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Serien
Zum ersten Mal hörte ich den Begriff »Serienmörder« bei einem sechswöchigen Abendkurs, der »Neue Denkweisen in der Verbrechensbekämpfung« oder so ähnlich hieß. Er fand in einem alten technischen College gegenüber der weitläufigen, aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Universität von Melbourne statt. Alle zwanzig Minuten hörten wir, wie eine Straßenbahn gefährlich nah über die breite Prachtstraße draußen knatterte und sich dabei wie tausend Gewehre anhörte.
Einmal die Woche behandelten wir einen »Themenschwerpunkt«. Wir lernten etwas über Psychologie. Uns wurde beigebracht, was »Viktimologie« bedeutet. Ein Typ mit buschigem Schnurrbart erzählte uns, dass Computer unerlässlich werden würden. Er meinte, »Mobiltelefone« würden zu unserem wertvollsten Pluspunkt werden. Eines Abends waren ich und eine genauso ehrgeizige Frau namens Rhonda Blank die Einzigen, die zu einem Vortrag über »Kriminalistik« aufkreuzten. Ich schrieb eifrig mit. Ich war der Einzige, der sich je Notizen anfertigte. Die meiste Zeit wusste ich gar nicht recht, was ich schrieb, aber ich dachte mir, dass mein Gekritzel vielleicht eines Tages einen Sinn ergeben würde.
Am allerersten Abend wollte ich neben Rhonda Blank sitzen. Jeder Tisch war für zwei Personen vorgesehen. Tiefe Augen, dunkles Haar, herbe Schönheit; alles an ihr sagte: Trau dich doch! Als ich den staubigen Raum mit der schwachen Beleuchtung, der schäbigen Heizung und den für Zehnjährige gefertigten Tischen betrat, erblickte ich sie und hatte schlagartig das Gefühl, in den Abgrund der Liebe gestoßen worden zu sein. Ein Kerl von der Verkehrspolizei schnappte sich den leeren Sitz neben ihr, nahm jede Woche darauf Platz und ignorierte sie die ganze Zeit.
Verkehrspolizisten. Dümmer als Bohnenstroh.
Ich vermutete, dass Rhonda aus demselben Grund dort war wie ich – weil sie alles verstehen wollte, was über die heile Welt der 1950er und 1960er hinausging, in der die meisten Cops immer noch lebten, alles über einen neuen Ort, einen unsicheren, dunklen, gefährlichen Ort voll unbekannter Bösartigkeit. Vielleicht spürten wir beide, dass wir uns in dessen Netz verfangen und darin um ein Gefühl von Identität kämpfen würden, während die Verbrechen zunehmend unaussprechlicher und scheinbar unmenschlicher werden würden. Vorbereitet sein: So hatte meine Prämisse gelautet.
Ich gab mich Fantasien über Rhonda hin und freute mich auf die warmen Mittwochabende in Zimmer 118 im zweiten Stock der Technikschule, wo ihre Gegenwart die Möglichkeiten von Fleischeslust, von Sinnlichkeit erahnen ließ. Wir sprachen nie miteinander. Nur einmal wechselten wir einen Blick, und das war an dem Abend, als uns ein Polizist von Scotland Yard einen Vortrag über die dunklen Abgründe in der Seele eines Menschen hielt, die jeglichem Mitgefühl und jeglicher Empathie trotzen.
Empathie. Ich schrieb mir das Wort auf, wusste nicht wirklich, was es bedeutete. Oder, um genauer zu sein, was das Fehlen von Empathie bedeutete. Ich sollte es noch herausfinden.
An den meisten Abenden saß ich neben einem Bullen namens Daryl Baldock. Daryl verkörperte alles, was ich an Männern hasste. Er war groß, blond, gutaussehend, muskulös und charmant. Er war unheimlich beliebt. An den Wochenenden surfte, wanderte oder kletterte er. Daryl hatte eine Menge Freunde und besaß eine unsichtbare Anziehungskraft, die ihm wunderschöne Frauen nur so zufliegen ließ. Er war nett und freundlich und erkundigte sich immer, was ich für das Wochenende plante. Er hatte eine geradezu unheimliche Gabe dafür, verständnisvoll rüberzukommen, und ich glaube, er war dabei obendrein aufrichtig, was ich noch schlimmer fand. Außerdem war er spektakulär dämlich. In all seinen Dienstjahren stieg er, obwohl er ein ach so toller Hecht war und etliche Surfwettbewerbe gewann, nie über den Rang eines Constables auf.
Der Typ von Scotland Yard sprach mit einem maschinengewehrartigen Akzent, dem keiner von uns folgen konnte, darüber, dass der Mangel an Empathie entscheidend zu etwas beitrug, was man bei ihnen als »Serienmörder« bezeichnete.
Mittlerweile ist das ein gängiger Begriff, aber damals hatte ihn niemand von uns je zuvor gehört. Ich versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen, ließ ihn mir durch den Kopf gehen, tastete ihn ab wie ein nervöser Boxer seinen Gegner, als Daryl plötzlich fragte: »Ist das so was wie ein Mörder, der nur tötet, wenn im Fernsehen eine Serie läuft?«
Die geradezu brillante Dämlichkeit der Frage war, obwohl keiner von uns in der Lage gewesen wäre, eine treffende Antwort zu liefern, verblüffend überwältigend.
»Nein, du bescheuerter Penner!«, gab der Mann von Scotland Yard barsch zurück – damals in den glorreichen Tagen, bevor man für den Gebrauch solcher Ausdrücke zu einer Aggressionsbewältigungstherapie verdonnert wurde. »Besorg dir ein verfluchtes Wörterbuch und mach den Mund bloß nicht noch mal auf.«
Daryl verstummte, wir alle lachten, und der Polizist von Scotland Yard fuhr mit seinem Vortrag fort. Wir alle hatten schon Erfahrungen mit Wiederholungstätern gesammelt, Typen, die es einfach nicht lassen konnten, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Die Gefängnisse quollen über von ihnen. Der Knast bildete so etwas wie ihre dritte Heimat. Die zweite war unser Revier, wo sie die Cops kennenlernten, die erste das Loch, sei es eine Bretterbude oder ein Wohnwagen, wo sie ihr elendes, sinnloses Dasein fristeten.
Der Begriff Serienmörder jedoch bezeichnete etwas anderes. Er fasste die Beschreibung eines Mörders zusammen, den die Fantasie darüber, was er mit einem gefesselten, nackten Teenagermädchen oder -jungen anstellen wird, so aufblühen lässt wie Wasser eine Blume. Der anschließend dazu übergeht, zu planen, wie er sich das Mädchen oder den Jungen schnappen wird. Und der zuletzt seine Fantasie in grausige Realität umsetzt. In der Gedankenwelt des Serienmörders stellt das Finale des grotesken Schauspiels die Entsorgung des Leichnams dar. Und so wie eine Blume fortwährend Wasser braucht, um weiterleben zu können, muss es der Serienmörder immer wieder tun. Ein weiteres Mädchen oder ein weiterer Junge. Und wieder. Und wieder.
Im Raum wurde es still. Der Beamte von Scotland Yard holte eine Zigarette hervor – eine Kent –, zündete sie an und betrachtete uns, als wäre es ein Spiel, um herauszufinden, ob er uns schon erschreckt hatte. Ich hörte, wie hinter mir ein Stuhl über den Boden schabte und einer meiner Kollegen tollpatschig hinausging. Ich drehte mich nicht um, sah nicht nach, um wen es sich handelte. Niemand tat das.
Schließlich hob ich die Hand.
»Ja?«, sagte der Vortragende ruppig.
»Hören sie jemals auf?«, fragte ich.
»Zu töten?«
»Ja.«
»Die Ehe zwischen Psychologie und traditioneller Polizeiarbeit ist gerade erst geschlossen worden, Jungchen«, erklärte er, »deshalb können wir dir darauf keine Antwort geben, die wissenschaftlich fundiert oder definitiv wäre. Klar, was ich meine?«
Ich nickte.
Eine Weile musterte er uns, dieser schlaksige Glasgower mit dem zähen, schwer zu verstehenden Akzent, dem billigen Haarschnitt und dem zerfurchten Gesicht, ein Kerl, den ich bis zu dem Zeitpunkt für einen Schwachkopf gehalten hatte. Ich sah in seinen Augen, was ich noch in meinen eigenen erkennen sollte, und zwar jeden Morgen bei einem flüchtigen Blick in den Badezimmerspiegel: das erdrückende Gewicht der Vergeblichkeit, das wie ein Grabstein auf den zerbrechlichen Schutzschild der eigenen Seele presst.
»Aber nein«, fuhr er letztlich fort. »Das können sie nicht. So sehr, wie du …« Er zeigte auf mich. »… und du …« Er zeigte auf jemanden hinter mir. »… ihr alle – so sehr, wie ihr alle Wasser, Luft, Essen und ein Dach über dem Kopf braucht, vielleicht auch Sex oder vielleicht Gelächter oder Alkohol, um zu überleben …«
Er atmete tief durch.
»… so sehr müssen sie töten. Die Entführung und Versklavung, die Erniedrigung und Verstümmelung, die Folterung ihrer Opfer, das Flehen um Hilfe, die Qualen, all das ist für den Serienmörder so notwendig wie Atmen, Essen und Schlafen für euch. Serienmörder können nicht aufhören.«
Wieder breitete sich Stille im Raum aus, während die unzusammenhängenden Geräusche der Stadt von draußen gegen die Fenster dröhnten – ferne Stimmen, Gebrüll, vielleicht auch Gelächter.
Was ich an wirklich dummen Menschen liebe, ist ihr unvergleichlicher Mangel an Auffassungsgabe. Völlig ahnungslos brach Daryl das Schweigen und stellte eine weitere Frage.
»Ist das …«, begann er stockend und durchforstete einen Bereich in seinem Gehirn, in dem er vielleicht die richtigen Worte für seine Gedanken finden würde. »Diese Serienmördersache, ist das, na ja, Sie wissen schon …« Wieder suchte er. »Ist das etwas Neues? Ich meine, hat es solche Menschen schon immer gegeben oder sind sie ein neues, ein modernes Phänomen?«
Ich hörte, wie mehrere Anwesende »Ja« murmelten, als bestätige die Frage ihre eigenen Gedanken. Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, zu wem die Stimmen gehörten. Dabei begegnete ich Rhondas Blick. So wie ich kannte sie die Antwort, und eine Verbindung entstand.
»Jungchen«, sagte der Schotte zu Daryl, »ich bin fünfundsechzig Jahre alt und trage eine Polizeiuniform, seit ich siebzehn war. Lass mich dir etwas sagen, und vergiss es besser nie.«
Er ging zu Daryls Tisch, baute sich über ihm auf und blickte ihm in die Augen. »Es gibt ›uns‹, und es gibt ›sie‹«, sagte er zu Daryl, der dem älteren Mann in die Augen starrte, als verstünde er.
Dabei hätte ihm der Beamte von Scotland Yard ebenso gut erzählen können, dass er Zitronenhühnchen zum Mittagessen gehabt hatte. Der Veteran trat zurück und sah uns alle an, betrachtete uns eingehend, ein alter Reisender durch eine schreckliche Welt. Der Blick, das Klicken, das Begreifen, die Verbindung. Gelassen musterte er jeden seiner jungen Schüler bei dieser kurzen Lehrveranstaltung an jenem klammen Abend in Melbourne. Füße scharrten, die Leute regten sich auf ihren Sitzen. Stille kann unbehaglich sein. Ich vermute, die meisten von uns hatten das Gefühl, der alte Kauz sei exzentrisch und hätte vielleicht vergessen, was er als Nächstes sagen wollte. Dann sah er mich an, und ich hielt dem Blick stand. Er schwenkte den Kopf in Rhondas Richtung. Ich wusste, dass auch sie seinem Blick unverwandt begegnete.
Nach einer bedrückenden Pause lächelte er, trat weiter zurück und lachte schließlich.
»Seht nur, wie spät es geworden ist. Danke fürs Kommen.«
Alle packten rasch zusammen. Wir alle hatten vereinbart, uns anschließend in einer Kneipe auf der anderen Straßenseite zu treffen. Der Wirt schenkte an Polizisten kostenlos Bier aus.
Ich bewegte mich langsam, steckte mir meinen linierten Notizblock in die Tasche, schraubte den Verschluss meines Stifts fest zu. Ich hörte, wie die anderen gingen, das hastige Rascheln desinteressierter Personen, die sich den Korridor und die Treppe zur Straße hinabdrängten.
Zurück blieben Rhonda, ich, zwei junge Polizisten und der Mann von Scotland Yard, jener alte Cop aus einer weit entfernten Stadt, der wusste, dass es in unserer Welt einen unterschwelligen Sog von Verkommenheit gab, in den wir noch so eintauchen sollten, wie er es getan hatte. Ich bin nicht religiös, und es war kein religiöser Augenblick, nur ein gemeinsames Bewusstsein, etwas, das uns verband.
»Wie heißt du?«, fragte er mich.
»Constable Darian Richards.«
Er sah Rhonda an.
»Constable Rhonda Blank.«
»Fergus McDowell. Chief Inspector.« Er streckte uns nicht die Hand zum Schütteln entgegen. »Habt ihr verstanden, was ich damit gemeint hab, dass es ›sie‹ und ›uns‹ gibt?«
»Ja, ich schon«, sagte ich und fuhr fort: »Aber … das ist neu für mich. Ist es wirklich so schwarz und weiß? Ich meine, Chief Inspector, ›die‹ können doch nicht durch und durch schlecht sein, oder? Böse, will ich damit sagen.«
Erst dachte ich, er hätte die Frage nicht gehört. Eine gefühlte Ewigkeit starrte er uns an, ohne ein Wort zu sagen. Vielleicht erinnerte er sich an die Vergangenheit, oder vielleicht wog er uns ab und fragte sich, ob wir es wert wären, dass er uns seine Geschichten erzählte. Mit durchdringendem Blick beugte er sich vor.
»So weit, wie ich gerade von dir und von dir, Mädel, entfernt bin, habe ich einem Mann gegenübergesessen, der ein achtjähriges Mädchen entführt hatte. Ihr Name war Gladys. Er hat sie nackt ausgezogen, am Betonboden seines Kellers festgebunden und zwei Tage lang alle drei Stunden vergewaltigt. Hat sich dabei aufgeputscht, damit er wach bleiben konnte. Er hat das kleine Mädchen mit dem Messer misshandelt, lange Schnitte entlang der Beine und Arme; während sie vor Schmerzen schrie, hat er masturbiert – durch ihr Gebrüll ist er zum Höhepunkt gekommen, hat er mir voll Stolz erzählt. Zu der Kleinen hat er gesagt, dass er sie auf die schmerzhafteste Weise umbringen würde, die man sich nur vorstellen kann. Er hat ihr gesagt, dass er danach ihre kleine Schwester auf dieselbe Weise töten würde. Er hat ihr die Ohren und die Zehen abgeschnitten, und nachdem er seine Vorstellungskraft ausgeschöpft und ihrem Körper alles abverlangt hatte, hat er ihr die Kehle aufgeschlitzt, ihr den Kopf abgetrennt und langsam begonnen, alle Spuren zu verwischen. Er hat mir das in allen Einzelheiten erzählt, als rede er von einem Urlaub oder von einem hervorragenden Essen in einem Gourmetrestaurant. Er hat die Erinnerung daran genossen. Und danach sah ich in seinen Augen, dass er innerlich nur eins bedauerte: dass er keine Gelegenheit bekommen würde, es wieder zu tun. Der Mann war verheiratet und nahm seinen achtjährigen Sohn jeden Samstag zu einem Fluss mit, wo sie Forellen angelten. Nachts saß er auf der Bettkante des Jungen und las ihm Geschichten von Roald Dahl vor. Er hat davon geträumt, dass sein Sohn einmal Jura an der Universität in London studieren würde. Seine Frau schlief jede Nacht an seiner Seite, weckte ihn jeden Morgen auf. Gladys war nicht die Einzige. Nur das Opfer, bei dem wir ihn erwischt haben. Es gab etliche weitere. Alles kleine Mädchen. Alle von den Straßen verschwunden, längst vergessen. Alle von diesem Mann entführt, der jeden Abend nach Hause kam, seinem Sohn vorlas, zu seiner Frau ins Bett stieg. Existiert das Böse, Darian? Ja, tut es. Aber werden du und du …« Das zweite »du« galt Rhonda, »… es je verstehen? Ich verstehe es immer noch nicht. Was ich hingegen sehr wohl verstehe, sind die Auswirkungen, die ›sie‹ auf ›uns‹ haben. Hütet euch davor, ihr zwei. Ihre Finsternis ist heimtückisch. Die Albträume sind das erste Anzeichen. Nicht die normalen Albträume, die man als Polizist hat, die suchen uns alle heim; nein, die Albträume, in denen man nicht mehr man selbst, sondern einer von ihnen ist.«
Jäh kehrte er an einen anderen Ort zurück. »Genug davon. Ich geh mich jetzt volllaufen lassen. Schönen Abend noch euch beiden«, sagte er und marschierte davon.
»Was ist mit dir, Rhonda? Lust auf einen Drink? Ich kann auf jeden Fall einen vertragen«, sagte ich.
Dabei drehte ich mich zu ihr um. Sie war bereits gegangen.
Ich war allein.