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Die Doppelgänger-Ausstrahlung

ch ließ sie warten, während ich zurücksetzte, vorwärts schlich, das Lenkrad drehte, wieder zurücksetzte, aus dem Wagen stieg und den knappen Abstand zwischen dem Heck des Toyota und dem Holzzaun von Janice Soundso maß, dabei die Jungs anlächelte, als wollte ich sagen: »Ist das Leben nicht spitze?« Dann trat ich sachte aufs Gaspedal und rollte vorwärts, bremste, drehte abermals das Lenkrad und stieß langsam zurück. Zwei von ihnen standen da und beobachteten mich, während die anderen zwei jeweils mürrisch hinter dem Lenkrad jedes Streifenwagens saßen.

Ich hätte ja nur zu gern noch mehr Zeit der Jungs vergeudet, aber ich hatte Arbeit zu erledigen. Isosceles hatte Neuigkeiten, und ich hatte ihn noch nicht zurückgerufen. Casey hatte die Ware aus Brescia: meine Pistole.

Nachdem ich das Auto an eine wählerische Position manövriert hatte, zwischen einen nach Zitronen duftenden Eukalyptus, einen kleinen Garten mit italienischer Petersilie und einen wilden Bougainvillea-Baum, dessen schwere Äste dicht über das Dach des Toyota herabhingen, zwängte ich mich hinaus und ging auf die Hintertür zu. Die Jungs hatten sich nicht gerührt.

Zeit für eine Botschaft, erkannte ich. Unvermittelt hielt ich inne und wartete.

Wie auf ein Stichwort sagte Nummer drei: »Sie halten sich für richtig superschlau, was?« Er besaß diesen blonden, verträumten Strand-Look. Der König der Kids im Surfklub an Samstagabenden. Wäre ich ein erstklassiger Surfer gewesen, hätte er mich vielleicht nach meiner Meinung zum Wellenreiten befragt. Erstklassigen Cops wird selten Respekt entgegengebracht; sie bekommen eine Portion Neid, eingewickelt in höhnische Verachtung.

Ich erwiderte nichts.

»Tja, sind Sie nicht«, fügte er hinzu und lebte damit die Fantasie jedes Sechsjährigen davon aus, wie es sein müsste, ein tougher Bulle zu sein.

Der Gehirnamputierte rührte sich ebenso wenig wie das Genie neben ihm. Ich zählte bis zehn. Immer noch rührte sich keiner von uns.

Die Anrufe würden warten müssen.

Mittlerweile würden Fat Adam und die anderen Cops wieder im Revier sein; diese Jungs hier würden mit mindestens zwanzig Minuten Verzögerung eintreffen. Alle im Revier würden auf sie warten und wissen wollen, was sie mit mir gemacht, wie sie mich eingeschüchtert hatten. Ob sie mich vielleicht in den Fluss geworfen, mir eine kleine Abreibung verpasst hatten. Wie sie den Besserwisser aus der Großstadt im Süden in seine Schranken gewiesen hatten.

So weit hatten die Genies noch nicht vorausgedacht. Aber das würden sie noch, nachdem sie von hier aufgebrochen wären. Ihnen würde der Gedanke kommen, dass sie ein Begrüßungskomitee erwarten würde, zu dem auch der Boss gehörte.

Ich musste ihnen etwas klarmachen.

»Sagt euren Freunden, sie sollen aus den Autos steigen«, forderte ich sie mit einer tödlichen Ruhe auf, die ich eine ganze Weile nicht mehr zum Einsatz gebracht hatte. Verunsichert sahen sie sich gegenseitig an.

»Oder wenn das ein Problem für euch ist, übernehme ich es«, fügte ich hinzu.

Beide drehten sich um und gingen zu den Streifenwagen. Einer öffnete die Beifahrertür und beugte sich hinein, um mit dem wartenden Fahrer zu reden, der andere trat an die Fahrerseite, klopfte ans Fenster und bedeutete dem Fahrer, die Scheibe runterzulassen.

Die beiden anderen stiegen aus. Es waren große, kräftige Kerle, alle vier. Sie standen nebeneinander und warteten. Wenigstens waren sie nicht so dämlich, die Hände zu Fäusten zu ballen.

»Kommt her«, verlangte ich.

Cops mögen es nicht, wenn man ihnen sagt, wo sie hingehen sollen. Sie rührten sich nicht.

»Kein Problem. Dann komme ich eben zu euch«, sagte ich und bewegte mich auf sie zu. Cops mögen es auch nicht, wenn sich ihnen Leute nähern. Ich kam ihnen nahe, aber nicht unklug nahe.

Ich sah jedem von ihnen in die Augen. Sie hielten meinem Blick stand. Ich konnte ihre flache Atmung hören und sah, wie sie die Körper anspannten, mit keiner Wimper zuckten.

»Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte. Keine Sorge, sie ist kurz. Ich war neunzehn, als ich die Uniform angezogen hab. Ein alter Bursche, ein Senior Sergeant, der seit den 1930ern im Revier Collingwood gewesen war und Narben hatte, die es bewiesen, hat mir gesagt, dass man die Uniform nie loswird. Deshalb tragen sie auch alle beim Begräbnis. Sie folgt einem sogar ins Grab.«

Damit hatte ich mir ihre Aufmerksamkeit gesichert. Ich redete über etwas, das jeder von ihnen tief in seinem Innersten wusste, worüber jedoch in der Öffentlichkeit nie gesprochen wurde.

»Auf mich ist sechzehnmal geschossen worden; dreimal wurde ich getroffen. Ich habe meine Schusswaffe bei vierundsechzig Gelegenheiten abgefeuert. Bin dafür nie gerügt worden. Ich habe achtzehn böse Jungs getötet und mich richtig gut dabei gefühlt. Mehrere dieser Männer haben mir in die Augen geblickt, bevor ich den Abzug gedrückt habe. Ich war froh, dass diese Jungs vor mir abgekratzt sind. Drei davon waren Cops.«

Kurz verstummte ich. Mittlerweile tiefes Atmen, die Körper ein wenig schlaffer, die Muskeln nicht mehr zum Zerreißen angespannt. Sie hörten mir zu.

»Wenn ihr ins Revier zurückkommt, dann sagt, was ihr wollt. Aber tut nicht so, als wäre ich etwas, das ich nicht bin. Prahlt vor dem Boss, soviel ihr wollt, aber sagt euren Kollegen, wie die Dinge wirklich stehen. Einfach ausgedrückt, Jungs, sagt ihnen, sie sollen sich nicht zu dem Irrglauben verleiten lassen, ich wäre ein Kandidat dafür, ein wenig durch die Mangel gedreht zu werden. Das wäre ein großer Fehler.« Und damit wandte ich mich ab und ging in mein Haus.

Ich hörte, wie die Autos wenige Minuten später aufbrachen.

Ich besitze keinen Schreibtisch, deshalb stand mein neuer Computer an einem Ende meines Esstischs, bei dem es sich eigentlich um keinen Esstisch handelte, sondern um einen massiven Holzblock, den Casey in einem verlassenen Lagerhaus an den alten Docks von Brisbane entdeckt hatte. Neben dem Computer lag eine handgeschriebene Liste mit Anweisungen: Wie man ihn einschaltete, auf welches Symbol man klicken musste, um eine Verbindung herzustellen – und eine sehr lange Aufstellung von Dingen, die man nicht tun durfte.

Ich rief Skype auf.

»Wie war’s mit der Polizei?«, erkundigte sich Isosceles.

»Woher weißt du davon?«

»Hat Casey mir erzählt. Er hat mich dreimal angerufen. Er hat eine 92 aufgetrieben. Ist frühzeitig angekommen.«

»Tatsächlich?« Ich war beeindruckt; die 92 ist schwer zu finden.

»Du bist sonnengebräunt.«

»Das kommt daher, dass ich in der Sonne lebe.«

»Widerlich.«

»Du hast dich überhaupt nicht verändert.«

»Ich bin unsterblich. Ich trage mich mit dem Gedanken, nach Burkina Faso zu reisen, wenn das alles vorbei ist; hast du Lust, mich zu begleiten?«

»Nein.«

»Wie du willst. Fahre ich eben alleine. Erinnerst du dich an unser letztes Gespräch über das Thema der Signale, die von Mobiltelefonen ausgestrahlt werden?«

»Vage. Nicht wirklich. Das war vor über zwei Jahren, ich hatte gerade einen Verbrecher hinten in einen Polizeiwagen verfrachtet, und ich hab aus einer Messerwunde geblutet. Ich erinnere mich allerdings daran, dass du unaufhörlich geredet hast.«

»Das tue ich immer. Annahme: Nach dem Neutralisieren der Zielperson deaktiviert er ihr Telefon.«

»Richtig.«

»Richtig«, wiederholte er, als hake er einen Punkt auf einer Einkaufsliste ab. »Ein Vorgang, der etwa zehn Sekunden dauert?«

»Sagen wir zwanzig; einige der Mädchen hatten Umhängetaschen, andere hatten Schulrucksäcke.«

»In diesem Fall haben wir nunmehr einen präzisen Standort für das Verschwinden jedes der sechs Opfer. Dir werden zwei Anomalien auffallen. Erstens: Opfer Nummer fünf wurde nicht bei KFC entführt, wo das Mädchen zuletzt gesehen wurde. Ihr letztes Signal trat vier Minuten später auf; es ist auf der Karte, die ich dir geschickt habe. Zweitens: Opfer Nummer drei …«

»Izzie«, ergänzte ich, da sie sich mir so unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt hatte.

»… ist dreiundzwanzig Kilometer von dort entfernt verschwunden, wo sie laut Polizei entführt wurde. Auch die zeitliche Diskrepanz ist merkwürdig. Meinen Daten zufolge wurde sie achtundsechzig Minuten nach dem Zeitpunkt geschnappt, den die Polizei als ›zuletzt gesehen‹ protokolliert hat.«

»Dreiundzwanzig Kilometer und achtundsechzig Minuten? Wie konnten die dabei so weit danebenliegen?«

»Nicht nach den Gründen gilt es zu fragen, Kamerad, es gilt zu handeln und zu sterben in diesen Tagen.« Isosceles schwärmt für Geschichte und insbesondere für den irgendwie obskuren Krimkrieg. Das bildet den Quell zahlreicher Zitate, die er in Unterhaltungen, SMS und in gelegentliche E-Mails einbaut.

»Wenn wir an unser letztes Gespräch über das Thema zurückdenken«, fuhr er fort, »dann habe ich damals gesagt, dass es keine Vorrichtung gibt, die man verwenden kann, um das von einem Mobiltelefon ausgehende Signal aufzuhalten, nicht einmal, wenn man es ausschaltet. Um nicht aufgespürt zu werden, hilft einzig das Entfernen des Akkus. Du wirst dich vielleicht an die recht hitzige Debatte darüber erinnern, ob um Mobiltelefone gewickelte Alufolie dazu geeignet ist, die Entdeckung zu verhindern.«

Geeks: Sie lieben es, sich in Zweifelhaftes hineinzusteigern.

Ich nahm an, er hätte sechs aufflackernde Signale entdeckt, die wie Sterne an einem unzusammenhängenden Himmel nur wenige Sekunden lang blinkten, bevor sie wieder im Schwarz verschwanden; sechs Botschaften von den Telefonen der sechs entführten Mädchen. Ich lag falsch.

»Sobald er sie deaktiviert hat, bleiben sie deaktiviert.«

»Aber wie nimmt er die Fotos auf? Er muss die Telefone doch einschalten, um die Fotos aufzunehmen, oder?«

»Ergänzen wir sein Profil: Kenntnisse über Telekommunikation, Computerhardware und Fotografie. Er muss die SIM-Karten entfernen und sie in ein selbst gebasteltes Gerät einlegen, das es ihm ermöglicht, ein Foto – zweifellos von einer Festplatte – auszuschneiden und in die kleine Plastikwelt der Karte einzufügen.«

»Kosten? Läden, wo man solche Hardware kaufen kann?«

»Irrelevant. Es geht um die Kenntnisse, die sind deine erste Spur.«

»Die erste? Es gibt noch eine?«

»Sein Aufenthaltsort.«

So sind Geeks nun mal. Sie können nicht einfach sagen: »He, weißt du was? Ich hab gerade herausgefunden, wo der Täter ist.« Sie müssen einen darauf hinführen, als wäre es die Lösung eines mathematischen Rätsels. Ich blieb ruhig und nahm davon Abstand, ihn anzubrüllen, was bloß zu noch mehr Verzögerungen geführt hätte.

»Aha. Der Aufenthaltsort«, sagte ich, als bestellte ich eine Pizza.

»Ausstrahlungen. Fragmente. Erscheinungen. Vage Flimmerbilder. Die örtliche Polizei wird sie nicht aufgeschnappt haben. Sie sind wie Schimären, Geister. Vielleicht können wir sie als Doppelgänger bezeichnen.« Er kicherte. »Hast du gewusst, dass Abraham Lincoln seinen eigenen Doppelgänger gesehen hat? John Donne auch: der Dichter, der Lebemann, der die Hälfte seines Lebens mit ausschweifendem Verkehr und die andere mit reuiger Buße verbrachte.«

»Isosceles!«, entfuhr es mir ungeduldig, da ich wusste, dass er kurz davor stand, »Erstürme mein Herz, dreifaltiger Gott« vollständig aufzusagen.

»Ja. Entschuldigung. Ich schweife ab. Sie sind vorhanden. Nicht alle, nicht alle sechs, aber genug von ihnen. Doppelgänger-Ausstrahlungen, direkt von den Mobiltelefonen der Mädchen. Vier, um genau zu sein. Die anderen zwei müssen sich wohl in den Weiten des sich ausbreitenden Universums verflüchtigt haben. Und sie gehen von den folgenden Koordinaten aus.«

Als er sie nannte, schrieb ich sie mit einer Hand mit und gab sie mit der anderen in Google Earth ein.

»Ich habe in Google Earth nachgesehen«, verkündete er, bevor ich auch nur zur Hälfte gekommen war. »Darian, unser Mörder scheint in einer Luxusanlage auf North Shore zu weilen.«

Tief ins Fleisch
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