24

Oh holder Retter, hab Dank, hab tausendfach Dank

Ich stand vor dem Krankenhaus. Henna befand sich in der Obhut der Ärzte. Sie hatte aufgehört zu weinen. Ich hatte sie an das Mantra erinnert. Was gar nicht notwendig gewesen wäre. Ungeachtet der Dämonen hatte sich der Überlebensinstinkt in die vorderste Reihe gedrängt. Zwei wütend wirkende Polizisten waren eingetroffen, um Hennas Aussage aufzunehmen, sobald die Ärzte es gestatteten. Sie würden gar nichts kriegen. Die beiden gingen um mich herum, achteten darauf, mir nicht zu nahe zu kommen.

Ein Auto rollte heran und hielt auf einem Behindertenparkplatz. Cliff sprang heraus und rannte auf mich zu.

»Oh danke, vielen Dank, danke«, stieß er hervor.

Am liebsten hätte ich ihn geschlagen und ihm richtig wehgetan, aber ich behielt mich im Griff. »Sie hätten fast das Leben Ihrer Tochter zerstört, Sie Idiot.«

Ich packte ihn und rammte ihn gegen die Mauer des Gebäudes. »Am Straßenrand liegt ein junger Mann. Tot. Erschossen. Das ist Ihre Schuld. Sie haben ihn umgebracht. Sie haben ein Leben auf dem Gewissen. Sie haben ihr die Pistole in die Hand gedrückt. Sie haben die Kugel abgefeuert. Henna ist fünfzehn, um Gottes willen.« Ich ließ ihn los und stieß ihn angewidert von mir.

»Es tut mir leid«, brabbelte er.

»Leisten Sie Wiedergutmachung«, forderte ich ihn auf. »Finden Sie heraus, wer er war, wer seine Freundin, seine Eltern, seine Saufkumpanen waren. Finden Sie alle. Jede und jeden Einzelnen. Sie, und nur Sie. Gehen Sie zu ihnen. Entschuldigen Sie sich. Tun Sie Buße. Und nicht nur einmal. Notieren Sie sich Tag und Uhrzeit seines Todes. Schreiben Sie sich die Daten in Ihren Kalender, damit Sie sich jedes Jahr daran erinnern.«

Er nickte.

»Und wenn Sie es nicht tun, statte ich Ihnen einen Besuch ab«, warnte ich und ging davon. Ich zitterte. Ich brauchte einen Drink. Allerdings trank ich ja nicht – nicht mehr. Ich rief Angie an.

»Darian?«

Ich erwiderte nichts. Ich konnte nicht. Sie hörte, wie ich schier endlos die Luft einsog.

»Ich bin gleich da«, sagte sie, und ich klappte mein Telefon zu und ging weiter.

Jeden Morgen gegen vier Uhr fuhr ein Junge namens Harold die Park Street hinab und trug Zeitungen aus. Harold sparte für ein iPhone, und seine Mutter, die es sich nicht leisten konnte, alleinerziehend war und kaum die Miete bezahlen konnte, hatte zu ihm gemeint, er solle sich besser einen Job suchen, auch wenn er erst dreizehn war. Für einen Dreizehnjährigen war das so ziemlich die einzige Arbeit, die zur Verfügung stand, und deshalb verrichtete Harold sie. Nach drei Monaten hatte er einen Rückwärtsschwung perfektioniert, bei dem er am jeweiligen Haus vorbeiradelte und in dem Moment, wenn er das nächste Gebäude erreichte, die zusammengerollte Ausgabe der Sunshine Coast Daily mit dem rechten Arm über die linke Schulter nach hinten warf. Gelegentlich vernahm er ein dumpfes Klatschen, was bedeutete, dass er zu kräftig geworfen und die eingerollte Zeitung das Haus getroffen hatte, statt auf dem Rasen zu landen, aber es beschwerte sich nie jemand. Immerhin war es vier Uhr morgens, und alle schliefen noch.

Harold mochte die Park Street; es war die einfachste Straße seiner Route. Was daran lag, dass jedes Haus die Zeitung bekam, nicht wie in der Duck Street, der schlimmsten Straße, wo er ständig vergaß, ob Nummer acht oder achtundzwanzig die Zeitung erhalten sollte, und Cliff, sein Boss, brüllte ihn regelmäßig an, denn bis Harold zum Zeitschriftenladen zurückkehrte, hatten die Leute bereits angerufen, um sich zu beschweren.

Harolds Zeitungstour dauerte drei Stunden.

Ich würde diesen verfickten Zeitungsjungen so gerne umbringen. Aber gelegentlich, meine Freunde, muss man sich mit extrem lästigen Wespen wie dem Zeitungsjungen abfinden, der jeden Tag an meinem Haus vorbeifährt. Wespen sind Leute, die einem dabei in die Quere kommen, Spaß zu haben. Eigentlich sollten sie alle getötet und entsorgt werden, aber das kann man nicht tun, denn sonst würde man Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ich habe zwei Wespen. Harold und meinen Nachbarn von nebenan. Sie unterbrechen mich. Aber ich stelle mich darauf ein.

Früher habe ich es geliebt-geliebt-geliebt, gegen vier Uhr morgens ins Zimmer der Mädchen zu schleichen. Nebenbei bemerkt: Macht euch keine Sorgen, falls euer Schlafrhythmus durcheinandergerät, wenn ihr ein Paket zu Hause habt; gebt euch dem Spaß hin, sage ich. Jedenfalls habe ich es geliebt, mich ins Zimmer zu schleichen und das Mädchen mit einem großen Schreck zu wecken, um jede Menge lustiger Dinge zu tun, aber mittendrin – nicht immer zwar, trotzdem oft genug, um mich verflucht wütend zu machen – höre ich gelegentlich dieses Klatschen an der Seite meines Hauses.

Lasst mich euch sagen: Als es das erste Mal passiert ist, da dachte ich, die Welt würde mit einem Erdbeben wie jenem in dem alten Film Krakatoa – Das größte Abenteuer des letzten Jahrhunderts explodieren. Aber als ich raus ins Vorzimmer rannte und durchs Fenster hinausspähte, sah ich nur diesen Teenager auf einem Fahrrad, der Zeitungen zustellte, als wäre er der verfickte Green Hornet oder so. Und am nächsten Tag hat es der Bursche wieder gemacht. Da, meine Freunde, wurde mir die Lektion klar. Finde dich mit Wespen ab. Durch eine Beschwerde würde ich auffallen. Oberste Regel des Handwerks? Normal sein. Das bedeutet: Nicht auffallen. Hallo, hätte ich gesagt, Ihr Zeitungsjunge ist wirklich lästig. Oh, hätte man erwidert, wie heißen Sie und wo wohnen Sie? Kapiert?

Das absolut Schlimmste an einer Wespe ist, dass man sich an deren Routine anpassen muss. Ich muss diesen kleinen Scheißer auf seinem verfickten Fahrrad jeden Morgen ertragen. Ich musste meine Gewohnheiten umstellen.

Eines Tages wird sich das ändern. Eines Tages werde ich ihn umbringen.

Für diejenigen von euch, die sich vielleicht fragen: Warum stornierst du die Zeitungszustellung nicht einfach, Winston? Die Antwort darauf lautet: Das kommt nicht infrage, Freunde.

Weil nämlich die Regionalzeitungen über meine Triumphe schreiben. So wächst die Legende. Würden die Regionalzeitungen nicht über die wachsende Zahl der Pakete schreiben, bekämen die Leute keine Angst. Sie müssen Angst haben, und sie müssen anfangen zu glauben, man sei Gott-Gott-Gott, denn wenn man letztlich stirbt und der Welt die Einzelheiten seines fantastischen Lebens preisgibt, dann wird man unsterblich.

Heute Morgen gehe ich nicht ins Zimmer der Mädchen. Ich bekomme allmählich genug von Helen. Manchmal passiert das schon früh, meine Brüder und Schwestern. Es passiert immer. Letzten Endes. Manchmal allerdings lässt das Paket einfach zu wünschen übrig, wie meine Mama sagen würde. Das ist, wie wenn man ein neues Spiel bekommt, es ein paar Mal spielt und es dann langweilig wird. So verhält es sich bei Helen und mir. Als wir unlängst nachts nach Hause gekommen sind, hab ich sie einfach wieder ans Bett gebunden. Ich wollte eigentlich gar nichts mit ihr anstellen, aber dann dachte ich mir, ich könnte sie ficken, was ich auch tat. Anschließend bin ich zu Bett gegangen und hab geschlafen wie ein Murmeltier.

Routine ist sehr wichtig, Freunde. Ich habe viele Routinen. Ich habe morgendliche und nachmittägliche Routinen und nächtliche Routinen mit den Paketen. Es ist allerdings auch wichtig, flexibel zu sein, zum Beispiel, wenn man es mit Wespen zu tun bekommt. Im Leitartikel der Zeitung von heute Morgen ging es nur um mich.

Ich liebe es, wenn es sich in der Zeitung um mich dreht.

Heute war es etwas Besonderes.

Gelobt seist du, sagte ich zu Gott, und dann sagte ich es noch einmal. Gelobt seist du.

Angie stupste mich. »Wach auf«, sagte sie. Ich konnte ihren herrlichen Körper riechen.

»Wie spät ist es? Denn es ist eindeutig noch zu früh«, gab ich zurück und streckte die Hand aus, um sie zu mir zu ziehen.

»Darian.«

Ich setzte mich auf. Sie hielt die aufgeschlagene Zeitung. Auf der Titelseite befand sich ein Artikel über den »Beinah-Zusammenstoß mit Mörder«, und neben einem Ergänzungsbericht mit der Überschrift »Experte für Serienmord: Ist er involviert?« prangte eine Nahaufnahme von mir, wie ich hinten im Krankenwagen saß. Keine Fotos von Henna, keine Fotos des toten Jungen, nur eine Weitwinkelaufnahme des Tatorts und eine Nahaufnahme von Darian Richards, »bekannt als Australiens führender Experte bei der Aufklärung der Verbrechen von Serienmördern«.

Ich hörte auf, Angies nackten Körper anzustarren, als sie sich auf meine Brust setzte und aus der Zeitung vorlas. Mein Verstand raste: Wohin würde das führen?

»›Eine Quelle bei der Polizei von Victoria meint, dass Richards, der vor einem Jahr aus heiterem Himmel gekündigt hat und nach Noosaville gezogen ist, unter allen Mordermittlern der absolut Beste sei, den es gibt.‹«

Ich bin der Beste. Bin ich wirklich. Der absolut Beste. Nur die Besten können versuchen, den Besten zu fangen. Willkommen und hab Dank, hab tausendfach Dank. Du kannst mich zwar nicht fangen, aber ich kann dir zeigen, wie fantastisch ich wirklich bin. Du wirst es verstehen. Du wirst es zu schätzen wissen. Freunde, jetzt haben wir ein Publikum.

 

 

Tief ins Fleisch
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