. Ich kann die Sprache des Landes, in dem ich geboren wurde, weder lesen noch schreiben.

Nein, aber ich werde es lernen. Hier, wo niemand mein beschämendes Geheimnis enthüllen kann, wo kein Engländer auf mich, den Heiden, herabblicken und über mich lachen kann. Kenneth legte den Zeigefinger unter das erste Wort und konzentrierte sich auf das wenige, das er sich bisher beigebracht hatte. Mehrmals sah er sich die Zeichen an, ohne dass sich ihm ein Sinn erschloss. Er hatte es schon wieder vergessen! Englisch las man von links nach rechts. Rückwärts, nicht wie Arabisch von rechts nach links, also zum Herzen hin. Und die Buchstaben sahen vollkommen anders aus als die arabischen.

»M-mm-ei-n. M-mein. L-l-l-ie-ber.«

Wütend und enttäuscht von sich schlug er die Faust auf seinen Schenkel. Diese Buchstaben konnte er nicht lesen. Er konnte ja nicht einmal seinen eigenen verfluchten Namen buchstabieren! Seine Unterschrift war ein schlechter Witz. Die großen Schleifen und kleinen Bögen sahen aufgeblasen, offiziell und herzoglich aus, aber sie bedeuteten nichts.

In Arabisch konnte Kenneth seinen Namen buchstabieren. Er verschlang arabische Bücher. Bloß Englisch konnte er nicht lesen und schreiben.

Jabari, der beide Sprachen beherrschte, hatte ihm Arabisch beigebracht, bis er es ebenso flüssig las und schrieb wie ein gebürtiger Ägypter. Leider hatte er ihn die englische Schrift nicht gelehrt. Er hatte es vorgehabt, oh ja. Aber Khepri war so sehr Teil von ihnen geworden, so ägyptisch, so Khamsin, dass niemand es für nötig hielt. Und ihm selbst war es wichtiger gewesen, ein begnadeter Kämpfer wie Jabari und Ramses zu werden. Seine Bildung war ihm darüber zu gleichgültig geworden, als dass er sich die Mühe machen wollte, zu seinen Studien zurückzukehren.

Vor seiner Rückkehr nach England hatte er keine Sekunde bereut, kein Englisch lesen zu können – bis zu dem Tag, an dem sein Großvater ihm von den Briefen in der Truhe erzählt hatte, die auf dem Dachboden stand. Es waren Briefe, die Kenneths Vater am Tag seiner Geburt zu schreiben begonnen hatte, eine Art Tagebuch, in dem er sein Leben beschrieb, das sanfte Lächeln seiner Mutter, die Neigung seines Bruders Graham, an Weihnachten alle Lebkuchen auf einmal aufzuessen, die Zeit seines Vaters in Oxford. Seine ganze Familiengeschichte stand in ständig blasser werdender Tinte auf den vergilbten Seiten.

Und Kenneth konnte nicht ein einziges verfluchtes Wort davon lesen.

Behutsam legte er den Brief zurück. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als sein Blick auf ein gefaltetes blaues Tuch fiel. Das blaue Binish eines Khamsin, Krieger des Windes. Mit zitternder Hand strich er über den Stoff. Weiter unten in der Truhe lag eine metallene gebogene Schwertscheide. Kenneth hob sie heraus. Er sehnte sich danach, den matten verzierten Silbergriff zu sehen.

Langsam zog er den Krummsäbel aus der Scheide und hielt ihn in die Höhe. Er schloss die Augen und versuchte, den tiefen gedehnten Schrei auszustoßen, den er gelernt hatte. Heraus kam nur ein heiseres Krächzen.

Kenneth schluckte und legte die Waffe zurück. Er war kein Khamsin mehr. Er war jetzt der Duke of Caldwell. Der Analphabet.

Mit einem Knall, der das dumpfe Pochen seines Herzens zu verhöhnen schien, schloss er den Deckel der Truhe. Er starrte sie an, bis ihm ein quälender Gedanke kam.

Warum hatte Badra ein Buch gewählt, das er absichtlich außer Reichweite aufbewahrte? Hätte er sie nicht damit gesehen, wäre er niemals seiner Lust erlegen, aber das war es nicht, was ihn beschäftigte.

Eilig lief er in die Bibliothek zurück, stieg die Leiter hinauf und ging die Bände durch. Er hatte die Antwort schnell gefunden: Die Halskette von Prinzessin Meret fiel zwischen zwei Büchern hervor.

Kenneth betrachtete das gestohlene Schmuckstück, das Badra hier versteckt haben musste. Warum? Hatte sie es Rashid weggenommen? Einerseits war er dankbar, sein Eigentum wiederzubekommen, andererseits lösten die Umstände, unter denen er es zurückerhielt, Hunderte von Fragen aus.

Er befühlte das Gold und die Halbedelsteine wie ein Liebender. Doch dieser Schatz war leblos, und tausendmal lieber würde er einen viel kostbareren in den Armen halten: Badra. Sie hatte sich um sein Herz gewunden wie die Schlange um einen Stab, und er war auf immer ihr Sklave.

Kenneth dachte an den Anruf von seinem Cousin heute Nachmittag. Victor hatte für sie beide die Überfahrt gebucht. Zaid war bereits auf einem Dampfschiff nach Ägypten unterwegs. In Ägypten würde er Badra wiedersehen, dessen war er sich sicher.

Leidenschaft der Wüste: Sie suchte seinen Schutz - und fand die Liebe
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