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Der Tunnel (ii)
Mir wurde in den Kopf geschossen, als ich hinter einem Täter herjagte, der offenbar dachte, ich sei schneller als er, und wusste, dass er geschnappt werden würde. Er blieb einfach stehen und drehte sich zu mir um. Oh Scheiße, dachte ich und wusste haargenau, was als Nächstes folgen würde: eine Kugel. Einen anderen Grund für sein plötzliches Anhalten gab es nicht. Ich duckte mich und wurde seitlich in den Kopf getroffen. Mit dem Gesicht voraus fiel ich, schwer und schmerzhaft. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nichts sehen. Das war’s, dachte ich. Tot wegen eines x-beliebigen Diebs, über den ich gestolpert war, während ich vom Supermarkt nach Hause spazierte. Wie ein Sack voll nassem Karton lag ich, der ich meine Pistole im Büro gelassen hatte, in einer nassen Gasse und blutete aus. Die Schritte des Schützen wurden leiser und leiser. In jenem halb bewussten Moment beschloss ich, dass ich, falls ich überleben sollte, wonach es zu dem Zeitpunkt nicht aussah, aufhören würde, diese Arbeit zu verrichten. Die Bezahlung war scheiße, die Kunden waren scheiße, die Arbeitszeiten waren scheiße, und zu allem Überfluss wurde auch noch auf einen geschossen. Es spielte keine Rolle, dass ich gut in meinem Job war – der Job schien nicht gut für mich zu sein.
»Ich kündige«, sagte ich einige Zeit später zum Polizeichef.
»Ich weiß«, erwiderte er. »Kein Cop bleibt nach einem Schuss in den Kopf ein Cop, es sei denn, der intelligente Teil des Gehirns ist zerstört worden.«
Danach packte ich meinen Krempel zusammen und verließ Melbourne für immer. Ich hörte auf, ein Bulle zu sein, verließ das Morddezernat, verließ den siebten Stock, fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten, durchquerte das Foyer und ging zur Tür hinaus. Als Mordermittler hat man drei Möglichkeiten: Man geht mit einer Abschiedsparty und alten Geschichten in Rente, brennt verbittert in Schimpf und Schande aus oder verschwindet. Ich entschied mich für Letzteres. Ich brauchte die Albträume ebenso wenig wie die erdrückende Abscheu vor mir selbst, die mich jeden Morgen umfing und die mir den Gerechtigkeitssinn nach und nach aussaugte.
Das Elend dieser Albträume hatte ich schon davor durchlitten, eine Kakofonie der Schreie meiner Opfer in einem feuchten, endlosen Tunnel verheerter Körper und Augen, so vieler Augen, die mich anstarrten, deren Blicke mich verfolgten, wenn ich hilflos den Tunnel entlangrannte, der kein Ende hatte. Damals hätte ich fast den Verstand verloren, vielleicht hatte ich das sogar. Der Knall eines Schusses und eine Kugel in meinem Kopf streckten mich nieder, ließen meine Welt zu einer sicheren, stillen Leere zusammenfallen, in der in jeder Richtung nur Schwärze herrschte.
Als ich in einem Krankenhauszimmer mit Vasen voll welken Blumen und verblassten Genesungskarten auf dem Nachttisch aus der Leere zurückkehrte, waren die Albträume verschwunden.
Ich verließ Melbourne in meinem Studebaker Champion Coupé mit etwas Kleidung, meinen CDs und einem Karton voll Büchern. Meine Träume und Ambitionen ließ ich hinter mir zurück, meine strahlende Karriere, meinen Ruf als guter Mordermittler und als der Mann, der dafür sorgte, dass schuldige Verbrecher, denen es gelang, vor Gericht davonzukommen, im Leben nicht davonkamen. Sie verschwanden im ersten Licht der Morgendämmerung vor dem Pizzaladen, aus dem Puff am Bahnhof oder aus dem Café am Hafen, als hätte sich ein Racheengel auf sie herabgestürzt, um seine Gerechtigkeit zu verbreiten und die Achse der Welt wieder in Harmonie zu rücken.
All das ließ ich hinter mir. Der Hume Highway führte mich durch die Trostlosigkeit des nördlichen Victoria, vorbei an Eukalypten und rotem Staub, eine Schnellstraße, die sich erbarmungslos und teilnahmslos vor sich hin erstreckte, während sich die Reise in tote Stunden ausdehnte, in eine Decke tauber Zeit in einer einsamen Gegend. Darauf folgten die westlichen Vororte von Sydney, aufgegebene Fabriken, Spielplätze und Häuser, die alle gleich aussahen, junge Männer mit ausdruckslosen Augen in ihren glänzenden Autos. Dann kamen die Schornsteine von Newcastle, wo auf der Hauptstraße Stille herrschte, wo die Kinos längst geschlossen waren, wo sich Geschäfte mit Brettern vernagelt präsentierten, wo die Bergbaufamilien pleite, verschwunden, tot waren. Darauf wiederum folgte ein endloser Abschnitt der Schnellstraße, auf dem ich knisternde Radiowellen aus dem fernen Tasmanien empfing, kurz und unzusammenhängend wie Stimmen Fremder von einem anderen Planeten; pechschwarze Nächte und eine Landschaft ohne jede Form von Leben.
Ich ließ hinter mir, was mein Arzt als Angstattacken bezeichnete, das Zähneknirschen, das Gefühl, beobachtet zu werden, das schwarze Tuch, das sich über mich ausbreitete, wenn ich erwachte, und das Wissen, dass es, ganz gleich, was ich täte, wie lange ich lebte oder wie hart ich arbeitete, nie verschwinden würde. Es würde immer jene letzten, grauenvollen Momente geben, in denen die Opfer – Stunden, Tage, vielleicht sogar Wochen, bevor man sie fand, und immer Frauen oder Mädchen – in die Augen des Mörders blickten und darin die Bestätigung des Bösen sahen, das Entweichen der Hoffnung, die verzweifelte Traurigkeit weit entfernter Angehöriger. Es würde nie aufhören, aber jene schreckliche Last, die mich oft an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, von wo mich nur Alkohol, Sex oder die Klänge von Musik zurückhalten konnten, hatte begonnen, sich zu verflüchtigen.
Landschaft und Kilometer zogen an mir vorbei. Mein neues Leben kam näher, je weiter ich nach Norden fuhr. Die Bürden und die Albträume verließen mich. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal die Lektionen, die ich gelernt hatte, an eine junge Frau weitergeben müsste, meine »Partnerin«, die sich auf derselben Reise zu befinden schien, die ich hinter mir hatte.