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Helen, 36D (ii)
Da sind wir, meine Freunde, fast zu Hause. Passt gut auf, meine Brüder und Schwestern. Merket: Es ist wichtig, dass ihr einen Ort wählt, an dem ihr nicht hervorstecht. Es ist wichtig, sich einzufügen und den Anschein zu erwecken, normal zu sein.
Was zum Teufel ist denn normal?, höre ich euch fragen. Ah, gute Frage. Und hier kommt die Antwort: Es gibt keine Antwort. Normal existiert nicht. Aber dabei dürft ihr eines nicht vergessen, Freunde: Jeder denkt, es gäbe so etwas wie normal, und fast jeder versucht, es zu leben.
Daher wohne ich in einer netten Straße in einem netten Vorort mit nettem Rasen und netten Autos und netten Leuten, die jeden Abend fernsehen und morgens zur Arbeit gehen und nach dem Einkaufen im Supermarkt nach Hause kommen. Auch ich mache das alles. Na ja, nicht wirklich. Aber ich tue so, als ob. Merket: Tut so, als wärt ihr wie die anderen um euch herum.
Wisst ihr, es ist nicht normal, einen Van mit einem Paket hinten drin eine nette Straße entlangzufahren. Also muss man dafür sorgen, dass es normal aussieht. Man muss wie die anderen Spießer in der Straße aussehen, man muss aussehen wie der Eisverkäufer oder ein Bote oder ein Kerl, der Klempner oder Elektriker sein könnte. Und es ist so verdammt einfach. Helen, hörst du zu? Du bist auch ein Teil davon. Normale Menschen denken, du könntest ein eingerollter Teppich oder Kisten mit Draht sein. Deshalb nenne ich die Mädchen, nachdem ich sie mir geholt habe, das Paket.
Langsamer, Soldat – schreck die Nachbarn nicht durch rücksichtsloses Fahren auf.
Manchmal fühle ich mich wie ein echtes Mitglied der Gemeinde. Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte Rotarier oder Pfadfinder sein.
Langsamer. Pass auf den Jungen auf, der wie der verfickte Spiderman mitten auf der Straße mit seinem Fahrrad fährt. Wink dem kleinen Arschloch zu. Lächle den kleinen Widerling an.
Da sind wir. Vor den Toren zur Burg. Rolltore sind gut. Besorgt euch am besten nicht nur ein Haus, das wie alle anderen Häuser aussieht, sondern versucht, eines mit einem Rolltor zu bekommen. Sehr sicher. Ich liebe-liebe-liebe es, wenn ich endlich mit dem Paket in der Garage bin und sich das Rolltor hinter uns scheppernd auf den Betonboden senkt, uns einschließt.
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Helen war extrem fest an dem Drahtgitter festgebunden und konnte sich deshalb kaum rühren. Trotzdem gelang es ihr, den Kopf zu drehen und zu ihm hinaufzustarren, während sie fuhren. Sie hörte, wie sich ein elektrisches Tor schloss. Gleichzeitig senkte sich eine bedrückende Düsternis herab. Sie wusste, dass sie sich in einer Garage befand.
Winston lächelte sie an.
»Hi, Helen. Ich mache das schon eine ganze Weile. Daher: Je mehr du dich wehrst, desto schlimmer wird es. Für dich.«
Sie beobachtete, wie er die Drahtgitterwand losschraubte und einrollte. Dann kletterte er vom Fahrersitz nach hinten in den Van und kniete sich neben sie.
Warum sie? Was hatte sie ihm denn getan? Lag es an etwas, das sie gesagt hatte? Irgendwann, als er zu einer seiner Sitzungen gekommen war? Sie versuchte, sich an seine Akte zu erinnern. Alles, was ihr einfiele, würde ihr vielleicht helfen können. Sie wusste aus Film und Fernsehen, dass man bei solchen Leuten Empathie schaffen musste.
Allerdings entsprang jener Gedanke einem Ort namens Hoffnung, und an jenem Ort hielt rasch Dunkelheit Einzug. Helen wusste, dass keine Hoffnung bestand. Alles, was sie aus ihrem Gedächtnis kramte, war, dass er einen langen Namen hatte, vierundzwanzig Jahre alt war und unter einem seltenen Pigmentierungsgebrechen der Augen litt, das seinen Iriden eine orange Färbung verlieh.
Er berührte ihre Brust. Er drückte sie. Er starrte sie an, drückte fester. Sie versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, doch es war hoffnungslos. Alles war hoffnungslos. »Denk dran, was ich gesagt habe«, hörte sie.
Helen erstarrte. Sie löste den Blick nicht von ihm.
»Im Haus gibt es eine Liste von Regeln. Die gehen wir demnächst durch. Aber davor werde ich dich ficken.«
Er sprach ohne jede Emotion.
»Das wird Fick eins. Wenn wir zu Fick zweiunddreißig kommen – kannst du dir das merken? Fick zweiunddreißig? –, dann sage ich dir, ob du weiterleben oder ob du sterben wirst. Aber du musst dir Fick zweiunddreißig merken, denn wenn nicht, wenn ich dich frage, wie oft wir gefickt haben und du falsch antwortest, dann …«
Er zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Dann kann man nichts machen.
»Oh, und um fair zu sein: Mit dem Mund zählt es nicht als Fick. Da besteht ein großer Unterschied. Zähl das nicht mit. Alles klar?«
Helen hatte längst aufgehört, sich zu bewegen, und starrte auf ein Grauen, das sie nicht für möglich gehalten hätte.
»Fangen wir an. Du liegst einfach da, dann passt das schon.«
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Helen erlangte das Bewusstsein wieder und sah sich um. Ein Schlafzimmer. Dunkel. Aber nicht dunkel genug. An den Wänden hingen Fotos. Hunderte Fotos.
Von Mädchen im Teenageralter. Nackt, gefesselt, hilflos, misshandelt, zerschnitten, blutend, weinend, flehend, auf den Knien, bettelnd. So viele Mädchen.
Helen schrie erneut, schrie lauter, als sie es für möglich gehalten hätte. Ein Schrei, der tief aus ihrer Seele aufstieg, ein Schrei, der von dem Klebeband über ihrem Mund gedämpft wurde.