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Mittagsfinsternis

Syd Barrett litt unter einer psychischen Störung, die möglicherweise dadurch ausgelöst wurde, dass er zu viel LSD einwarf. Teilweise zeigt es sich in seiner Musik. Mein persönliches Lieblingsalbum von Pink Floyd ist Dark Side of the Moon. Mein Dad hat es mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt. Zu dem Zeitpunkt war er bereits von zu Hause weg und nach Thailand geflüchtet. Nach seinem Aufbruch von mir, unserem Zuhause und meiner Mutter habe ich ihn nie wiedergesehen. Das Album kam per Post. Auf dem Cover klebte eine gelbe Haftnotiz. »Alles Gute zum Geburtstag, Junge«. Mehr stand nicht darauf.

Auch Harold Shipman litt unter einer psychischen Störung. Er war der englische Arzt, der klammheimlich über 250 seiner betagten Patienten tötete. Niemand weiß, warum. Aus dem psychologischen Bericht über ihn geht hervor, dass er ein Kontrollfreak war, Depressionen und größenwahnsinnige Gedanken hatte und sich zu sehr auf Schmerzmittel verließ. Was unterschied Harold Shipman von Syd Barrett? Wer weiß.

War Winston Promise verrückt gewesen? Er war in der Lage gewesen, einer geregelten Arbeit nachzugehen, wenn er wollte, war den Menschen in der Straße, wo er gewohnt hatte, als normal erschienen und hatte regelmäßig eine Psychologin besucht, um mit ihr über seine Probleme zu sprechen. Ihr war nie aufgefallen, dass er ein Monster war, dass ihr Patient ihre junge Rezeptionistin entführt und ermordet hatte.

Derzeit ist sie auf Urlaub.

Die Entdeckung eines Massengrabs ist immer eine große Sensation. Helikopter kreisen am Himmel, während Spurensicherungs- und Bergungsteams sorgfältig Promises Beerdigungsstätte ausheben. Bislang hat man den Suchradius eher eng gehalten, sich auf die Höhle und deren unmittelbares Umfeld beschränkt. Sollte er ausgeweitet werden, würde man den erst unlängst verscharrten Leichnam eines jungen vierundzwanzigjährigen Mannes entdecken. Die Kugel, die ihn getötet hat, wird man jedoch nicht finden. Sie hat ihn glatt durchschlagen.

Unsere Fingerabdrucksuche hat seine Identität nie offenbart. Das hat er getan. Ohne seine Entschlossenheit, anzugeben, indem er die Fotos der Mädchen mit ihren Telefonen aufnahm, um sowohl Angst als auch Bewunderung zu verbreiten, hätten wir ihn vielleicht nie gefunden.

Die Familien der Mädchen haben mich nacheinander aufgesucht.

»Ist es vorbei?«, fragten sie mich.

»Ja«, antwortete ich.

Sie warten immer noch darauf, dass der quälend langsame Prozess der Identifizierung in die Gänge kommt. Und sie müssen die Zeitungsberichte und die morbide Faszination von Promises Kette ertragen. Die blindwütigen Entführungen und Morde durch Promise haben Narben hinterlassen, die sich weitläufig und tief durch das Gebiet ziehen.

Ich fuhr Maria nach Hause, und sie verließ mich ohne ein Wort. Seither habe ich sie weder gesehen noch mit ihr gesprochen. Aber am nächsten Tag machte sie Fat Adam und die Cops auf ein Haus in der Park Street aufmerksam. Nummer 36. Laut Zeitungsberichten war Maria an dem Haus vorbeigefahren. Dabei war ihr aufgefallen, dass sich davor ein Haufen Zeitungen stapelte und sämtliche Jalousien geschlossen waren. Dem sechsten Sinn einer Polizistin folgend war sie ausgestiegen und hatte sich bei den Nachbarn erkundigt, die sagten, der junge Mann, der dort wohnte, wäre seit Tagen nicht mehr gesehen worden. Einer erwähnte außerdem etwas von einem merkwürdigen Geruch, der aus dem Haus drang. Mittlerweile argwöhnisch sah sich Maria die Sache näher an und stellte fest, dass die Vordertür aufgetreten worden war. Sie rief ins Haus, erhielt jedoch keine Antwort. In der Überzeugung, dass die Situation ein umgehendes Handeln ihrerseits erforderte, betrat sie das Gebäude.

Später, nachdem die Spurensicherungsteams und Sondereinsatztruppen durch Promises Haus ausgeschwärmt waren, meinten die Nachbarn einhellig, der junge Mann hätte so normal gewirkt.

Maria wurde für ihre hervorragende Polizeiarbeit befördert, die zum fehlenden Teil in dem Puzzle geführt hatte. Danny Jim Promises Gesicht ziert die Liste der meistgesuchten Verbrecher, und man hat eine Belohnung für seine Ergreifung ausgesetzt. Er wollte berühmt und berüchtigt sein. Das hat er bekommen. Es war mir eine Freude, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.

Casey lädt mich immer noch regelmäßig zum Essen ein. Ich lehne immer noch regelmäßig ab.

Noch ist die Ruhe nicht in die Gemeinde zurückgekehrt. Momentan trifft eher das Gegenteil zu, aber das geht vorbei. Im Verlauf der Zeit, wenn keine Mädchen mehr verschwinden, werden Promise und der von ihm verbreitete Schrecken verblassen.

Fat Adam hat noch versucht, mir zuzusetzen.

Ich fügte mich dem Haftbefehl. Zwei Uniformierte geleiteten mich zum Revier, wo mir mehrfacher Widerstand gegen die Verhaftung, Angriff auf zwei Polizeibeamte und ein paar Hundert weitere Dinge zur Last gelegt wurden.

Ich verriet Adam, dass ich über seine sexuellen Eskapaden mit Izzie Bescheid wusste. Und erkundigte mich, wie sehr er mich wirklich bestrafen wollte. Für gewöhnlich halte ich nichts von Erpressung, aber wenn sie dabei hilft, ein Ärgernis zu beseitigen, warum nicht? Er zog sämtliche Anklagepunkte zurück. Der Überlebensinstinkt steht immer an erster Stelle und setzt sich durch. Adam wünschte mir alles Gute und begleitete mich aus dem Revier. Wir trennten uns wie Kumpels voneinander, die sich darauf freuen, demnächst miteinander ein Bier zu kippen.

Tage später stehe ich auf dem Felshang von Granite Bay im Nationalpark. Noosa Heads zu meiner Linken, Sunshine Beach zu meiner Rechten. Ich bin allein. Ich war zur Waffe zurückgekehrt, und nun war es an der Zeit, sie wieder ins Meer zu werfen. Casey wird mir das nicht verzeihen, aber ich habe vor, zu lügen und zu behaupten, ich hätte die 92 mit dem Respekt behandelt, den sie verdient.

Ich schaue zur Sonne auf. Heute wird es eine Sonnenfinsternis geben. Genau zu Mittag. Die Strände strotzen vor Touristen und Einheimischen, die alle auf den Moment warten, in dem sich der Mond vor die Sonne schiebt. Es wird eine totale Finsternis. Einige Atemzüge lang wird das gesamte Sonnenlicht blockiert.

Ich denke über meine Vergangenheit nach, über das Leben, das ich hinter mir gelassen habe, das Leben, das einer endlosen Reise mit Mord, Ermittlungen und Verhaftungen glich. Geprägt von Tod. Geprägt von Mördern. Geprägt von quälenden Albträumen, dem Tosen der vereinten Schreie der Opfer, die nach mir riefen, wenn ich schlief.

Ich höre die Schreie von Promises Opfern nicht mehr. Jetzt schlafe ich wieder friedlich. Ich habe keine Albträume mehr – Albträume, die mich heimgesucht haben, die ich nicht zurückdrängen konnte, die mich gezwungen haben, ihn zu finden und zu töten. Die Schreie der Opfer sind verstummt.

Ich denke an Rose, die sich früher Angie genannt hat. Eine Zeit lang hatte ich mir Glück durch sie und mit ihr ausgemalt. Ich habe nicht versucht, Kontakt mit Rose aufzunehmen. Werde ich auch nicht tun. Ich kann sie nicht um Vergebung bitten. Das wäre zu grausam. Ebenso wenig kann ich sie um Verständnis bitten. Das wäre zu selbstsüchtig.

Mit der Pistole in der Hand blicke ich aufs Meer hinunter. Wieder schaue ich zum Himmel auf. Die Sonnenfinsternis beginnt gerade. Ich höre die fernen Geräusche der Scharen von Schaulustigen, die sich an den Stränden eingefunden haben. Ich stelle mir all die Mütter, Väter und kleinen Kinder vor, die innehalten, um zum Himmel aufzuschauen und zur Sonnenfinsternis zu deuten. Ein Ereignis, an das sich die Kinder für immer erinnern werden. Ich höre verzückte Laute.

Der Himmel verwandelt sich in fahles Silber. Eine Sonnenfinsternis beschert nicht wirklich Dunkelheit, sondern ein unheimliches, unwirklich und jenseitig anmutendes Licht.

Die Vögel hören zu zwitschern auf. Stille breitet sich über die Menschenmengen aus. Alles ist ruhig, als der Mond langsam vor der Sonne vorbeizieht. Ich stelle mir eine vollkommene, totale Finsternis vor, aber sie bleibt aus.

Ich denke an Dark Side of the Moon zurück. Syd Barrett gehört nicht mehr zu der Band, die er gegründet hat, als jenes Album entstand. Er war verrückt geworden. Es war das beste Album der Gruppe. Darauf kommen Texte vor, die von der Welt erzählen, in der wir leben, und von allem, was sie beinhaltet, von allem, was unter der Sonne blüht und gedeiht, aber auch davon, dass die Sonne immer wieder vom Mond verfinstert werden wird.

Ich umklammere die Pistole mit festem Griff. Unter mir tost die Brandung gegen die Felsen.

Mein Blick wandert zurück zur Sonne, als der Mond beginnt, von ihr abzurücken und eine gleißende Lichtsichel an sich vorbeilässt. Ich stecke mir die Pistole unter den Gürtel. Dort fühlt sie sich angenehm an.

Dann drehe ich mich um und gehe davon.

Tief ins Fleisch
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