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»Die Stille dieses Lebens hatte mit Frieden nicht das Geringste zu tun.«
Abgesehen vom Trinken und Duschen halte ich nicht viel von Wasser. Ich sehe es gern an, aber wenn es darum geht, sich hineinzubegeben – vor allem im Fall eines braunen Flusses, aber sogar an einem Surfstrand –, wahre ich in der Regel einen Sicherheitsabstand. Ich gehe ungern in Häuser, wenn ich nicht weiß, wer sich drinnen aufhält, und aus demselben Grund springe ich nicht in braun verfärbte Flüsse. Nur Touristen und betrunkene Teenager schwimmen in Flüssen.
Ich weite mein Empfinden mal auf Boote aus: Ich hasse Boote. Sie können kentern oder von einer großen Welle geflutet werden, und man kann damit sinken und findet sich unverhofft triefnass mitten in den Gefilden von Haien wieder.
Flussaufwärts, Darian, geh nach Neebs.
Lange brauchte ich nicht, um die Botschaft zu verstehen. Neebs Waterhole ist ein winziges Gewässer weit oben am Noosa River, jenseits der letzten Liegeplätze, weit hinter den letzten Außenposten der Zivilisation. Es liegt Kilometer von einem schmalen Sandpfad entfernt, der keinen Namen hat, aber eine Verbindung zwischen einem nur mit Allradantrieb befahrbaren Feldweg namens Cooloola Way und einer Straße bildet, die tatsächlich, zumindest während der Trockenzeit, beinah eine Straße ist und Rainbow Beach Road heißt. Das alles ist mitten im Great Sandy National Park. Das nennen wir hier abgelegen. In einem Gebiet von rund hundert Quadratkilometern gibt es dort so ziemlich überhaupt nichts, nur ein paar Trampelpfade und das krakelige, dünne Ende des Noosa River, der sich ungefähr vierzig Kilometer durch dichten Wald windet. Es gibt keine Karte von der Gegend. Niemand fährt dort je hin. Wenn man auf Google Earth sucht, findet man dort einen Ort namens »Hier haben wir uns verirrt«.
Dieser Ort liegt so fernab von Gut und Böse, dass ich unwillkürlich das Gesicht verzog. Noch schlimmer fand ich, dass Promise die Regeln vorgab. Er hatte mir Ida gebracht und eine Botschaft geschickt; hatte dabei zugesehen und zweifellos einen Heidenspaß gehabt, als ich tat, was er wollte. Außerdem bedeutete das eine Änderung seines Musters. Prahlte er? Vermutlich. Lag es an dem Bericht auf der Titelseite über mich? Höchstwahrscheinlich. Was bedeutete, dass mein Eingreifen geändert hatte, wie er dachte und nun, mit Ida, auch wie er operierte. Vielleicht würde mir das zum Vorteil gereichen; es ließ sich schwer abschätzen.
Sicher konnte ich mir nur sein, dass er sich bei Neebs Waterhole nicht mit mir treffen und sich stellen würde. Vielmehr würde er dort oben etwas haben, um mich zu verspotten. Mittlerweile würde er seine Hausaufgaben gemacht und sich über meine Vergangenheit informiert haben. Ich verhalte mich zwar an sich unauffällig, nur gegen Zeitungsberichte kann man nichts machen, und über mich gab es Dutzende, vor allem über mich und den Zugfahrer.
»Oh ja! Da!«, rief Ida.
Wir saßen im Toyota, und ich fuhr sie gerade zurück zu ihrem Motel. Ihr Orientierungssinn war noch schlechter als meiner, weshalb wir bereits seit knapp einer Stunde durch die Gegend gurkten.
»Das ist der Hügel. Da oben ist das Motel«, erklärte sie aufgeregt. Ich war über Noosa Junction gefahren, eine Ansammlung von Geschäften, Cafés und Kinos, umgeben von den Hügeln eines Nationalparks – hier oben gibt es eine Menge Nationalparks –, auf halbem Weg zwischen der harschen Brandung des Sunshine Beach und der ruhigen Laguna Bay. Ida deutete auf Noosa Hill, als ich durch den Kreisverkehr zum vierten Mal an Ho’s Chinarestaurant und einem Irish Pub vorbeifuhr, bevor sie endlich erkannte, wo wir uns befanden.
»Es ist ein Motel, ein kleines Motel neben dem Pub«, sagte sie. Ich verließ den Kreisverkehr und steuerte den Hang hinauf. Sie redete vom Noosa Hotel, einem Koloss mit Kneipen, Restaurants und Terrassen mit Aussicht auf die Bucht und das Meer dahinter, über drei Geschosse abgestuft in den Hügel gebaut. Es umfasst außerdem einen Schnapsladen und eine Diskothek für Teenager sowie auf der obersten Ebene in der Nähe des Schuppens der Gebäudereiniger fünf oder sechs Motelzimmer, zusammengeschustert wie etwas, das an eine amerikanische Autobahnraststätte aus den 1950ern erinnerte. Man muss unwillkürlich an das Motel in Psycho denken.
Nachdem mir Ida bei mir zu Hause alles erzählt hatte, woran sie sich erinnern konnte, war sie unter die Dusche gegangen. Ich war noch nie in der Situation gewesen, dass ein Opfer in meiner persönlichen Obhut gelandet war, deshalb handelte ich rein instinktiv und lernte dabei. Ida war ungefähr neunzig Minuten in der Dusche geblieben, bevor sie, wie ich vermute, schließlich fand, endlich den Geruch und das Gefühl des Kunststoffs, der Berührung seiner Hände und des Flüsterns seiner Stimme von sich abgewaschen zu haben. Danach hatte ich ihr Toast mit Honig gegeben und sie gezwungen, noch ein paar Liter Tee zu trinken.
Ich rollte auf den Parkplatz und hielt vor einem der Motelzimmer.
»Ich warte hier«, verkündete ich.
»Ehrlich, ich komme klar. Ganz bestimmt, versprochen.« Als Lügnerin taugte sie nicht viel.
Darüber hatten wir schon diskutiert, bevor wir uns verirrt hatten. Sie wollte ins Motel zurückkehren und ihren Urlaub in Noosa für die nächsten zehn Tage fortsetzen.
»Du kommst nicht klar. Du bist ins Visier genommen worden. Du schwebst in Gefahr.«
»Er hat mich gehen lassen. Ich verriegle nachts die Tür, ich gehe nicht mehr in den Wald, ich halte mich nur dort auf, wo viele Leute sind.«
Sie hatte eine entsetzliche Tortur durchgemacht, und ich wollte ihr Befinden wirklich nicht verschlimmern, indem ich ihr Angst einjagte oder ihr als der toughe Mordermittler kam, aber diese Diskussion musste ich gewinnen.
Ich wählte den ehrlichen Ansatz. »Bis vor Kurzem hatte ich beruflich mit Typen wie dem zu tun, der dich entführt hat. Sie sind skrupellos, sie sind unerbittlich, sie genießen es, zu töten. Wenn du hier bleibst, kommt er zurück. Er hat dich nicht bloß gehen lassen, um mir eine Botschaft zu übermitteln. Er hat dich gehen lassen, damit er sich dich noch einmal holen kann. Wie eine Katze, die mit einer sterbenden Maus spielt. Genau dasselbe. Du glaubst, du bist aus dem Schneider? Bist du nicht. Du hattest Glück. Du hast befristeten Freigang erhalten. Du willst zurück da rein und bleiben? Dann bist du innerhalb von achtundvierzig Stunden so tot wie seine anderen Opfer.«
Vielleicht war ich zu unverblümt, denn sie brach in Tränen aus und bat mich, sie zu beschützen. Das entsprach nicht ganz der Reaktion, auf die ich abgezielt hatte.
Ich begleitete sie in ihr Zimmer, half ihr dabei, ihre Habseligkeiten zu packen, und fünf Minuten später befanden wir uns wieder auf der Straße, unterwegs zum Bahnhof von Nambour. Ida wollte runter zur Gold Coast, etwa drei Stunden südlich von hier.
Mein Telefon summte, als ich Nambour erreichte.
»Dort ist nichts«, verkündete Isosceles. »Nur ein Süßwasserbecken, eine kreisförmige Stauung im Noosa River – den man übrigens an der Stelle angesichts seiner schmalen Breite eher als Bach denn als Fluss bezeichnen sollte. Zugänglich ist der Ort nur über eben genannten Fluss – beziehungsweise Bach – oder einen Pfad, der zwischen Rainbow Beach Road und Cooloola Way verläuft, die angeblich beide geeignet für die Fortbewegung von Fahrzeugen sind, wenngleich dieser Aufgabe meiner Ansicht nach keine der beiden Straßen gewachsen ist.« Er kicherte. »Ich könnte dich Marlow nennen.«
»Könntest du. Das wäre ungemein hilfreich«, erwiderte ich und fragte mich, wer zum Geier Marlow war.
»›Und die ruhige Wasserstraße, die zu den letzten Enden der Welt führte, strömte düster unter bedecktem Himmel dahin, wie in das Herz einer ungeheuren Finsternis.‹«
Da wir an sich über ein mögliches Versteck eines Serienmörders sprachen, fragte ich mich, was um alles in der Welt ich darauf erwidern sollte. Ich entschied mich für nichts.
»Gibt es irgendwelche Anzeichen auf Lager, Hütten, irgendetwas, das er gebaut haben oder worin er übernachtet haben könnte? Sofern er mich nicht bloß verarschen will und aus Spaß auf eine Reise in die Pampa schickt, muss er den Ort für irgendetwas verwenden oder irgendeinen Zweck darin sehen.«
»Das war ein Zitat. Aus einer ziemlich berühmten Novelle. Hast du meine literarische Anspielung auf deine Umstände nicht verstanden?«
»Tut mir leid, ich war abgelenkt.«
»Entschuldigung vermerkt. Nichts. Nada. Null. Nur Leere. Es scheint inmitten des riesigen und vielschichtigen Gebiets von Wäldern und Touristenattraktionen deiner Sunshine Coast ein vergessenes und abgelegenes Fleckchen Erde zu sein. Ein simples Rund von Wasser mitten in einem sehr großen Nichts. Das war übrigens aus Herz der Finsternis, falls es dich interessiert, auch wenn ich weiß, dass es das nicht tut, aber was bringt es schon, etwas zu zitieren, ohne die Quelle zu nennen? Wie willst du dorthin? Per Boot oder Fahrzeug?«
Hervorragende Frage: Ich hatte noch gar nicht an die Möglichkeit gedacht, erst zu fahren und dann zu laufen. Das würde zwar länger dauern und wäre beschwerlicher, aber es wäre kein Wasser im Spiel.
»Du bist ein Genie«, lobte ich.
»Oh, du bringst mich noch zum Erröten. Wo ist Maria? Mir fehlt ihr Busen. Richte ihr aus, sie soll sich über Skype bei mir melden. Sag ihr, sie soll ein ärmelloses Top tragen.«
»Ich muss auflegen«, gab ich zurück und tat es. Das Telefon summte erneut.
»Ich brauche dich«, sagte Casey.
Ich rollte gerade vor den Bahnhof von Nambour, fünfundvierzig Minuten Fahrzeit von ihm entfernt. Unter normalen Umständen hätte ich Ida an der Bushaltestelle Noosa abgesetzt, aber ich war zutiefst besorgt: Sie war von unserem Mann ins Visier genommen worden, und er würde seine Verhöhnung meiner Person so gut wie sicher vollenden wollen, indem er sie umbrachte, um zu beweisen, dass ich unfähig war, für ihre Sicherheit zu sorgen. Sie schwebte in Gefahr – in so ernster Gefahr, dass es kaum ernster ging. Zwar bereute ich meine Entscheidung nicht, sie nach Nambour gefahren zu haben, allerdings beschlichen mich nunmehr andere Sorgen. Casey war an sich niemand, der anrief, weil er Hilfe brauchte.
»Was ist los?«
»Maria. Sie hat in den Lauf gestarrt.«
»Ich bin in vierzig Minuten da.«
Ich stieß Ida zwar nicht aus dem Toyota, aber ich hielt mich auch nicht auf, und ich muss ihr zugutehalten, dass sie aufgrund des kurzen, von ihr mit angehörten Telefonats offenbar begriffen hatte, wie dringend es war. Ansatzlos schnappte sie sich ihren Rucksack, stieg aus, warf mir zum Abschied einen Kuss zu und winkte; ich tat es ihr gleich, als ich wendete und zurück in Richtung der Eumundi Range Road raste. Ich wollte darauf achten, mich auf Haupt- und Schnellstraßen zu halten, damit ich mich nicht verirren würde.