Kapitel 14
Eine Stunde später stand er in der Grabkammer.
Kenneth beobachtete aufmerksam, wie die Grabungen nach der geheimen Kammer begannen, von der er und de Morgan überzeugt waren, dass es sie hier geben musste. In der drückenden Hitze lief den Arbeitern der Schweiß übers Gesicht und den Oberkörper, während sie vorsichtig gruben. Ein stechender Geruch von Fledermausexkrementen, Schmutz und Verwesung lag in der Luft, vermochte allerdings nicht die beinahe greifbare Spannung zu zerstören, die alle Anwesenden empfanden.
Die Arbeiter häuften den Schutt zu einem kleinen Hügel auf. Badra saß in ihren ägyptischen Gewändern und mit dem blauen Schal um den Kopf auf einem kleinen Hocker und skizzierte die Szene, wie Elizabeth es ihr beigebracht hatte. Ihre künstlerische Begabung zeigte sich deutlich an den lebendigen Farben und Formen, die sie auf das Papier zauberte.
Nach einer Weile legte sie ihre Arbeit beiseite, stand auf, streckte sich und wanderte ein wenig auf und ab. Kenneth betrachtete sie schweigend und achtete für eine Weile gar nicht auf die Arbeiter. Die wunderschöne Badra, die ihn mit ihrer Anmut und geschmeidigen Eleganz verhöhnte. In seiner Bibliothek hatte sie ihn wahnsinnig vor Verlangen gemacht, bloß um ihre Neugier zu befriedigen, und ihn dann angeschrien, er solle aufhören.
Plötzlich hallte ein kurzer Schrei von ihr durch die Kammer. All seine Wut und Reue vergessend, verwandelte er sich sogleich wieder in ihren Beschützer. Wie unzählige Male zuvor, eilte Kenneth zu Badra und fasste sie an den Armen. Mit großen Augen sah sie zu ihm auf.
»Was ist?«, fragte er.
»N-nichts«, stammelte sie, »eine Fledermaus. Ich habe mich erschrocken.«
Die Arbeiter lachten laut, und einer von ihnen machte eine Bemerkung darüber, dass es Unglück bringt, eine Frau mit in die Kammern zu nehmen. Kenneth warf ihm einen eisigen Blick zu, und alle verstummten. »Geht wieder an die Arbeit!«, befahl er.
Badra suchte seinen Blick. »Danke, Kenneth, für deine Sorge«, sagte sie leise.
Er nickte ihr zu und ging zu de Morgan. Der Archäologe stand an einem Abschnitt der Grabungen. Kenneth dachte daran, wie sein Herz bei ihrem Schrei kurz ausgesetzt hatte, erinnerte sich an ihr wonnevolles Stöhnen, als er sie geküsst und auf den Schreibtisch gedrückt hatte, und schüttelte den Kopf. Sie brachte ihn entsetzlich durcheinander. Die Arbeit war so viel logischer, so viel weniger ärgerlich.
Badra blieb eine Minute länger stehen und wagte nicht, nach unten zu sehen. Als sie sicher war, dass niemand sie, die einfache Frau, beobachtete, hob sie den Saum ihres staubigen blauen Kaftans ein Stück an, so dass sie auf die weite Hose und ihre Füße in den schmalen Sandalen blickte. Ihr linker Fuß war in einem kleinen Schutthaufen am Rande des Sarkophags eingesunken. Die verborgene Kammer. Ihr wurde heiß vor Aufregung. Vorsichtig zog sie den Fuß wieder heraus und blieb neben der Stelle stehen, damit niemand anders versehentlich dort einsank.
Später am Abend, wenn alle schliefen, würde sie wiederkommen und selbst graben.
Der Himmel leuchtete in Rosa, Lavendel und Gold, als im Lager das Abendessen zubereitet wurde. Kleine Kochfeuer erhellten den Sand, deren knisternde Flammen züngelnd in die Nacht aufragten. Der saure Rauchgestank brannte Kenneth in der Nase.
Unter dem hellen Baldachin hatten sich de Morgan und seine Leute zum Essen versammelt. Sie saßen auf richtigen Stühlen um den Tisch herum, auf dem eine weiße Leinendecke lag. Ihr Mahl wurde von einem kleinen Schiff in der Nähe hergebracht.
Kenneths Blick wanderte zu seinen Khamsin-Brüdern. In einem Kupfertopf über einem Kochfeuer blubberte das Essen, während Badra Teig knetete. Etwas entfernt von den anderen saßen der Khamsin-Scheich und sein Wächter auf einem Teppich, versunken in ein Schachspiel. Rashid hockte bei ihnen und sah ihnen zu. Dieses Bild illustrierte den krassen Gegensatz der Kulturen: die europäischen Aufseher, die von weißem Porzellan aßen, das einfache Beduinenmahl, das auf dem Boden serviert wurde.
Und »einfaches Beduinenmahl« klang ausgesprochen appetitlich. Er ging hinüber und fragte: »Habt ihr noch Platz für einen mehr?«
Badra hielt mitten im Kneten inne, Rashid blickte finster auf. Die Feindseligkeit des Kriegers erfüllte Kenneth mit einem seltsamen Bedauern. In einer anderen Welt könnte er Rashid vielleicht als Freund ansehen. Aber er hasste alle Al-Hajid-Krieger, weil sie seine Eltern und seinen Bruder umgebracht hatten, und Rashid verachtete ihn, weil er Jabari beleidigt hatte. Der Kreislauf des Hasses schien niemals zu enden. Nicht ohne Verbitterung dachte Kenneth, dass es wohl erst aufhören würde, wenn sie sich endlich duellierten – aber nicht hier.
Rashid stand auf, murmelte etwas davon, dass ihm der Appetit vergangen wäre, und ging weg. Kenneth blickte ihm nach, als er sich zu einem der Arbeiter gesellte und ein Gespräch mit ihm begann.
Der Khamsin-Scheich, der mit überkreuzten Beinen vor dem Schachbrett saß, schaute nicht auf, als er antwortete: »Für dich ist immer Platz, Kenneth.«
»Monsieur de Morgan isst heute Abend keine Bananen«, bemerkte Kenneth.
Ramses lachte und schlug vergnügt einen von Jabaris Bauern, worauf Jabari verärgert knurrte. »Ich bezweifle, dass der pingelige Franzose jemals wieder Lust haben wird, eine Banane zu schälen.«
Kenneth grinste. »Tja, zumindest hat er jetzt etwas dazugelernt. Manche Männer sorgen sich einzig um die Größe ihrer Banane, nicht darum, ob sie geschält oder ungeschält ist.«
Jabari murrte verdrossen, als Ramses ihm einen Läufer abnahm. »Ihr sprecht in Rätseln«, brummte er.
Kenneth und Ramses sahen sich schmunzelnd an. »Mag Elizabeth Bananen, Jabari?«, fragte Kenneth betont harmlos.
Der Khamsin-Scheich starrte missmutig auf das Spielbrett. »Nicht dass ich wüsste.«
»Schade«, sagte Kenneth, und dann brachen Ramses und er in Lachen aus. Jabari blickte auf.
»Was?«
»Schon gut«, lachte Kenneth und zwinkerte Ramses zu, bevor er die beiden ihrem Spiel überließ und sich zu Badra in den Sand setzte. Er stützte das Kinn auf die Faust.
Khamsin-Frauen besaßen eine angeborene Grazie. Selbst Badra hatte diese geschmeidige Eleganz. Sie kniete, ganz auf ihre Arbeit konzentriert, und rollte und klopfte den Teig. Die rhythmischen Bewegungen ihrer Hände, das Lachen und Reden der anderen aus der Ferne weckten Empfindungen von Frieden und Anspannung in Kenneth. Frieden angesichts der so vertrauten Abläufe, Anspannung wegen der Nähe zu Badra.
Er blickte hinüber zu der Silhouette der gigantischen Pyramide. Mit geschlossenen Augen entsann er sich der Geschichten, die er in seiner Kindheit an knisternden Lagerfeuern gehört hatte. Damals unterhielt Jabaris Vater die staunenden Kinder mit Erzählungen über die ägyptischen Pharaonen. Diese Geschichtsstunden hatten sich auf immer in sein Gedächtnis eingebrannt.
Er bemühte sich in jener Zeit verzweifelt, seinem Ziehvater zu gefallen und ihm zu zeigen, dass er es mit jedem Krieger aufnehmen könnte. Kenneth hatte diese Lektionen ebenso gierig eingesogen wie ein neugeborenes Lamm die Milch seiner Mutter. Aber letztlich war es vollkommen unbedeutend.
»Zu ihrer Zeit muss die Pyramide ein eindrucksvolles Bauwerk gewesen sein«, sagte er nachdenklich, öffnete die Augen und betrachtete die dunkelblauen Schatten, die sich über die kantige Form senkten. »Ich vermute, dass der Pharao nie dort bestattet wurde, weil seine Familie ihn an einem sichereren Ort begraben wollte. Und das aus gutem Grund – nicht nur wegen der Grabräuber. Senusret III. war ein grausamer Eroberer. Er verbrannte Ernten, tötete die Männer von Nubia und versklavte ihre Frauen und Kinder. Er kannte keine Skrupel. Seine Mumie zu zerstören hätte seine Gegner den endgültigen Sieg beschert und ihm alle Reichtümer für das Leben nach dem Tod genommen.«
»Jedem, der Frauen und Kinder versklavt, sollten Reichtümer für das Leben nach dem Tod verwehrt sein«, bemerkte Badra.
Der verbitterte Klang ihrer Stimme riss Kenneth aus seinen Gedanken. Er sah sie interessiert an. »Stimmt. Sklaverei ist ein Verbrechen. Im alten Ägypten aber war sie etwas Alltägliches.«
»Sie ist auch im modernen Ägypten alltäglich«, erwiderte Badra, brach ein Stück Teig ab und schleuderte es mit ungewöhnlicher Härte auf das Brett.
Wieder fragte er sich, was sie bei Fareeq durchgemacht haben mochte. In all den Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten, hatte Badra niemals ihre Vergangenheit erwähnt. Ja, sie schien sie geradezu vor allen zu verschließen.
Auf einmal verspürte Kenneth den dringenden Wunsch, dieses Schloss aufzubrechen.
»Fareeq war ein grausamer Mann, ganz ähnlich wie Senusret.«
Seine Behauptung, die nur an Badra gerichtet war, ließ sie erneut innehalten. Regungslos beugte sie sich über ihren Teig. »Warum sagst du das?«
»Ihm gefiel es, seine Gefangenen zu peitschen, und manchmal vergewaltigte er die Frauen«, sagte Kenneth und beobachtete sie aufmerksam.
Ihre schmalen Schultern hoben sich unter dem Kaftan, und sie nahm ihre Arbeit wieder auf.
»Ich weiß von Fareeq und seiner Grausamkeit«, fuhr er fort. »Du warst vier Jahre lang seine Sklavin. Hat er je … dich so behandelt?«, fragte er, weil er es unbedingt wissen musste.
Erst nachdem Elizabeth, die Frau des Scheichs, von Fareeq verschleppt und ausgepeitscht worden war, traten die Geschichten ans Tageslicht. Damals hatte auch Kenneth erstmals von Fareeqs Gefallen am sexuellen Missbrauch erfahren. Er hatte Badra gefragt, seinerzeit recht unverblümt, ob Fareeq all seine Frauen so behandelte.
Und heute Abend traf ihn die Erinnerung an Badras Reaktion mit der Wucht von über die Erde donnernden Araberhufen. Sie hatte ihm nicht geantwortet, sondern ihn durch irgendetwas abgelenkt. Danach vergaß er, sie nochmals zu fragen. Nun aber sah er auf ihre Hände, die zitterten, als sie den Teig bearbeiteten.
»Sieh mich an!«, sagte er sanft. Widerwillig blickte sie ihm in die Augen.
»Hat Fareeq dich jemals geschlagen, Badra?«
Die Frage durchfuhr sie wie ein Feuerstrahl.
Vor Jahren hatte er sie schon einmal gestellt. Da hatte glücklicherweise Jabari die beiden gesehen und war zu ihnen gekommen. Sie war erleichtert gewesen, um die Antwort herumzukommen.
Wenn Kenneth die Wahrheit erfuhr, würde er Mitleid mit ihr haben. Aber sie könnte sein Mitleid ebenso wenig ertragen wie ihre eigene Scham. Ihr beschämendes Geheimnis musste ein Geheimnis bleiben. Es lag alles lange zurück, und sie fürchtete sich vor den Erinnerungen. Seither war ihr Leben glücklicher verlaufen, ja, sie war sogar stolz auf das, was sie inzwischen erreicht hatte. In dem Moment jedoch, da Kenneth Mitleid für sie empfand, würde alles zu Staub zerfallen, alles, was sie geschafft hatte, zerschlagen und vernichtet von ihrer qualvollen Vergangenheit.
Badra hatte Kenneth in den Jahren, die sie sich kannten, niemals belogen – nicht einmal, als sie seinen Antrag ausgeschlagen hatte, seine Frau zu werden. Es war die Wahrheit gewesen, als sie ihm sagte: »Ich habe nicht dieselben Gefühle für dich wie du für mich, Khepri.«
Eine schreckliche Wahrheit. Sie konnte jene intensive, heiße Leidenschaft nicht empfinden, wie sie in seinen Augen leuchtete. Sie konnte weder zulassen, dass er sie in den Armen hielt, noch dasselbe Begehren verspüren wie er, wenn er sie küsste. Ihre Liebe für ihn ging zu tief, als dass sie ihn mit einer Ehe ohne Leidenschaft quälen wollte, ihn zu einem Leben an der Seite einer Frau verdammen, deren Weiblichkeit so ausgetrocknet war wie der Wüstensand. Es gäbe keine leisen Schreie des Entzückens, die ihren Lippen entwichen, wenn er sie in sein schwarzes Zelt mitnahm, um sich dort mit ihr zu vereinen. Da wären nichts als Angstschreie und Kämpfe, wie in England, als er ihren Körper mit seinem bedeckt hatte …
Badra blickte zu ihm auf und log ihn zum ersten Mal im Leben an.
»Ob Fareeq mich je geschlagen hat? Nein, hat er nie.«
Kenneth lehnte sich zurück, entspannt und zufrieden, weil sie ihm ins Gesicht geblickt und geantwortet hatte. Er könnte die Vorstellung nicht ertragen, dass die Peitsche des Schurken tiefe Wunden in Badras zarte Haut gefügt hatte. Wenn er wüsste, dass Fareeq sie verletzt hatte, würde er seine Wut gen Himmel schreien.
Aber der Scheich hatte es nicht getan, und so war Kenneth zufrieden. Badra breitete den Teig aus und begann, ihn sorgfältig mit ihrem kleinen Messer zu zerschneiden und zu Dreiecken zu rollen.
Er beobachtete sie fasziniert. »Die sehen aus wie Scones.«
Eine charmante Röte trat auf ihre Wangen. »Sind es auch. Ich … ich habe mich in England an sie gewöhnt. Lord Smithfields Köchin war so freundlich, mir das Rezept zu geben. Ich habe gestern schon welche gemacht.« Sie fischte ein Scone aus einer Dose und reichte es Kenneth.
Er liebte Scones, die einzige englische Speise, die er wirklich mochte. Kenneth knabberte zögerlich, um Badras Gefühle nicht zu verletzen. Ein köstlicher Geschmack von Honig, Mandeln und Zucker flutete seinen Mund. Prompt nahm er einen größeren Bissen und kaute das Gebäck mit echtem Genuss.
Badra sah ihn unsicher an, als wartete sie auf sein Urteil. Er schluckte. »Ein englisches Scone mit ägyptischer Würze. Faszinierend … und köstlich!«
Ein scheues Lächeln umspielte ihre Lippen. Kenneth fand es so bezaubernd, dass er das Scone sofort vergaß. In einem ihrer Mundwinkel hafteten winzige Zuckerkörnchen.
»Du hast da etwas am Mund«, sagte er.
Er hob die Hand, wischte den Zucker mit dem Daumen ab und verharrte so, weil er unweigerlich daran denken musste, wie ihre Lippen schmeckten.
Die Berührung schien Badra ebenfalls zu erregen, denn ihre braunen Augen tönten sich beinahe schwarz. Sie öffnete den Mund und atmete sanft aus. Aufgemuntert durch diese deutlichen Zeichen, strich Kenneth mit dem Daumen über ihre Oberlippe.
Auf einmal streckte sie die Zunge heraus und leckte den Zucker ab.
Mehr brauchte es nicht, um seine Lust zu entfachen und ihm zugleich zu verraten, dass Badra ihn belogen hatte. Sie hatte ihm nichts vorgespielt, weder in jener Nacht in der Wüste noch in England. Gott, er wollte sie! Und sie wollte ihn. Er glitt mit der Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich, gebannt von der hypnotischen Anziehungskraft ihrer Sinnlichkeit.
Sie aber schob ihn weg, ganz leicht nur und doch fest genug. Kenneth kniff die Augen zusammen, dann ließ er sie los, stand auf und ging wieder zu Jabari und Ramses zurück. Deren Spiel war weit weniger kompliziert als das, das Badra mit ihm spielte.
Das Abendessen war hervorragend, obwohl Badra kein einziges Wort sagte. Kenneth konzentrierte sich ganz darauf, die alte Vertrautheit mit Jabari und Ramses wiederherzustellen. Die beiden erzählten ihm Geschichten von alten Königen, und er beglückte sie mit englischer Geschichte. Rashid schwieg während der Mahlzeit ebenfalls, ließ Kenneth jedoch nicht aus den Augen. Vom Feuer stoben Funken auf in den Nachthimmel, der wie dunkler Samt über ihnen hing, und Kenneth bemerkte plötzlich, dass es spät geworden war.
Er erhob sich, dankte ihnen höflich für das Essen und deutete an, dass er sich nun in sein Zelt zurückziehen wolle. Als er ging, warnte sein Kriegerinstinkt ihn, auf der Hut zu sein.
Ein Arbeiter kam auf ihn zu, begrüßte ihn und bat, ihn kurz sprechen zu dürfen. »Ich habe heute Nacht Wache. Soll ich auf irgendetwas Besonderes achten?«, fragte er und fingerte wichtig an seinem Gewehr. Sein weißer Turban saß leicht verrutscht auf seinem Kopf, und er trug einen langen blaugestreiften Thob.
»Pass einfach auf und weck mich, falls du etwas Ungewöhnliches bemerkst!«, wies Kenneth ihn an und nickte, als der Arbeiter sich verneigte und Richtung Grabkammern ging.
Dann tat er, als würde er sich in seinem Zelt schlafen legen, löschte das Licht und wartete. Heute Nacht würde es geschehen. Dessen war er sich sicher.
Badra schlich mit der Lautlosigkeit eines Khamsin-Kriegers, der ein feindliches Lager überfällt, aus ihrem Zelt. Sie trug eine handgewebte Tasche über der Schulter. Langsam stieg sie die Stufen in die Grabkammer hinab, damit ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten, die nur von wenigen Fackeln erhellt wurde.
Die weichen Sohlen ihrer Schuhe machten kaum ein Geräusch auf der Treppe, die zu jener Kammer führte, in der die Männer am Tag gearbeitet hatten. Drinnen erschrak der Arbeiter, der ihr Kontaktmann war, zunächst, dann lächelte er.
»Ich warte oben auf dich«, flüsterte er und verschwand ebenso lautlos, wie Badra gekommen war.
Entsetzliche Schuldgefühle überkamen sie. Wer aus den Gräbern der verehrten Toten stahl, beraubte nicht nur sie, sondern ganz Ägypten. Ihr eigenes Erbe lagerte in diesen kunstvoll gemeißelten Felswänden.
Aber daran durfte sie nicht denken. Ihr Gewissen mochte sie für den Weg verurteilen, den sie gewählt hatte, aber Jasmines Wohlergehen stand an erster Stelle. Zweifel halfen ihrer Tochter nicht. Ebenso wenig nutzten ihr Badras Schuldgefühle, ganz gleich wie hartnäckig sie sich wieder und wieder regten.
Sie hatte eine Jambiya bei sich, einen kleinen gebogenen Dolch, den sie unter ihrem Kaftan an ihrem Schenkel festgebunden hatte. Es war Kenneths Dolch, mit dem er sich den Schnitt in der Hand beigebracht hatte, als sie seinen Heiratsantrag ablehnte. Sie hatte ihn behalten – das einzige Andenken an den Mann, den sie heimlich liebte und der sein Leben für sie gegeben hätte.
Nun hob sie ihren Kaftan hoch, holte das Messer hervor, kniete sich in den Sand und begann, zu graben.
Die Kiste mit dem Schmuck befand sich gewiss unter dem losen Schutthaufen, in den sie nachmittags beinahe eingesunken wäre. Ein bitteres Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie daran dachte, welche Ironie diese Szene barg. Sie benutzte Kenneths Dolch, um Kenneths Schatz zu finden und ihn zu stehlen.
Sobald sie mit dem Dolch die oberste festere Schicht Schutt gelockert hatte, griff sie die Erde mit beiden Händen und schleuderte sie beiseite. Auf diese Weise würde sie deutlich länger brauchen als mit einer richtigen Schaufel, aber sie traute sich nicht, Gerät nach unten mitzunehmen, da sie nicht riskieren durfte, dass jemand misstrauisch wurde.
Kaum fünf Minuten waren vergangen, da traf die Jambiya auf etwas Hohles: die verborgene Kammer. Badra schob die Erde beiseite und sah in die Tiefe hinab. Im schwachen Schein ihrer Lampe sah sie etwas blinken.
Gold!
Sie spürte, wie ihr vor Staunen alles Blut aus dem Gesicht wich, als sie in die verborgene Truhe blickte, deren Holzseiten längst verfallen waren. Der Inhalt hingegen war noch vollständig erhalten. Schmuck. Unzählige außergewöhnliche Stücke aus wertvollen Edelsteinen, Gold, Silber und Lapislazuli. Mit zitternder Hand griff sie nach unten und zog eine Kette mit einem Medaillon herauf: die andere Halskette von Prinzessin Meret. Dies war die Kette, die ihre Trägerin zur Sklaverei verdammte. Als handelte es sich um glühende Kohle, ließ sie das Schmuckstück in ihre Tasche fallen.
Die Nacht senkte sich über das Lager. Kenneth lag auf seinem schmalen Bett und zwang sich, Geduld zu haben. Es dauerte nicht lange, bis eine leise Stimme ihn rief, tief und dringlich.
»Sahib, Ihr müsst aufwachen!«
Kenneth kleidete sich eilig an und trat aus seinem Zelt. Es war der wachhabende Arbeiter, der sich mit seinem Gewehr in der Hand verneigte.
»Da ist jemand in der Grabkammer.«
Kenneth nickte und entließ den Mann. Sterne funkelten gleich abertausenden Diamanten am Nachthimmel, und der wächserne Mond tauchte den Sand in ein silbriges Licht.
Die Antworten lagen unten in dem Grab. Kenneth zündete eine Fackel an und stieg hinab.
In der Grabkammer herrschte eine unheimliche Stille. Schweiß lief über Badras Gesicht, und die Luft war vom Gestank des Fledermauskots erfüllt. Hier unter ihrer geliebten Wüste erwachte Badras Aberglaube. Sie machte ein Zeichen, das sie als Kind gelernt hatte, um den bösen Blick abzuwehren. Ihr war mulmig dabei, die gestohlene Halskette mit sich herumzutragen.
Ängstlich blickte sie sich an der verlassenen Ruhestätte des Pharaos um, dessen Grab von dem Moment an entworfen worden war, als er den Thron bestieg. Sie bekam Herzklopfen. Die alten Ägypter hatten ihr ganzes Leben damit verbracht, sich auf das Leben nach dem Tod vorzubereiten. Indem sie die Kunstgegenstände entwendete, die den Königen Reichtum über den Tod hinaus bescheren sollten, beraubte sie sie allem, was ihnen ein glückliches Leben nach dem Tod sicherte. Eine solche Tat galt als unverzeihliche Sünde.
Badra musste ihre gesamte Kraft aufwenden, um die Gedanken an Betrug und Lüge zu vertreiben. Als sie gerade ihren Dolch aufheben wollte, hörte sie ein Geräusch. Das waren leise Schritte, die sich über die Treppe den Grabkammern näherten.
Ängstlich schaute sie sich um. In der offenen Kammer gab es kein Versteck. Sie schlich um den Sarkophag herum, hockte sich hin und wartete. Wer immer da kam, gab sich Mühe, lautlos zu gehen, musste jedoch recht schwer sein. Ein Mann. Ein Mann, der sich Mühe gab, möglichst unbemerkt ins Grab zu gelangen.
Wenn sie sich lange genug versteckte, würde er vielleicht finden, was er suchte, und wieder verschwinden. Sie vergrub die schwitzenden Hände in ihrem Kaftan. Noch ein Grabräuber?
Angstschweiß bildete sich auf ihrer Stirn, als sie eine andere Möglichkeit in Betracht zog. Der Mann würde gleich hier sein, also musste sie sich eilig eine plausible Erklärung ausdenken, weshalb sie hier war. Aber alle Ausreden, die ihr einfielen, klangen kindisch.
Nein, in ihrem Versteck zu bleiben war das Beste. Badra kauerte sich noch tiefer in den Schatten. Jetzt waren die Schritte unmittelbar vor der Kammer, und dann kamen sie herein. Sie lauschte angestrengt. Der Mann machte schnelle feste Schritte, als wüsste er genau, was er wollte, und wäre entschlossen, es schnellstens zu erledigen.
Vorsichtig lugte sie hinter dem Sarg hervor. Sie erkannte, dass er eine westliche Hose trug, keine blaue weite und keine weichen Lederstiefel. Also war es nicht Rashid. Westliche Kleidung? Vielleicht Monsieur de Morgan persönlich?
Der Mann machte keinen Mucks. Alles war vollkommen still, abgesehen vom lauten Pochen ihres Herzens. Sie kroch noch dichter an den Quarzitsarg.
Ein leichtes Schaben, und dann hörte sie wieder Schritte. Stumm seufzte sie vor Erleichterung auf, als sie erkannte, dass der Mann wieder ging. Trotzdem zwang sie sich, noch eine Weile zu warten, bevor sie sich aus ihrem Versteck wagte. Dann richtete sie sich langsam auf, rieb sich die verkrampften Muskeln – und schrie auf. Ihr Schrei wurde von einer großen Hand erstickt, die sich über ihren Mund legte. Eine andere Hand packte sie in der Taille.
Als Nächstes vernahm sie eine Männerstimme, die ihr leise ins Ohr flüsterte: »Was tust du hier, Badra?«