51
Juanita und Jim
Man kann es tausendmal tun, trotzdem wird man nie bereit dafür sein. Ich stand da, starrte auf die Eingangstür und zögerte, bevor ich klopfte. Anschließend trat ich einen Schritt zurück und holte tief Luft. Ich konnte Schritte hören, die sich näherten, und die Tür öffnete sich. Juanita, Briannas Mutter, starrte mich an. Sie war die Kluge, diejenige, die an dem Morgen, als sie mich zur Rede stellten, gewusst hatte, dass ich sie belog.
Der Ausdruck in meinem Gesicht verriet ihr alles. Ihre Schultern sackten herab, und sie kämpfte die Tränen zurück.
»Ich wollte nur herkommen und Sie persönlich sehen«, sagte ich.
Sie wich beiseite, um mich hineinzulassen. Ich dachte daran, die Schuhe auszuziehen, die ich an der Vordertür ließ, bevor ich in Socken das Haus betrat.
»Ich hole Jim«, flüsterte sie und zeigte auf eine Couch. »Möchten Sie …«
»Ja. Ich warte einfach. Holen Sie Jim.«
Juanita ging davon und rief: »Jim!«
Das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht. Wenn man Leute unter sich hat, delegiert man die Aufgabe, die Eltern zu informieren. Man tut es fair und verteilt die Last gleichmäßig. Wenn es besonders schlimm war, tat ich es früher trotz allem selbst. Immerhin verkörperte ich damals den Boss. Ich glaube an Verantwortungsbewusstsein. Man soll nie von jemandem etwas verlangen, das man selbst nicht tun würde.
»Jim!«, hörte ich von weiter weg.
Im Notfalldienst wird einem beigebracht, wie man die Nachricht von einem Todesfall überbringt. Man sagt nicht »von uns gegangen«, weil man gefragt werden könnte: »Wohin?« Oder: »Sie ist nicht mehr bei uns.« Denn darauf könnte die Frage kommen: »In welches Krankenhaus geschickt?« Oder auch nur: »Es tut mir leid«, weil man darauf zu hören bekommen kann: »Wieso?«
Juanita und Jim kamen Hand in Hand herein. Juanitas trauervolle Reaktion hatte nicht auf Jim abgefärbt.
»Hallo, Mr Richards«, begrüßte er mich.
»Hallo, Jim.« Ich sah die beiden an. »Ich bin nicht in offizieller Eigenschaft hier. Aber ich habe heute eine Leiche gefunden. Brianna. Sie ist tot. Es tut mir sehr leid.«
Jim brach auf der Couch zusammen und begann, zu schluchzen. Juanita blieb stehen und kämpfte nach wie vor mit den Tränen. Sie hatte es von Anfang an gewusst.
»Woher wissen Sie, dass sie es ist?«, fragte sie.
Jeder reagiert auf tragische Neuigkeiten auf seine eigene, einzigartige Weise. Sie zeigte sich klinisch. Ihr Zusammenbruch würde später folgen, wenn ich weg wäre.
»Als sie acht Jahre alt war, wurde sie von einer Glasscherbe getroffen. Die hat sie seitlich am Kopf über dem linken Ohr erwischt. Ein richtig tiefer Schnitt. Dreiundsechzig Stiche, richtig?« Davon war ihr eine Narbe geblieben, die ihr peinlich gewesen war. Sie hatte nur ihren engsten Freundinnen davon erzählt, zu denen Henna gehörte, die es wiederum mir erzählt hatte.
Juanita nickte.
»Ich habe sie anhand dieses Schnitts und dem davon zurückgebliebenen Narbengewebe identifiziert.«
»Warum teilt uns das nicht die Polizei mit? Warum Sie?«, wollte sie wissen.
»Das kommt noch. Letzten Endes. Aber zuerst wird die Polizei eine Menge Untersuchungen vornehmen. Die Presse wird ausgiebig darüber berichten. Die Polizei denkt nicht an die Hölle, die das für Sie bedeutet. Das Warten. Die Ungewissheit. Ich wollte, dass Sie es sofort erfahren.«
Juanita nickte, als wolle sie sich damit bedanken. Dann setzte sie sich neben Jim und umarmte ihn. Er schien nicht mehr zu wissen, dass ich mich im Raum befand.
Ich zögerte, war nicht sicher, ob ich sie einfach allein lassen oder ihnen auch den Rest erzählen sollte, den sie noch hören würden, wenn schon nicht formell, dann durch die Gerüchteküche der Boulevardpresse. Bei Fat Adams Armee konnte man sich getrost darauf verlassen, dass sie die grausigen Details verschweigen würde.
Juanita wusste, dass ich etwas zurückhielt.
»Was noch?«, fragte sie.
»Nichts«, erwiderte ich.
Sie wusste, dass ich log.
»Noch mal, es tut mir sehr leid wegen Ihres Verlusts. Ich gehe jetzt.«
Damit wandte ich mich ab und steuerte auf die Vordertür zu. Sie stand von der Couch auf und begleitete mich hinaus, schloss die Tür, als wir uns auf dem Balkon befanden.
»Soll ich bei der Polizei anrufen?«
»Nein. Wie schon gesagt, ich bin in dieser Sache nicht offiziell hier. Man würde es weder bestätigen noch leugnen. Und Sie würden höchstens wütend werden.«
»Was haben Sie uns nicht gesagt? Drinnen, gerade eben. Was?«
»Dass sie sehr schnell gestorben ist und nicht gelitten hat«, log ich.
»Das ist alles? Das wollten Sie uns drinnen nicht sagen?«
»Nein, aber daran sollen Sie sich erinnern.«
Sie begegnete meinem Blick.
»Glauben Sie an Gott?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Er hat sie in dem Moment zu sich geholt, als sie gestorben ist. Erinnern Sie sich daran.«