49

Neebs Waterhole

»Herrgott noch mal, würdet ihr zwei wohl die Klappe halten?«, sagte Arch, als er das Boot flussabwärts steuerte. Nachdem mir klar geworden war, dass mein zweiter Schuss nicht erfolgen würde, hatte ich keine andere Wahl gehabt, als mit anzusehen, wie das Auto des Mörders davonfuhr, ein Schatten in der Nacht. Archs Boot hatte auf der anderen Seite des Flusses zu mir herumgeschwenkt, mir mit dem Licht direkt in die Augen geleuchtet, und ich hatte gehört: »Du verdammter Idiot!« Von Maria.

Das war vor fünf Minuten. Sie hatten den Fluss überquert und mir über die Seite des Bootes hineingeholfen. Mittlerweile befanden wir uns auf dem Rückweg zu Archs Anlegestelle, wo Casey auf uns wartete.

»Ich geh zurück ins Bett. Weckt mich, falls ihr mich braucht«, lautete Archs erster Kommentar, auf den eine Rüge folgte, als wir nicht aufhörten, darüber zu zanken, dass ich auf den Mörder geschossen hatte.

»Ich kann einfach nicht fassen, wie dämlich du bist«, warf mir Maria an den Kopf.

»Halt die Klappe«, gab ich zurück.

»Gib mir die Pistole«, erwiderte sie.

»Auf keinen Fall«, entgegnete ich bestimmt.

»Ich stecke so schon tief in der Scheiße. Adam weiß, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin, und wenn er etwas von Schüssen am Fluss erfährt …«

»Pah, ich erzähle einfach jedem, wir haben bloß ein paar alte Raketen abgefeuert«, warf Arch im Brustton der Überzeugung ein. Er war übrigens der Mann, der die Handgranate im Büro des Bürgermeisters gezündet hatte. Arch besaß ein sehr gebieterisches Auftreten.

»Schmollst du da drüben, Schwester?« fragte er.

»Nein«, murmelte Maria.

»Also, wie sieht der Plan aus, Team?«, fragte er.

Wir sahen uns gegenseitig an. Gute Frage. Promise war weg, vielleicht für immer, mit zwei neuen Opfern, eines davon tot. Marias Frustration darüber, ihn nicht gefasst zu haben, war geradezu greifbar. Ich wusste, was ihr durch den Kopf ging. Jede Sekunde, die es uns nicht gelang, ihn zu schnappen, kam einer Sekunde der Qualen für das noch lebende Mädchen gleich. Für uns fühlte sich jede Sekunde wie ein Monat völliger Nutzlosigkeit an. An der Stelle fängt man an, sich selbst zu geißeln. An der Stelle wird alles zur eigenen Schuld.

Unser ursprüngliches Ziel mussten wir erst noch erreichen. Wir mussten in Bewegung bleiben, aktiv sein. Das würde zwar nicht zur sofortigen Befreiung des Mädchens beitragen, andererseits ließe sich das ohnehin höchstens durch ein flächendeckendes Bombardement der gesamten Gegend mit Hausdurchsuchungen erreichen.

»Neebs Waterhole«, sagte ich, obwohl es bereits nach Mitternacht war.

»Bin froh, dass ihr dorthin müsst und nicht ich. Ein Drecksloch«, meinte Arch. »Warum wollt ihr da rauf?«

»Der Mörder hat etwas für uns hinterlassen«, antwortete Maria, allerdings merkte ich ihr an, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war. Sie wollte sich auf die Suche machen, die Straßen in der Hoffnung auf und ab rollen, vielleicht etwas zu finden. Als führe man nachts auf der Suche nach einem vermissten Hündchen durch das eigene Viertel.

»Eine Falle? Gut, dass Casey euch da raufbringt. Trotzdem solltet ihr besser auf der Hut sein. Dieser Kerl hat euch jetzt auf dem Kieker. Niemand hört das Vorbeipfeifen einer Kugel, ohne etwas als Gegenleistung zurückzuschicken. Glaubt mir. Ich weiß es.«

Casey stand am Ende des Stegs. »He, Bruder«, rief Arch, als er das Boot an den Rand des Stegs lenkte und ausstieg. »Bringst du diese Verrückten den Fluss hinauf? Ich hatte genug Spaß für eine Nacht. Hau mich jetzt aufs Ohr. Bis denn«, verabschiedete er sich und schlenderte auf die offenen Türen seines Hauses zu, die so wie bei mir zum Fluss wiesen.

»Ihr zwei seid echte Trottel. Ich hab euch doch erklärt, dass ihr auf die Kurve achten sollt, wo der Baum wie ein Stuhl aussieht, denn dort zweigt die Courier Road von der Tin Can Bay Road ab.«

»Wenn du noch ein Wort sagst, schlage ich dich«, drohte Maria.

»Schon gut, schon gut! Herrgott, ich will doch bloß etwas klarstellen. Und schönen Dank auch für all die Hilfe, Case. Also, was machen wir jetzt? Fahren wir zu Neebs Waterhole rauf?«

»Wie lange dauert es auf dem Wasserweg dorthin?«, fragte ich Casey.

»Jetzt? Sechs bis acht Stunden.«

Ich sah auf die Armbanduhr. Es war 00:15 Uhr.

»Was ist mit Adam und dir?«, wollte Casey von Maria wissen.

Sie wirkte verloren und starrte an einen dunklen Ort, an den ihre Einbildung sie lockte.

»Ich will das Mädchen finden«, sagte sie.

Darauf erwiderte ich nichts, begegnete nur ihrem Blick. Sie wusste, dass es nutzlos wäre, eine Verschwendung unserer Zeit. Und ich wusste, was sie dachte. Ich hatte das schon zu oft durchgemacht.

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, sprach ich ihr Mut zu.

»Fahren wir zu Neebs Waterhole«, gab sie zurück.

Ein weiteres Problem, das ich mit Wasser habe, besteht darin, dass man, wenn man sich auf einem fahrenden Boot befindet, nicht davon runter kann – was ich von dem Moment an wollte, als wir aufbrachen. Casey holte während der gesamten Reise kein einziges Mal Luft. Er schien sich in eine besessene Enzyklopädie sowohl der Geografie als auch der Flora seiner neuen Heimat verwandelt zu haben.

»Da. Schaut, das ist ein Bloodwood-Baum. Davon werden wir noch einige zu sehen bekommen.« Oder: »Hier: Das ist der Lake Cootharaba. Ist der größte Salzwassersee von Australien. Und der seichteste! Man könnte glatt drüberlaufen.« Er sprang sogar hinaus und watete im hüfthohen Wasser neben dem Boot einher. »Schau. Schau, Darian, schau. Komm auch rein. Ist erstaunlich. Der ganze See ist so seicht. Und hast du gewusst, dass hier Eliza Fraser, die Schiffbruch erlitten hatte, in Sicherheit gestapft …«

Maria – die den Umgang mit solchen Anstürmen von Informationen, die für ein Rudel zahlender Touristen vielleicht interessant gewesen wären, längst gewohnt sein musste – war eingeschlafen und überließ es mir, zu nicken und zu lächeln, bis ich schließlich hervorstieß: »Casey, halt einfach die Klappe.«

»Warte nur, bis du siehst, was passiert, wenn wir an Harry’s Hut vorbei sind. Echt verblüffend. He, Darian?«

»Ja?«

»Was hältst du von diesen Fotos, auf denen Lady Gaga einen Fleischanzug trägt?«

Und so ging es weiter und weiter. Das Morgengrauen kam und ging.

Dann passierten wir den nächsten See, den Como, den dritten in einer Reihe großer, seichter Seen. Von da an veränderte sich alles. Es fühlte sich an, als hätten wir soeben die Grenze in ein anderes Land überquert. Der Noosa River wird dort schmal. Zu beiden Seiten des Flusses drängen Mangroven, Myrtenheiden, Bloodwood-Bäume und schnörkelige Eukalypten heran, Teebäume und Niaulibäume besudeln das Wasser mit verrottender Vegetation, der Himmel wird von einem Baldachin blockiert, der über einem hängt, und eine merkliche Stille beherrscht die Umgebung. Die Touristenboote fahren hierher bis zu einer Anlegestelle namens Harry’s Hut. Weiter nicht. Wir hatten noch ungefähr zwanzig Kilometer vor uns.

Zum Glück bewirkte die Unheimlichkeit, die der Fluss von dort an vermittelte, dass Casey verstummte. Sogar als wir Harry’s Hut passierten, wurde das nur mit einem Nicken in Richtung des Wassers unter uns quittiert. Was zuvor ein grünliches Braun gewesen war, wurde plötzlich schwarz. Eine klare Abgrenzung, wo der Fluss nicht mehr aus Salzwasser, sondern aus Süßwasser bestand, wo seine natürlichen Farben zutiefst unnatürlich und unheimlich wurden. »Süßwasser«, blieb Caseys gesamter Kommentar, als er sich hinabbeugte, eine Handvoll Wasser herausschöpfte und es trank. Von da an blieb der Noosa River schwarz, so weit wir flussaufwärts sehen konnten.

Während wir langsam weitertuckerten, veränderten sich auch die Ränder des Flusses und verschwanden, als wir ins sumpfige Grasland gelangten. Zu beiden Seiten konnte ich hinter den Wällen aus dichtem grünem Gebüsch vereinzelt erkennen, wie sich das Wasser zu Morasten voll Gras und Schilf ausbreitete.

»Wie weit noch?«, erkundigte ich mich und fürchtete mich vor der Antwort.

»Ein paar Stunden. Zuerst kommen wir zum Teewah Creek, dann geht’s westwärts Richtung Cooloola Way.«

Ich sank tiefer auf den Boden des Bootes und versuchte, zu schlafen. Unmöglich.

»Einfacher als auf dem Landweg, was?«, meinte Casey. »So kann man sich nicht verirren.«

Ich überprüfte mein Telefon; wir hatten wieder keinen Empfang. Marias Handy hatte fünf Mal gesummt. Adam war offensichtlich auf der Jagd. Dennoch wirkte sie in Hinblick auf den Dicken ziemlich entspannt. Immerhin hielt sie die Karten in der Hand.

Er konnte sie einschüchtern, soviel er wollte, aber sie konnte ihn innerhalb eines Blinzelns zu Fall bringen wie einen zu Boden plumpsenden Sack Kartoffeln.

Die normalen Geräusche des Flusses waren längst verschwunden. Es gab keine Echos anderer Boote oder Stimmen, keine entfernten Geräusche von Autos oder das Plätschern von Fischen unter der Wasseroberfläche. Nicht einmal die Laute von Vögeln. Alles schien vom schwarzen Wasser unter uns verschluckt worden zu sein. Casey setzte sein Schweigen fort, und ich begann, über die Möglichkeiten nachzudenken.

Promise hatte zwei weitere Mädchen entführt, aber deren Verschwinden war nicht gemeldet worden. Noch nicht; das würde sich höchstwahrscheinlich ändern, je nachdem, ob sie Eltern oder sonst jemanden hatten, der bemerken würde, dass sie nicht nach Hause gekommen waren. Falls es sich um Touristinnen wie Ida handelte, um zwei der Zehntausende, die auf Urlaub kamen und gingen, dann würde vielleicht nie eine Meldung über sie erfolgen.

Wichtig war im Augenblick seine Gemütsverfassung. Offensichtlich hatte er in der Wohnung katastrophisiert, doch es war ihm gelungen, sich aus dieser Starre zu lösen. Und das hatte an ihm gelegen, nicht an uns. Er war geflüchtet, bevor wir eingetroffen waren. Wir hatten ihm nicht auf die Sprünge geholfen. Er hatte das geschafft. Was bewies, dass er einen starken Willen besaß. Zweifellos ließ sich das den zahlreichen Kognitivtherapiekursen zuschreiben, die zu absolvieren er gezwungen wurde, als er ein jugendlicher Straftäter gewesen war, wobei seine Identität von den Gerichten geschützt wurde. Nichtsdestotrotz war es beeindruckend und ließ mich vermuten, dass er in der Gegend bleiben würde, statt seine Verluste zu begrenzen und zu fliehen. Es gefiel ihm hier oben, und dieser Ausflug zu Neebs Waterhole, auf den er uns geschickt hatte, stellte eine neue Form von Prahlerei dar.

Der Zeitungsartikel musste das ausgelöst haben. Mein »Ruhm« sprach ihn an, hatte ihn dazu gebracht, in Form von Ida und der Botschaft, flussaufwärts zu reisen, einen neuen Kurs einzuschlagen. Er gab an. Das war gut. Solche Typen sind allesamt narzisstisch, aber Promise hatte diese Neigung bislang beeindruckend unter Kontrolle gehabt.

Seine eigene Fantasiewelt hatte ihm genügt. Die reale Welt schien keine Rolle für ihn zu spielen. Er musste keinen Eindruck in ihr hinterlassen, abgesehen von den Handys, allerdings vermutete ich, dass dies eher seinem eigenen sadistischen Vergnügen diente. So, wie Maria es beschrieben hatte, erzeugte er Schrecken, der sich für die Fotos in den Gesichtern der Mädchen zeigen sollte. Vermutlich flippten sie aus, wenn er ihnen sagte, dass die Telefone zu ihnen nach Hause geschickt würden. Außerdem konnte er so den von ihm verbreiteten Schmerz auf mehr Menschen ausdehnen, und zwar auf eine äußerst spezifische Weise. Der Kummer über den plötzlichen Verlust einer Tochter würde ihm weniger als ein Wetterumschwung bedeuten, aber er konnte sich ausmalen und fühlen, welches Grauen die Angehörigen empfinden mussten, wenn sie ihre geliebte Tochter in den letzten, hilflosen Zügen ihres Lebens sahen. Kontrolle in ihrer schrecklichsten Form.

Unabhängig davon, was uns bei Neebs Waterhole erwarten mochte, würde ich versuchen müssen, ihn zu noch mehr Angeberei zu verführen. Was immer wir vorfinden würden, er war stolz darauf. Wenn ich es als das Werk eines Amateurs abtäte oder völlig ignorierte, würde er wahrscheinlich darauf reagieren, indem er etwas täte, um zu beweisen, dass es sehr wohl beeindruckend war. Hier, lass es mich dir noch einmal zeigen, aber diesmal ist es noch besser.

Wahrscheinlich würde eine von zwei Möglichkeiten eintreten: Entweder würde er untertauchen und vielleicht die Mädchen entsorgen, ohne die Telefonfotos zu schießen, oder er würde aufs Gas steigen und waghalsiger werden. Es gab noch eine dritte Möglichkeit, die ich jedoch für eher unwahrscheinlich hielt: Er könnte im Plan bleiben und wie bisher weiter vorgehen. Aber dafür schien er mir zu gerissen zu sein. Sein Überlebensinstinkt hatte eingesetzt. Das Apartment in der Anlage auf North Shore war unbrauchbar geworden, und dasselbe galt für die Wohnung in Mudjimba mit ihrer Ansammlung von Sand und Steinen. Ich musste davon ausgehen, dass er beide nie wieder benutzen würde, dennoch hatte ich Isosceles gebeten, die Überwachung aufrechtzuerhalten. Narzissmus verleitet zu Blindheit. Vielleicht würde er immer noch glauben, dass er uns zumindest mit letzterer Wohnung überlistet hatte.

Mich beschlich das ungute Gefühl, dass wir wieder ganz am Anfang standen, dass er untertauchen, seine geliebte, eingespielte Vorgangsweise auslöschen und eine neue erarbeiten würde, bei der er den Feind berücksichtigte, der auf ihn lauerte: mich.

»Da ist Teewah«, verkündete Casey. Ich schaute auf und sah, dass sich der schmale schwarze Fluss nach rechts krümmte. Casey lenkte das Boot nach links. Es handelte sich nach wie vor um den Noosa River, doch so unmöglich es zu sein schien, er wurde noch schmaler und unheimlicher als zuvor. Ich musste mich ducken, um nicht vom über das Wasser hängenden Geäst einer Mangrove getroffen zu werden.

»Nur noch ungefähr zehn Kilometer«, sagte Casey. Wir fuhren mit der Geschwindigkeit eines einbeinigen Hundes. Ein Mensch konnte schneller laufen. Der Fluss war seicht, und Casey musste vorsichtig sein, damit die Schraube des Motors nicht im schwarzen Schlamm stecken blieb. Er hatte den Motor höher gekippt, sodass die Schraubenblätter nur wenige Zentimeter unterhalb der Oberfläche durch das Wasser schnitten. Die Ufer des Flusses rückten immer näher. Das Gefühl von Klaustrophobie ließ sich nur schwer ignorieren. Ich schaute nach oben, wartete auf das vereinzelte Aufblitzen des blauen Himmels zwischen dem knorrigen grünen Baldachin, der sich über uns erstreckte.

Maria war aufgewacht, saß auf dem Boden des Bootes und starrte geradeaus.

»Was glaubst du, werden wir dort oben finden?«, fragte Casey.

Ich sah ihn an. »Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Aber du weißt, warum er uns hinschickt, nicht wahr?«

Casey nickte. »Ja.« Wir alle wussten, dass es dazu gedacht war, Dämonen in unserem Geist zu entfesseln.

Ich hatte den Überblick über die Zeit verloren, als ich endlich hörte: »Wir sind da. Neebs Waterhole.«

Der Fluss – mittlerweile so schmal, dass er zu einem Bach verkommen war – verbreiterte sich plötzlich zu einem großen, runden Tümpel, der an einen sehr kleinen See erinnerte. Hohes Gras umgab ihn. Niaulibäume mit ihren gespenstisch weißen Ästen wuchsen in alle Richtungen verstreut und bis unmittelbar ans Ufer heran. Sie beugten sich über das Wasser, sahen aus, als wollten sie hineinfallen. Casey schaltete den Motor ab, hob ihn aus dem Wasser und ließ das Boot zu einem offenen Fleckchen Gras gleiten. Ich sah mich um. Auf der anderen Seite fand der Fluss einen Ausgang, wiederum in Form eines schmalen Abflusses. Es gab keinerlei Anzeichen auf irgendetwas wie einen Wanderweg oder einen auffälligen Baum oder Stumpf, einen Hinweis oder einen Anhaltspunkt, wohin wir gehen, wonach wir Ausschau halten sollten.

»Da drüben ist eine Lichtung«, verriet Casey und zeigte in die Richtung. »Man kann sie nicht sehen, weil sie hinter all den Bäumen verborgen liegt, aber dort soll man sein Lager aufschlagen.«

»Hier campen Leute?«, fragte ich.

»Nee, glaub ich nicht. Außer, man ist ein Desperado.« Er sah sich um, genau wie Maria, genau wie ich, und wir alle dachten: Wohin jetzt?

»Das ist ein ziemlich unheimlicher Ort«, befand er.

Wir stiegen aus dem Boot und fingen an, uns den Weg zum Campinggelände zu bahnen. »Passt auf Rotbauchschwarzottern und Braunottern auf. Die tummeln sich hier oben überall auf dem Boden.« Schlangen, die beide zu den tödlichsten der Welt gehörten – der Sorte von tödlich, bei der man zehn Sekunden nach einem Biss abkratzt.

Wie Entdecker auf der Suche nach dem großen Binnenmeer stapften wir durch den Busch, schlugen uns eine eigene Schneise, bis wir das Campinggelände von Neebs Waterhole erreichten, ein flaches, offenes Fleckchen Erde, das etwa so viel Charme und Zauber versprühte wie eine Schottergrube. Wie ein Großteil des Untergrunds hier oben im Great Sandy National Park bestand der Boden aus hartem weißem Sand. Es war ein kleiner Bereich. Wir konnten den Himmel sehen. Die Sicht über das Dickicht des hohen Grases und der knorrigen, dünnen Niauli- und Bloodwood-Bäume hinaus beschränkte sich auf etwa achtzig Meter. Danach: dichter Wald.

Wir standen mitten auf dem Campinggelände und ließen die Blicke um uns wandern.

»Ich sehe Bäume«, teilte Casey uns mit.

Weder Maria noch ich wussten darauf etwas zu erwidern. Wir alle sahen Bäume.

»Und Gras«, fügte er hinzu.

Ich bin kein Experte für Campinggelände. Meine Tatorte waren Straßen und Häuser, Wohnblöcke und Parks in der Stadt gewesen. Ich befand mich mitten im Nirgendwo, abgelegen, in der Pampa. Dennoch musste ich die Umgebung wie einen Tatort behandeln. Er war hier gewesen. Persönlich oder in seiner Fantasie. Ich schloss die Augen und versuchte, er zu werden. Ich stellte mir die Karte an meiner Wand zu Hause vor: die Linien und Spuren von seinen Opfern, von ihm, ein Schatten, ein Meister der Täuschung, gründlich; ein Mann, der den Fluss und dessen Nebenarme kannte. Er hatte sich die gesamte Landschaft zu eigen gemacht, vom Parkplatz am Ende der Hastings Street über die Einkaufszentren bis hin zu einem schmalen, unscheinbaren Bach ohne Namen auf North Shore. Er bewegte sich mit Leichtigkeit. Diesen Ort hatte er ausgewählt, weil er ihm gefiel. Er war für ihn wie ein weiteres Zuhause.

Nach einer Weile öffnete ich die Augen und ließ den Blick erneut prüfend über das Campinggelände wandern. Hübsche weiße Rinde an den Bäumen. Ein Fleckchen mit sattgrünem Gras, das sich vom Rest unterschied, fast wie ein Rasen. Wie ein Friedhof. Ich ging darauf zu und überquerte den Rand des Geländes, wo das Gestrüpp die Herrschaft zu übernehmen begann. Wie eine letzte Ruhestätte.

Ungefähr drei Meter breit. Ein grüner, weicher Streifen mitten in der von Buschwerk überwucherten, sandigen Gegend. Was wächst in Sand?

Ich stand auf dem grünen Fleck und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis wir fanden, wonach auch immer wir suchten.

Casey und Maria waren die gegenüberliegenden Enden des Bereichs abgeschritten und kamen gerade zurück. In der Mitte trafen wir aufeinander. Maria drehte sich um und setzte dazu an, etwas zu sagen, als ich plötzlich einen Ausdruck blanken Grauens in ihrem Gesicht sah. Sie starrte über mich.

Ich schaute hoch.

Von dem Baum, unter dem ich stand, hing ein Schädel.

In das Kranium waren zwei saubere Löcher gebohrt worden, durch die jemand Zwirn gefädelt und diesen an einem Ast festgebunden hatte; der Schädel baumelte einen guten Meter unter dem Ast und schaukelte in der leichten Brise.

Casey reagierte sofort, indem er zu dem Baum ging, ihn wie ein Insekt erklomm und sich auf einem Ast in Position brachte, der aussah, als würde er unter seinem Gewicht brechen. Vorsichtig löste er den Knoten, dann kletterte er zurück herunter und achtete darauf, mit dem Schädel nirgends anzustoßen und ihn nicht fallen zu lassen.

Er legte ihn auf den weißen Sand.

»Jesus, Maria und Josef!«, stieß er hervor.

Wir hatten alle drei an den dunklen Rändern der Menschheit gelebt, aber was zu unseren Füßen lag, war schlichtweg entsetzlich. Schädel, die man im Fernsehen oder in Kliniken und Krankenhäusern sieht, sind gereinigt worden. Sie haben einen Prozess durchlaufen, der Zeit in Anspruch nimmt, einen Prozess, bei dem menschliches Fett, Gewebe und Haare entfernt werden. Bei dem Schädel, den wir vom Baum geholt hatten, war nichts dergleichen geschehen. Was vom Gesicht des Mädchens übrig war, verrottete noch an den Knochen. Promise hatte eine Linie um den Hals geschnitten, sich durch die verschiedenen Muskeln gehackt, die den Kopf mit dem Rest des Körpers verbanden, und ihr dann das Gesicht abgeschält und das zurückgelassen, was wir finden sollten.

Ich weiß das eine oder andere über den menschlichen Körper und dessen Verwesung. Ich habe Hunderte Leichen gesehen und bin vielen zurück ins Leichenschauhaus gefolgt, habe sie auf die klinische Weise gesehen, wie niemand sie je sehen sollte, nämlich während des Vorgangs der Autopsie. So etwas jedoch hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Aber ich wusste genug, um zu sagen: »Das ist Brianna.«

Ich sah Maria an. Sie wirkte wie erstarrt. Diese Erfahrung hatte sie an einen für sie neuen Ort geschleudert.

»Wir melden es«, fuhr ich leise fort. »Casey, du kannst behaupten, du wärst querfeldein gefahren und hättest nach Überresten der alten Minen gesucht …«

»Es gibt keine alten Minen, nicht hier in der Gegend.«

»Das wird niemand wissen. Du bist ein Sammler. Du treibst dich überall rum. Denk dir was aus. Man wird dir schon glauben.«

Ich wandte mich an Maria. »Du bist zu Hause, leidest immer noch an einer Lebensmittelvergiftung. Okay?«

Sie nickte zwar, aber sie vermittelte den Eindruck eines Boxers in der letzten Runde: erschöpft. Bei einem normalen Ablauf der Ereignisse hätte sie sich sicher gefühlt: Der Täter hätte einen Namen, er hätte einen Job, man könnte ein Phantombild von ihm erstellen, das zusammen mit seinem Profil entlang der Küste in den Zeitungen und Abendnachrichten verbreitet werden könnte. So würde es der Ermittlungsabteilung gefallen. So kannte es Maria. Mit dieser Vorgehensweise hätte sie sich wohlgefühlt. Stattdessen hatte sie sich auf unkonventionelle Pfade gewagt. Ein Spiel der Improvisation, das auf seinen Handlungen und unseren Instinkten beruhte, geleitet von Spionageausrüstung, die zur fortschrittlichsten auf dem Planeten zählte.

In den Vereinigten Staaten benutzen Polizisten manchmal ein geflügeltes Wort, um auszudrücken, dass jemand ausgeschert ist, jegliche Überwachung abgeschüttelt hat, verschwunden ist und nicht gefunden werden kann: »Vom Winde verweht«.

Im Augenblick traf das auf Maria zu. Vom Winde verweht. Weg.

»Okay?«, fragte ich erneut.

Sie nickte nur.

»Man wird die DNA testen und bestätigen, dass es Brianna ist«, sagte ich.

»Glaubst du, das hier ist …« Kurz verstummte Casey. »Sein Entsorgungsgelände?«

»Nein. Das ist eine einmalige Sache. Es soll mich verspotten. Mich anwidern. Mir zeigen, dass er uneingeschränkt die Kontrolle hat. Aber hier werden keine Leichen sein, weit gefehlt. Die hält er weiter geheim. Er weiß, dass uns die Leichen näher zu ihm führen können. Hiermit ist er zwar ein Risiko eingegangen, aber es wird nichts dabei herauskommen. Nur eine Bestätigung der Identität des Opfers.«

»Und ein paar verschissene Albträume.«

»Ja. Darum ging es ihm auch.«

»Herrgott noch mal, je eher du die Welt von diesem Typen befreist, desto besser«, meinte Casey und bekreuzigte sich. Da wurde mir zum ersten Mal klar, dass er an Gott glaubte.

Tief ins Fleisch
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