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Angie
Ich hörte erst Schritte auf dem Holzboden, dann eine leise Stimme. Angelique. Dienstags um acht, jede Woche. Angie, die Frau, die ich insgeheim liebte.
Es war dunkel. Ich hatte sieben Stunden geschlafen, viel zu lange. Ich war wütend auf mich, weil ich verschlafen hatte und weil ich nicht daran gedacht hatte.
Ich werde nicht einsam. Einsamkeit ist vielmehr eine Freundin. Sie und ich sitzen zufrieden am Fluss. Aber ich brauche die Berührung und Umarmung eines Frauenkörpers. Ich bin nie verheiratet und viele Male ein katastrophaler Freund gewesen. Pünktlich oder auch nur überhaupt verlässlich aufzukreuzen, hatte sich ein ums andere Mal als unmöglich erwiesen. Beim Morddezernat war ich selbst an meinen freien Tagen – die ich mir nie freinahm – immer bei der Arbeit. Frauen bei der Polizei wie Carita und Rhonda mochten entweder meine Intensität oder vielleicht bloß mich nicht. Höchstwahrscheinlich spürten sie das völlige Fehlen der Möglichkeit von Hingabe meinerseits.
Als ich zum ersten Mal eine Frau dafür anheuerte, mit mir zu schlafen, war ich nervöser als je zuvor in meinem Leben. Da war die Sache mit dem Ausverhandeln: Für wie lange wollte ich sie? Wollte ich sie besuchen, oder sollte sie zu mir kommen? Erwartete ich GFE (Girlfriend Experience – die gespielte Freundin) oder PSE (Pornstar Experience – der gespielte Pornostar)? Begriffe, die ich noch nie gehört hatte. Aber nachdem ich diese Welt der Verhandlungen unbeschadet überstanden hatte, legte ich mich zurück und schloss die Augen, als sie über mich kam, und ich verspürte eine fesselnde Vollständigkeit.
Von da an – und das war vor vielen Jahren – fand ich Trost und Zuflucht in der Gesellschaft von Prostituierten. Etwa einen Monat nach meiner Ankunft in Noosaville suchte ich diesen Trost und diese Zuflucht erneut. Das war nichts, was speziell Bullen taten. Es war etwas, das speziell ich tat.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Prostituierte zu finden. Man kann ein Bordell aufsuchen, was ich nie getan habe – die Vorstellung, einem Gangster oder einem Kollegen über den Weg zu laufen, verdränge ich lieber, und im Großen und Ganzen hasse ich Menschen; dieser Deal, der Deal mit Sex, würde nur in der Dunkelheit meiner eigenen vier Wände stattfinden. Man findet Prostituierte auch, indem man online sucht oder Inserate in den Kleinanzeigen liest, in denen die Schlagworte »Escort« oder »private Dienstleistungen« aufscheinen.
Solchen Inseraten haftet ein Gefühl von Verzweiflung an: »willig«, »neu in der Stadt«, »Pornostar-Körper«, »unvergesslich«, »aufgeschlossen«, »alles Natur«. Es ist ein skrupelloses Spiel, in dem die Worte als Tarnung dienen. Ich starrte damals zwei Stunden lang auf die Seite der Zeitung, las jedes Inserat mehrfach durch, kam jedoch immer wieder zurück auf die folgende schlichte Anzeige: »Angie. Neunzehn. Süß.«
»Darian, bist du hier?«, fragte sie.
»Ja, tut mir leid, ich hab geschlafen. Warte«, sagte ich, als ich wie ein Betrunkener aus dem Bett stieg, noch halb verschlafen, wachgerüttelt von den Geräuschen eines Eindringens in mein Haus, so harmlos es auch sein mochte.
Ich schleppte mich ins Wohnzimmer. Sie hatte sich ein Glas Sancerre eingeschenkt. Ich selbst trinke nicht mehr, aber ich bewahre eine kalte Reserve im Kühlschrank für sie auf, wenn sie jeden Dienstag bis Mittwoch von acht bis acht hier ist. Wir sitzen dann am Ende des Stegs, wir reden, wir haben Sex, wir liegen einander nackt in den Armen, Stunde um Stunde, fest aneinandergeschmiegt, und wir reden noch mehr. Sie studiert an der Uni und erzählt mir, über welchen Philosophen sie gerade etwas liest oder – mein Lieblingsthema – welchen Abschnitt der afrikanischen Kolonialgeschichte sie gerade lernt. Oft stellt sie mir Fragen über meine Vergangenheit, aber keine düsteren Fragen, die zu Bildern des Grauens führen könnten. Ich zensiere meine Geschichten und erzähle sie so, als wären sie Märchen.
Ihr richtiger Name ist Rose, aber das hat sie mir noch nicht verraten. Sie wohnt zusammen mit zwei anderen Mädchen in der Nähe des Campus der University of the Sunshine Coast, aber auch das hat sie mir nicht verraten. Ebenso wenig wie ihr richtiges Alter, das siebenundzwanzig lautet. Sie hat keinen Freund. Ich glaube, sie lügt, wenn sie das zu mir sagt.
»Hi«, begrüßte ich sie. Angie starrte an meine Wand, die einem Schaubild einer gewaltigen Verbrecherjagd glich. Das war eigentlich nichts, was sie sehen sollte. Ich hatte vergessen, dass Dienstag war. Hätte ich daran gedacht, hätte ich ihren Besuch storniert.
»Großer Gott, du bist aus dem Ruhestand zurück.« Sie stellte ihr Glas ab und hielt mich fest. »Geht’s dir gut?«, fragte sie. Angie wusste mehr über mich als jeder andere Mensch.
»Alles bestens. Ich musste nur …« Ich ließ den Satz im Raum stehen, ohne ihn zu beenden.
»Wow«, flüsterte sie bei sich. Ich folgte ihrem Blick. Richtig, wow. Sie starrte auf die Beretta.
»Es ist eine 92. Sehr selten. Es wurden nur …«
»… fünftausend davon hergestellt, ich weiß. Eine davon liegt auf dem Meeresgrund.« Immer noch hielt sie mich fest. Sie küsste mich; ein Kuss, der in Wirklichkeit eine Umarmung, Unterstützung, Bestätigung war. Aber mir entging nicht, dass sie zittrig wirkte. Ihr Blick zuckte durch den Raum, von der Pistole zur Wand, weiter zum neuen Computer und zu den Metallkästen daneben.
Doch er kehrte immer wieder zur Pistole zurück. Es ist eine Sache, zu wissen, was ein Mensch einst getan hat; eine völlig andere jedoch, zu wissen, was derselbe Mensch tun könnte.
»Soll ich lieber gehen?«, fragte sie. Normalerweise würden wir zu diesem Zeitpunkt den Steg hinabschlendern, und sie würde mich mit Geschichten von Cicero erfreuen oder mich mit Fragen unterhalten wie: »Ist das zu glauben, wie oft Kurt Vonnegut in Schlachthof 5 ›so geht das‹ geschrieben hat?«
Nein, dachte ich. »Ja«, antwortete ich. In Wirklichkeit wollte ich sie, ich wollte ihre Gesellschaft und das Gefühl ihres weichen, warmen Körpers an meinem. Ich wollte sie in den Armen halten, ihr Geschichten erzählen und ihr umgekehrt zuhören. In dem Jahr voller gemeinsamer Dienstage hatte ich mich hoffnungslos in sie verliebt. Sie war wunderschön, sie war komisch, und sie ließ mich immer wieder wissen, wie dämlich ich war, indem sie neckte, stocherte, scherzte, lachte, mich festhielt. Die Herausforderung ihres brillanten Geistes und atemberaubenden Körpers schob mich konstant in ein Leben des Lichts.
Jede Woche bezahlte ich für die zwölf Stunden, und sie nahm mein Geld. Ich gab ihr willkürliche Beträge, was immer ich in der Brieftasche hatte; es entsprach immer dem Doppelten, vielleicht auch dem Dreifachen des einst vereinbarten Tarifs, von dem wir längst abgekommen waren. Mehrere Male ging sie, während ich schlief, schlich sich aus meinem Bett – Examen, für die sie lernen musste, überfällige Hausaufgaben.
Sie betrachtete weiter die Wand, die Gesichter der sechs Mädchen.
»Das ist schrecklich«, sagte sie.
Ich setzte mich an den Computer und rief meine E-Mails ab. Sie ergriff ihr Weinglas. Ich hatte siebenundfünfzig ungelesene Nachrichten, alle von Isosceles.
Ich stand auf, umarmte sie von hinten, küsste sie zärtlich in den Nacken. »Ich muss arbeiten.«
»Ich komme nächsten Dienstag wieder, in Ordnung? Du kannst mir ja sagen, dass ich gehen soll, aber ich schaue einfach vorbei. Okay?«
»Ja, klingt gut.«
Sie trank ihren Wein aus, spülte das Glas ab und ging.