Prolog
Es heißt, in Tidewater County sei im Winter nichts los, vom schlechten Wetter einmal abgesehen. Manchmal stimmt das aber nicht: so zum Beispiel am 14. März, einem Dienstag.
Als Luke Bowers erwachte, pfiff der Wind durch die kahlen Bäume, ans Schlafzimmerfenster prasselte Eisregen. Er blinzelte in das fahle Licht, das sich in den Vorhängen fing, und ahnte, was die Leute in Tidewater County an diesem Morgen beim Aufwachen denken würden.
Vorsichtig zog Bowers seinen Bademantel über und schlüpfte sachte in die Pantoffeln, um seine Frau Charlotte nicht zu wecken. Nach einem Gang zur Toilette schlurfte er weiter in das kleine, an die Diele angrenzende Zimmer, das sie als ihre »Wohnstube« bezeichneten.
Zwei Minuten später hörte er das gewohnte Tapsen auf den Hartholzdielen; die Tür öffnete sich quietschend, und Sneakers’ ledrige Nase erschien – vorsichtig zunächst, als wäre sich der Labrador-Mischling nicht sicher, ob er willkommen sei. Dann rief Luke ihn herein und kraulte ihm kräftig Kopf und Nacken. Zufrieden streckte Sneakers sich neben dem antiken Schaukelstuhl aus und legte die Schnauze auf den Boden, gerade so, als sei auch er zum Beten und Nachdenken gekommen. Einige Minuten lang waren die beiden ganz still, obwohl dieser Morgen nicht gerade zum Meditieren geschaffen war. Immer wieder ließen Windstöße die Fensterläden klappern, und einmal, als eine besonders heftige Böe das Haus erschütterte, hob Sneakers den Kopf und ließ sein lang gezogenes Knurren hören, ein bedrohliches Geräusch, das den Wind scheinbar vorübergehend verstummen ließ.
»Mal sehen, was wir da machen können«, sagte Luke.
Sneakers setzte sich erwartungsvoll auf und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, als Luke rasch seinen Mantel überzog. Luke öffnete die Tür und trat in den kalten Wind hinaus; Sneakers machte einen Satz in den eisigen Nieselregen, um dann vorsichtig weiterzutapsen. Er hob das Bein und sah Luke dabei aus seinen traurigen Augen vorwurfsvoll an.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Luke. »Nimm’s nicht persönlich.« Sie hatten Sneakers aus dem Tierheim geholt. Seinen Namen hatte er bereits gehabt, auch wenn sie nicht wussten, woher. Luke war ebenfalls in jungen Jahren adoptiert worden und hatte nie etwas über seine leiblichen Eltern und die Herkunft seines Namens in Erfahrung bringen können, und so fühlte er sich ihm irgendwie seelenverwandt.
Erst als er bereits die Einfahrt hinunterging, um die Tidewater Times aus dem Briefkasten zu holen, merkte Luke, dass der Asphalt überfroren war. Wie ein Clown in einer Bananenschalen-Nummer rutschte er zunächst mit dem rechten, dann mit dem linken und dann wieder mit dem rechten Fuß aus. Jedes Mal schlug er um ein Haar lang hin, bevor er endlich wieder Halt unter den Füßen fand. »Holla!«, brummte er, ging mit kleinen Schritten zum Briefkasten und schlurfte anschließend zum Haus zurück, während Sneakers von der Veranda aus zusah.
Es war die Kälte, die an diesem Morgen die Leute in Tidewater County beschäftigte, wie schon die ganzen letzten Wochen. Das Gesprächsthema am Imbissstand, beim Postamt, unten am Hafen, in der Apotheke oder im Lebensmittelgeschäft war immer dasselbe: »Wo bleibt der Frühling?«, »Hört das denn nie auf?«
Aber es war nicht die Kälte, die die Leute von diesem 14. März in Erinnerung behalten würden. Es war etwas anderes. Über Nacht war etwas geschehen.
Luke kochte Kaffee, schenkte sich eine Tasse ein und setzte sich an den Küchentisch. Er blätterte die Tidewater Times von vorne bis hinten durch, faltete sie zusammen und legte sie zur Seite. Nichts Interessantes, wie immer. Er schenkte sich eine zweite Tasse ein, ließ den Blick aus dem Fenster über die windzerzausten Wiesen hinter dem Haus schweifen und sah zu, wie sich die Sonne über der Bucht mühsam durch die Wolken schob.
Er war heute Nacht wieder mit diesem Gefühl von Unruhe erwacht – als wäre irgendetwas in seinem Leben in Unordnung geraten. Er konnte nur nicht bestimmen, was es genau war. Im Gegenteil, alles schien zum Besten zu stehen: Er erfreute sich guter Gesundheit, führte eine glückliche Ehe, und seine Arbeit erfüllte ihn. Doch immer wieder riss ihn dieses Gefühl aus dem Schlaf und wollte nicht weichen; eine seltsam nagende Sehnsucht, die kein klares Ziel und keine erkennbare Ursache hatte. Es war jene Art von unbestimmtem Leidensdruck, mit dem sich Gemeindemitglieder hin und wieder an ihn wandten, ohne auf die Idee zu kommen, dass er vielleicht ähnliche Probleme haben könnte. Doch auch für sich selbst hatte er keinen besseren Rat als für sie: Gottes Gnade annehmen, Geduld haben, den Glauben nicht verlieren, sich von der Heiligen Schrift leiten lassen. An solchen Tagen fuhr Luke oft früh ins Büro und arbeitete eine Weile an seiner Predigt; und wenn dann Aggie, seine Sekretärin und Empfangsdame, um halb zehn ins Büro kam, ging es ihm oft schon wieder besser.
Er wusch seine Kaffeetasse aus und füllte die Maschine für Charlotte wieder auf, die um halb neun aufstehen würde. Seine Frau war Historikerin und arbeitete zu Hause in einer Kammer neben der Küche. Zwei Tage die Woche war sie ehrenamtlich beim Tierhilfswerk tätig, wo sie auch Sneakers entdeckt und herausgeholt hatte. Ihr gemeinsames Häuschen hatte früher einem Kapitän gehört. Es befand sich am Rande eines unter Naturschutz stehenden Feuchtbiotops, und vom Fenster aus konnte man die ferne, windige Chesapeake-Bucht sehen. Das Haus war zu klein für zwei Arbeitszimmer, aber sie achteten darauf, einander genug Platz zu lassen.
Bevor er losfuhr, warf Luke noch einen Blick ins Schlafzimmer und sah, dass Sneakers, den er abgetrocknet und mit Leckerbissen verwöhnt hatte, nun auf dem Bett schlief, die Schnauze gemütlich auf Lukes Kissen gebettet. Charlotte hatte sich im Schlaf von dem fahlen Licht abgewandt, das durch die Vorhänge drang. Luke bewunderte einen Moment lang ihr hübsches Profil; von allen Frauen, mit denen er jemals zusammen gewesen war, war sie die einzige, die selbst im Schlaf noch elegant aussah.
Als er einen Schritt zurücktrat, knarrte eine Diele.
»Frohes Schaffen«, flüsterte sie mit geschlossenen Augen.
Luke lächelte. Er hatte in seinem Leben nicht immer die allerbesten Entscheidungen getroffen, aber seine Heirat mit Charlotte hatte er niemals bereut.
Er fuhr den Bayfront Drive entlang, vorbei an der Versammlungshalle des Veteranenvereins und Tommys Restaurant am Jachthafen, auf dessen Parkplatz ein großer Haufen Krabbenfallen lag. An Sommernachmittagen herrschte hier buntes Treiben, und die Straße wimmelte von Touristen, die an den Imbiss-, Fisch- und Obstständen entlangschlenderten. Aber jetzt, da der Wind eisigen Schnee über die brachliegenden Mais- und Sojabohnenfelder wehte, machte alles einen ziemlich verlassenen Eindruck.
An der Kreuzung von Bayfront Drive und Highway 22 bog er nach rechts Richtung Wasser ab. Eine frontale Windböe drückte seinen Ford beinahe in den Straßengraben. Ein Stück weiter sah er dann zwischen den blattlosen Birken die weißen Schaumkronen auf der Chesapeake-Bucht und die beiden großen Brücken, die einen Moment lang in strahlenden Sonnenschein getaucht wurden. Der Bayfront Drive fiel leicht ab, um dann gleich wieder anzusteigen und den Blick auf die alte, mit Zedernschindeln verkleidete Kirche und ihr großes, majestätisches Kreuz freizugeben. Von seiner Position aus schien das Gebäude gefährlich schief zu stehen, so, als ob es einfach vom Himmel gefallen und auf der Klippe über der Bucht gelandet wäre.
Luke parkte auf dem Kiesplatz neben den Büroräumen. Während er, den Kopf gegen den Wind geneigt, zur Tür lief, kramte er seinen Schlüssel hervor. Hier auf der Klippe, wo keine Bäume den Wind abfingen, war es immer einige Grad kälter, sodass die Luft in seinen Lungen brannte und ihm die Tränen in die Augen trieb.
Er knipste das Licht an und atmete die wärmere Raumluft ein – der gewohnte Geruch vermittelte Sicherheit. Ganz egal, wie viele Schichten Kleidung er trug, die Kälte schien in ihn hineinzukriechen und sich in seinen Lungen festzusetzen. Er drehte die Heizung auf und lauschte einen Moment lang dem Knarren und Ächzen, das der Wind dem hölzernen Gebäude entlockte. »Wenn die Wände hier sprechen könnten …«, sagten die Leute. Diese Wände sprachen tatsächlich, und zwar bei jedem Windstoß, auch wenn niemand ihre Worte verstand.
Es hatte vierundfünfzig Jahre gedauert, bis die Gemeinde aus dem alten Gebäude herausgewachsen war. Schon im nächsten Winter würde man eine größere, modernere Kirche errichten. Zwar gab es noch immer heftige Auseinandersetzungen über Größe, Kosten und den genauen Ort, aber die meisten Gemeindemitglieder hatten dem Neubau mittlerweile zugestimmt.
Die Heizung klickte; Wärme strömte ein. Luke öffnete die Tür zu seinem Büro und stellte den Rucksack auf dem Schreibtisch ab. Er ging den dunklen Flur entlang, der die Büros mit dem Altarraum verband; die morgendliche Bangigkeit hatte ihn noch immer nicht ganz verlassen. Durch die Altarraumtür warf er einen Blick ins Kirchenschiff: Im zweiten Stock schien das Sonnenlicht durch die großen bunten Ostfenster und ließ den herumwirbelnden Staub wie farbige Schneeflocken aufleuchten. Alle Orte der Andacht waren Brücken zur Ewigkeit, dachte er. Vor allem morgens war dieser Ort von einer Ehrfurcht gebietenden, schlichten Schönheit, die ihm neue Kraft gab.
Vom vorderen Ende des Kirchenschiffs blickte er nach oben in den Dachstuhl und zu den Sitzreihen der zweiten Etage, wo die lackierten Holzgeländer im Sonnenlicht glänzten. Dann ließ er den Blick über die leeren Reihen unter ihm schweifen.
Da sah er sie.
Ein Sonnenstrahl tauchte sie in grelles Licht, während sie dort im hinteren Teil der Kirche saß, links in der vorletzten Reihe – eine dunkelhaarige Frau, vornübergebeugt, die Ellenbogen auf der Rückenlehne der Bank vor ihr. Das Gesicht hatte sie auf die gefalteten Hände hinabgesenkt, als würde sie beten; ihr Blick schien auf das Kreuz über dem Altar gerichtet zu sein.
»Hallo?« Luke ging ein paar Schritte auf sie zu. Sie konnte nicht zum Beten hierhergekommen sein, dachte er. Er selbst hatte am vorigen Abend alle Türen abgeschlossen. Oder hatte er eine vergessen? Sein Herzschlag wurde schneller.
Einen Moment lang schien das Sonnenlicht einen Strahlenkranz um das Gesicht der Frau herum zu bilden, eine erhabene Laune des Zufalls. Beim Näherkommen bemerkte Luke jedoch, dass etwas nicht stimmte. Die Haltung der Frau wirkte unecht – in Wirklichkeit betete niemand so. Einen Augenblick fragte er sich sogar, ob es vielleicht eine Schaufensterpuppe war, mit der ihm ein paar Jugendliche einen Streich spielen wollten. Hier in der Gegend kam so etwas während der langen, ereignislosen Wintermonate schon vor.
»Hallo?«, wiederholte er und blieb stehen, da er sie nun deutlicher erkennen konnte.
Es handelte sich um eine Frau, so viel war sicher, aber mit ihren Augen stimmte etwas nicht. Vom Altarraum aus hatte es so ausgesehen, als bete sie ehrfürchtig in Richtung des Kreuzes. Jetzt aber merkte er, dass ihre Augen zwar offen waren, aber mit leerem Blick. Die Hornhaut schien von einem Film überzogen zu sein. Es waren Augen, die nicht sahen und nie wieder sehen würden.
Die Notrufzentrale von Tidewater County befand sich im neuen Verwaltungsgebäude des öffentlichen Dienstes, einem großen quaderförmigen Häuserblock aus Backstein, Zement und Glas am Rande der Stadt, in dem auch die verschiedenen Polizeibehörden, Feuerwehr, medizinische Notaufnahme sowie Kreis- und Landgericht untergebracht waren.
Als Mitglied des örtlichen Bürgerrats für Sicherheitsfragen war Luke einer derjenigen gewesen, die auf die Einrichtung einer rund um die Uhr erreichbaren Notrufnummer gedrungen hatten, was mittlerweile ohnehin landesweit Standard war. Bisher aber hatte er sie noch nie selbst gewählt.
»Notrufzentrale, worum handelt es sich?«
»Hier ist Luke Bowers«, sagte Luke, während sein Blick gedankenverloren über den Parkplatz und die fernen Schaumkronen auf den Wellen der Bucht glitt. »Ich habe gerade eine Frau in der Kirche gefunden. Sie atmet nicht.«
Die Frau am anderen Ende räusperte sich.
»Pastor Bowers?«
»Hallo, Mary.«
»Hallo, Pastor Bowers. Geht es Ihnen gut?«
»Ja, alles in Ordnung.«
Es war Mary Escher, alleinerziehende Mutter dreier Kinder, die immer noch damit haderte, dass sie sich vor zwei Jahren eingebildet hatte, im Chor mitsingen zu müssen.
»Wo sind Sie?«
»Ich bin in der Kirche, Mary, Bayfront Nummer 7.«
Er hörte sie tippen. Dann räusperte sie sich erneut.
»Hat sie äußere Verletzungen, oder wirkt sie verwirrt?«
»Nein, sie wirkt tot.«
Er hörte sie erneut tippen, wartete ab und betrachtete dabei das spärlich eingerichtete Arbeitszimmer mit den Bildern auf dem Schreibtisch – Fotos mit Charlotte, in Rom und Kenia und hier, an Bord eines Segelbootes im letzten Sommer, vor einem zuckerwattefarbenen Abendhimmel.
Bevor er hinausging, rief er noch Charlotte an. Es war jetzt zwanzig vor neun, und sie war wach, machte Frühstück und hörte dabei klassische Musik.
Als Luke wieder ins Kirchenschiff ging, um noch einen Blick auf die Tote zu werfen, fiel das Licht in einem anderen Winkel herein und erhellte den hinteren Bereich des Raumes, wodurch ihm einiges auffiel, was er zuvor nicht bemerkt hatte.
Die Frau war älter, als er gedacht hatte, in den Dreißigern vielleicht, und hatte leicht exotische, asiatisch oder vielleicht auch spanisch anmutende Gesichtszüge. Sie trug eine dunkle Lederjacke, die gegen die Kälte zugeknöpft war.
Dann bemerkte er ihre Beine, die in grotesker Weise seitlich abgespreizt waren und in schwarzen Strümpfen und teuer aussehenden Schuhen steckten.
Luke Bowers schloss die Augen und betete für die Frau und die Gemeinde. Dann ging er hinaus, um auf die Polizei zu warten.
Im Windschatten unter dem Schindeldach stehend, nahm er die beiden Auffahrten zum Parkplatz in Augenschein – eine kam von Westen, die andere von Norden. Er schlug den Kragen hoch und umrundete in weitem Bogen Kirche und Gemeinderäume, auf der Suche nach irgendetwas Ungewöhnlichem, einer Hinterlassenschaft, nach Fußabdrücken oder Spuren eines Kampfes.
Als Luke wieder vorn ankam, fuhr Hilfssheriff Barry Stilfork gerade mit in der Morgensonne blinkendem Blaulicht vor. Steifbeinig trat Stilfork auf ihn zu. Sein Atem gefror in der kalten Luft.
»Pastor.«
»Barry.«
Stilfork hatte unregelmäßige Gesichtszüge – eine sehr lange Nase, dunkle, eng stehende Augen und einen breiten, schmallippigen Mund. Viele nannten ihn liebevoll – manche auch weniger liebevoll – »Zinken«.
Während Luke noch seinen Fund in der Kirche beschrieb, fuhr auch Sheriff Calvert heran und brachte seinen Jeep mit einer scharfen Drehung knapp vor Stilforks Wagen zum Stehen. Vor dem Priesterseminar hatte Luke als Rettungssanitäter gearbeitet; er war selbst oft dort gewesen, wo niemand mehr helfen konnte.
Luke und Calvert sprachen sich nie mit Namen an, sondern immer als »Pastor« und »Sheriff«; Calvert trug Jeans und einen Flanellmantel.
»Pastor.«
»Sheriff.«
»Was haben wir denn?«
»Etwas ziemlich Unschönes, fürchte ich.«
»Sehen wir’s uns doch mal an.«
Drinnen war das Licht erneut weitergewandert. Die Frau warf nun einen langen Schatten über die Bankreihen, der einem in Richtung Altar deutenden Pfeil glich.
»Wer ist das?«, fragte der Sheriff.
»Keine Ahnung. Ich habe sie noch nie gesehen.«
Calvert kniff die Augen zusammen, als würde er überlegen, ob er Bowers glauben sollte. Die drei gingen zum Ende der Reihe, wobei der Sheriff Barry Stilfork zunickte. Stilfork hinterließ eine Spur schmutziger Fußabdrücke auf dem Holzboden. Er legte der Frau die rechte Hand an den Hals.
Als die Rettungssanitäter und die Spurensicherung eintrafen, erteilte Calvert Anweisungen – obwohl er für diesen Fall erstmals seit Jahren nicht zuständig sein würde. Im letzten Frühling hatte die Polizeiverwaltung des Landkreises – endlich, wie viele meinten – neue Richtlinien für das Vorgehen bei Mordfällen erlassen, sodass das Morddezernat der Maryland State Police nun die Ermittlungen leiten würde. Calvert, ein stolzer, breitschultriger Mann, der seit siebzehn Jahren Sheriff war, hatte diese Neuerung nicht gerade begeistert aufgenommen.
Luke sah zu, wie die Mitarbeiter der Spurensicherung das Innere der Kirche und das Opfer fotografierten, während der Sheriff sie kritisch beäugte und auf dieses und jenes zeigte. Manchmal, dachte Luke, wirkte Calverts Gesicht wie eine optische Täuschung: Aus bestimmten Winkeln gesehen erschien es rau und pockennarbig, aber wenn er den Kopf ein wenig drehte, schien es eine glatte Oberfläche anzunehmen.
»Ist in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches geschehen?«, fragte Calvert später, als sie draußen vor der Kirche standen.
»Eigentlich nicht. Denken Sie an etwas Bestimmtes?«, antwortete Luke.
»Sie haben in letzter Zeit nichts mit Robby Fallow oder seinem Jungen zu tun gehabt, oder?«
»Bitte?«
Der Sheriff wiederholte seine Frage, diesmal etwas lauter. Robby Fallow war ein kleiner, kauziger Mann, dem das Ebb Tide Inn gehörte, ein etwas weiter oben an der Straße gelegenes Motel – ein Gebäude aus den 50ern oder 60ern, das in letzter Zeit öfter geschlossen als geöffnet war. Fallows erwachsener Sohn lebte in einem der Motelzimmer. Beide waren wegen kleinerer Delikte mit dem Gesetz in Konflikt geraten, aber das lag schon Jahre zurück.
»Nein«, sagte Luke. »Warum?«
Der Sheriff spie auf den Kies, drehte sich um und betrachtete kopfschüttelnd die kahlen Bäume. Die meisten Ermittler sammelten Hinweise und stellten dann eine Theorie auf, um sicherzugehen, dass sie sich nicht auf einen Verdächtigen versteiften und andere unberücksichtigt ließen; Calvert ging häufig genau andersherum vor. Was auch der Hauptgrund dafür war, dass die Kreisverwaltung ihm nun bei Mordfällen eine neue Rolle zugewiesen hatte.
Barry Stilfork nahm Bowers’ Aussage in seinem Wagen auf, wobei er unentwegt hustete.
Auf dem Heimweg kam Luke ein weißer Toyota Camry entgegen – anscheinend Amy Hunter vom Morddezernat der Maryland State Police. Luke war erleichtert, dass sie die Ermittlungen leiten würde und nicht Sheriff Calvert.
Stilfork hatte die meisten der Fragen gestellt, die Luke erwartet hatte. Doch einige hatte er auch ausgelassen. Luke dachte darüber nach, während er bei aufgehender Sonne an vereisten Feldern und leuchtend weißen Birkenwäldern vorbeifuhr. Eine Frage beschäftigte ihn besonders. »Zinken« hatte es gesehen und mittlerweile mit Sicherheit auch der Sheriff: die blutigen Ziffern, die jemand in die rechte Handfläche der Frau geritzt hatte wie in einen Halloween-Kürbis.