56

Das »Spiel«

Eine Verhaftung kam nicht infrage. Welche Anklagepunkte sich Fat Adam auch ausgedacht haben mochte, um mich holen zu lassen, ich würde mindestens einen halben Tag in Gewahrsam verbringen. So lange dauert allein schon der Papierkram. Wenn er schlau wäre, könnte er mir eine unmöglich zu widerlegende Anklage um die Ohren hauen, beispielsweise Behinderung polizeilicher Ermittlungen oder noch Schlimmeres. Damit würde er erreichen, was er wollte: mich aus dem Spiel zu nehmen. Er könnte mich tagelang mit Gerichtsterminen und Kautionsanträgen beschäftigen. Offensichtlich hatte ich seine Geduld überstrapaziert, und er wollte mich daran erinnern, wer das Sagen hatte. Ich hätte dasselbe getan, nur hätte ich mich nicht entkommen lassen. Inzwischen würde den Bauerntölpeln eine Möglichkeit eingefallen sein, mich zu ihm zu schleifen. Sie würden erkannt haben, dass meine mit rechtlichem Kauderwelsch gespickten Drohungen hohl waren. Etwa in diesem Augenblick würden sie zu meiner Vordertür zurückkehren.

Ich musste in Freiheit bleiben. Kaum war ich in Archs Pick-up gestiegen, wählte ich Isosceles’ Nummer und teilte ihm mit, dass ich bereit war.

»Was ist mit Maria?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, gab ich zurück, aber ich vermutete, dass sie durchaus in der Lage sein würde, sich gegen den fetten Kerl auf dem Hügel zu behaupten.

Niemand wusste, worin das Problem bestand. Man wusste nur, dass es eines gab. Warum sonst sollte der Boss zwei der Jungs losschicken, um Maria zu holen und an ihrem freien Tag herzuschleifen, obwohl sie eine Lebensmittelvergiftung hatte? Das Revier stellte eine enge Gemeinschaft dar, eine Bruderschaft, einen Clan. Durch ihre Arbeit standen sie quasi ständig in der Schusslinie, und das schuf Verbundenheit. Die Uniform einte sie, aber zusammen im »Team« zu sein, hielt sie zusammen.

Maria war an der Sunshine Coast aufgewachsen. Einige der Jungs hatten mit ihr die Schule besucht. Sie fanden zwar merkwürdig, wen sie zu ihrem Lebensgefährten auserkoren hatte, trotzdem war sie eine von ihnen. Der Boss hingegen war der Neue. Er kam aus dem Süden, und Gerüchte besagten, dass er sich den Job durch Bestechung erschlichen hatte. Die Leitung des Reviers auf dem Noosa Hill galt als so ziemlich die beste Position, die ein Polizeibeamter in Queensland je erlangen konnte. Mickey versah seit über zwanzig Jahren gewissenhaft Dienst auf dem Hügel. Alle fanden, dass der Job ihm zugestanden hätte.

Aber als sie beobachteten, wie Maria ins Büro des Bosses eskortiert wurde, ging allen dasselbe durch den Kopf: Wenn er ihr auf die Pelle rückt, warum dann nicht auch mir?

»Ich bin krank«, verkündete Maria, als sie Adams Büro betrat.

»Mach die Tür zu«, forderte Adam sie auf.

Maria drehte sich von ihm weg, und als sie tat, wie ihr geheißen, begegnete sie durch die Glaswand den Blicken ihrer Kollegen. Sie verdrehte die Augen, als wolle sie sagen: Was für ein Trottel. Alle sahen es. Alle spürten es. Alle hörten es förmlich: Was für ein Trottel. Kameradschaft.

Adams ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, sie an einen entlegenen Außenposten seines Zuständigkeitsbereichs zu versetzen, in eine Hippiegemeinde mit einem von neun bis fünf geöffneten Revier. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er das Problem damit nur außer Sicht abgeschoben hätte. In diesem Fall käme »aus den Augen« nicht »aus dem Sinn« gleich – wahrscheinlich würde sich die Lage sogar eher verschlimmern.

»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn ich dir auf den Schreibtisch kotze.«

Kleine Klugscheißerschlampe. Adam war überzeugt davon, dass die Lebensmittelvergiftung bloß gespielt war, um sie vom Revier fernzuhalten, damit sie sich mit ihrem Kumpel Darian Richards herumtreiben konnte.

»Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Es gab eine Beschwerde«, sagte er.

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich.«

Das oder eine Versetzung, aber Maria hatte eher mit einer Beschwerde gerechnet. Sie fragte sich, als wie einfallsreich er sich erweisen würde. Maria wusste, dass er ihr ein Bein stellen konnte, aber sie wusste auch, das sie dasselbe mit ihm anstellen konnte – und noch Schlimmeres.

»Einer deiner Kollegen hat die Anschuldigung sexueller Belästigung gegen dich vorgebracht.«

Das kam unerwartet. Wer um alles in der Welt mochte sich mit Fat Adam zusammengetan haben, um das zu inszenieren? Welcher der Jungs konnte ihr ein solches Verhalten vorwerfen? Vermutlich würde sie es gleich erfahren.

»Ich habe hier einen Bericht«, verkündete er und ergriff ein Blatt Papier, »aber ich habe den betroffenen Beamten gebeten, mich zuerst mit dir reden zu lassen, bevor die Sache weitergeht. Bestimmt kannst du verstehen, dass ich verpflichtet bin, zu gewährleisten, dass diese Angelegenheit ordnungsgemäß behandelt wird, aber bevor ich diesen Bericht einreiche und damit offiziell mache – was verheerende Auswirkungen auf deine Karriere hätte –, hielt ich es für besser, mich zuerst mit dir zu unterhalten.«

Maria verspürte einen kalten Schauder, als sie an Darians zornige Worte über ihre männlichen Kollegen zurückdachte: Sie werden dich ins Hirn ficken, weil sie dich so wenigstens überhaupt ficken können – auf die eine oder andere Weise.

»Ich bestreite jegliche sexuelle Belästigung«, erklärte sie.

»Natürlich tust du das. Deshalb führen wir dieses Gespräch ja: damit ich der Wahrheit auf den Grund gehen und eine fundierte Entscheidung darüber fällen kann, ob daraus eine offizielle Beschwerde wird oder nicht. Falls ja, muss ich dich von deinen Pflichten entbinden. Mit oder ohne Bezahlung: Das ist eine Gewerkschaftsfrage und muss von den Jungs von der Dienstaufsicht geklärt werden. Und natürlich von den Jungs der Straftatkommission. Die dürfen wir nicht vergessen.«

Er begegnete ihr mit einem steten Blick. Sein Telefon klingelte. Adam schaute verärgert drein, ergriff den Hörer, zischte: »Ich sagte, keine Störungen« und legte gleich wieder auf.

»Ich möchte nur, dass du den Ernst der Lage verstehst. Du bist eine gute Polizistin, Maria. Denk sehr sorgfältig darüber nach, wie du reagierst und mit dieser Situation umgehst.«

»Danke, Boss. Warum sagst du mir nicht, was genau diese falschen Anschuldigungen beinhalten?«

Wieder klingelte sein Telefon. »Herrgott noch mal, was ist denn?« Er lauschte, ohne den Blick von Maria zu lösen. Nach einigen Atemzügen fauchte er: »Sag ihnen, sie sollen ihre Pflicht als Gesetzesvertreter erfüllen und aufhören, sich von einem verfickten Zivilisten rumkommandieren zu lassen!« Damit legte er auf.

Er schaute auf das Blatt Papier. Die Anschuldigungen.

»Laut dem involvierten Beamten hast du dich von hinten genähert, die Arme um die Schultern des Beamten gelegt, nach unten in den Bereich zwischen den Beinen gegriffen und besagten Bereich dann ›massiert‹.«

»Wann soll das vorgefallen sein?« Unwillkürlich spürte Maria, wie Wut in ihr aufstieg.

»Dazu komme ich gleich. Kleinen Moment. Es war am Dienstag, achtzehnter Juli. Um ungefähr zwei Uhr fünfzehn morgens. Der Beamte hat dich zurückgewiesen, aber in der Nacht darauf, ungefähr um elf Uhr dreißig, bist du ihr in die Toilette gefolgt und hast ihre Brüste massiert.«

Ihre?

»Senior Constable Toyne nennt vier weitere Begebenheiten, bei denen du dich ihr auf ähnliche Weise angenähert hast. Sie hat dir mitgeteilt, dass sie nicht lesbisch sei, du jedoch hast darauf erwidert: ›In jeder Frau steckt ein wenig von einer Lesbe‹.«

Ich hatte mir von Arch eine Sonnenbrille und einen Cowboyhut geliehen. Darin bestand meine gesamte Verkleidung, trotzdem funktionierte sie, als ich an den zwei Bullen vorbeifuhr, die sich den Weg über die Straße zu mir bahnten. Ich winkte ihnen sogar zu. Vermutlich war das die ausschlaggebende Geste.

Ich tankte den Pick-up voll und überprüfte, ob meine Waffe geladen war. Dann schloss ich das Ladegerät meines Handys am Zigarettenanzünder an, damit das Telefon vollständig geladen blieb, und fuhr in Richtung Buderim zu einer Ortschaft namens Tanawha.

Dort wartete ich. Die erste von etlichen SMS, die noch folgen sollten, traf ein:

Aber kein Murren, nicht laut, nicht leis,

Keines, obwohlen ein jeder weiß,

’s ward irgendwo geblundert –

Vorwärts; sie fragen und zagen nicht,

Vorwärts; sie wanken und schwanken nicht,

Vorwärts, gehorchen ist einzige Pflicht,

Ins Todesthal,

In voller Zahl,

Reiten die Sechshundert,

 

Tennyson über den Angriff der Leichten Brigade.

Adam hatte sie an den Eierstöcken. Zwei weibliche Ermittler, eine Damentoilette. Es war eine perfekte Inszenierung. Marias Wort gegen das von Jack. Keine Zeugen. Jack war extrovertiert. Maria? Tja, sie war anders. Ruhig. Sie gehörte nicht zu den Jungs. Jack war hetero: Daran bestand kein Zweifel. Maria? Angesichts der Tatsache, dass niemand aus dem Revier mit ihr geschlafen hatte und dass sie ziemlich verkrampft wirkte, wenn Witze über Sex gerissen wurden, hatten sie alle in Ruhe gelassen. Wenn man genauer darüber nachdachte, ergab es durchaus einen Sinn. Wer hätte gedacht, dass sie eine Lesbe war? Die arme Jack, die auf der Toilette angemacht worden war.

Selbst wenn Darian und Casey ihr Versprechen hielten und Adam wünschen ließen, er wäre nie geboren worden, würde an ihr immer der Schandfleck kleben bleiben, und schlimmer noch, sie würde ihre Unschuld nie beweisen können. Sie war im Arsch.

Maria ließ Adam fortfahren, wartete ab, welchen Deal er ihr anbieten würde.

»Ich habe mit Senior Constable Toyne über die schwerwiegenden Konsequenzen gesprochen, die es hätte, eine solche Beschwerde offiziell zu machen. Sie weiß darüber Bescheid. Ich habe zu ihr gesagt, dass ich Probleme vorzugsweise unbürokratisch löse. Das entspricht meinem Führungsstil. Ich habe ihr erklärt, dass wir angesichts dieses Serienmörderfalls alle unter extremem, ungewöhnlichem Druck stehen. Ist wie ein Gewicht, das man nicht abschütteln kann.«

Wieder klingelte sein Telefon. Er hob den Hörer ab, drückte ihn sofort wieder auf die Gabel und legte ihn anschließend daneben.

»Jeder begeht Fehler. Menschliche Schwächen. Was wären wir ohne sie? Hm? Ich habe zu Toyne gesagt: ›Vielleicht stand Maria unter Stress. Vielleicht war es nur ein Anflug von geistiger Umnachtung. Vielleicht können wir die Sache hinter uns lassen, wenn sie verspricht, es nicht noch einmal zu tun, wenn sie versteht, was auf dem Spiel steht. Weitermachen. Geben und Nehmen.‹ Ich gebe. Du gibst. Toyne hat gemeint, das fände sie fair. Was ist mit dir, Maria? Wie denkst du über all das?«

»Das klingt wirklich fair«, meinte Maria langsam, weil sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte.

»Finde ich auch. Gut. Ich bin froh, dass du dieser Meinung bist.« Er beugte sich zur Betonung seines nächsten Punkts vor. Dabei erblickte er einen der Diensthabenden, der durch das Fenster versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Adam ignorierte ihn.

»Was wir nicht wollen«, sagte er und lehnte sich so weit über den Schreibtisch, wie es sein fetter Wanst zuließ, »ist, den Ruf eines Beamten wegen einer menschlichen Schwäche zu ruinieren. Es war kein Verbrechen, Maria. Es war Verlangen. Kein Verbrechen beabsichtigt. Kein Verbrechen passiert. Wenn du bereit bist, die Vergangenheit ruhen zu lassen, dann bin ich es auch.«

Sie nickte. Stille: So also sah der Deal aus. Wenn sie enthüllte, dass er die dreizehnjährige Izzie gevögelt hatte, würde er untergehen und sie mit ihm. Es sah nicht gut für sie aus. Jack würde als Zeugin auftreten. Sexuelle Belästigung, Abstempelung als Lesbe: Ende der Karriere. Und es bestand sogar die Gefahr, dass Adam von der Schippe springen würde. Er könnte jene achtundsechzig Minuten noch einmal manipulieren, und irgendein armer Teufel wie Mickey würde die Schuld ausbaden. Immerhin hatten zwölf Kollegen beobachtet, wie Izzie gevögelt und geblasen hatte wie eine Hollywood-Schlampe.

»Abgemacht«, sagte sie.

Lächelnd lehnte sich Adam zurück, ließ den Schreibtisch wieder atmen. »Fein.«

Dann schaute er auf und durchs Fenster. »Billy! Mickey!«, brüllte er durch die geschlossene Bürotür. Sie kamen angerannt.

»Ja, Boss?«

»Bringt die arme Frau nach Hause. Sie hat eine Lebensmittelvergiftung. Wenn wir nicht verdammt vorsichtig sind, kotzt sie ihre Eingeweide über das ganze verdammte Büro. Los doch, raus hier.«

Als Maria aufstand, um zu gehen, fiel ihr auf, dass von Jack jede Spur fehlte. Billy und Mickey wirkten erleichtert darüber, dass offenbar erledigt war, was immer vor sich gegangen sein mochte. Stabilität und Ordnung hatten sich wieder eingestellt. Sie würden Maria danach fragen, was das alles sollte, allerdings nicht sofort. Es wurde nie sofort gefragt. Man ließ immer eine Woche verstreichen.

»Ach übrigens«, meldete sich Adam noch einmal zu Wort, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Da du zum Team gehörst, solltest du die letzten Neuigkeiten über den Serienmörder kennen – auch wenn du zu Hause sein wirst, um über deine Lebensmittelvergiftung hinwegzukommen.«

Maria vermutete, dass er ihr von dem Schädel erzählen würde – da sie ja nun zum Team gehörte.

»Ich musste einen Haftbefehl für Darian Richards erwirken. Ich habe Grund zu der Annahme, dass er mit dem Mörder zusammenarbeitet. Ich glaube, die beiden stecken unter einer Decke.«

»Was?«, fragte Mickey. »Das ist etwa so wahrscheinlich wie …«

»Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert, Mickey«, schnitt Adam ihm das Wort ab. »Menschen sind seltsam. Das solltest du eigentlich mittlerweile wissen. Man kann aufgrund dessen, wie ein Mensch aussieht oder wie er sich gibt, nie wissen, wie er in Wirklichkeit ist. Wer weiß schon, was im Inneren vor sich geht?«

Maria starrte ihn an.

»Ja, ich weiß. Ich konnte es auch nicht glauben. Aber wir haben seine Fingerabdrücke auf einem Schädel gefunden, den vermutlich der Mörder bei Neebs Waterhole gelassen hat – davon müsstest du ja wissen. Immerhin hat ihn dein Lebensgefährte gefunden und zu uns gebracht.«

Ich habe es gern sauber in der Küche. Nichts ist schlimmer als Unordnung. Nachdem ich Jenny und Helen geschrumpft und ihre kleinen Köpfe in eine Keramikschale gelegt hatte, scheuerte ich den Topf, säuberte das Spülbecken, belud den Geschirrspüler und schaltete ihn ein – Vollwäsche. Danach ging ich, um mit der PlayStation zu spielen. Der Tsantsa-Prozess war keineswegs abgeschlossen; er würde noch zwei weitere Tage in Anspruch nehmen, die man auch nicht abkürzen konnte, wenn man es ordentlich machen wollte.

Ich ließ mich auf die Couch plumpsen, um mit der PlayStation zu spielen, dann jedoch überlegte ich es mir anders. Stattdessen ging ich online und spielte Warhammer.

Nach etwa zehn Minuten wurde mir klar, dass ich ein Nickerchen brauchte. Ich teilte den anderen Spielern mit, dass ich offline gehen würde, legte mich hin und schlief innerhalb von Sekunden tief und fest. Ganz ohne Albträume.

Immer noch wartete ich.

Und wen es aus dem Sattel schoß,

Den Reiter zertritt sein eigen Roß,

Das Fahnentuch mit flatterndem Band

Geht schon in dritt’ und vierte Hand,

Ist zerschossen und zerzundert,

Der Tod mäht rascher von Schritt zu Schritt,

Leichte Brigade, was bringst Du noch mit?

Dein Siegesritt war ein Todesritt …

Als Harold um die Ecke in die Park Street bog, dachte er bei sich: Häuser haben eine Persönlichkeit. In der Park Street standen vierundachtzig Häuser, und alle sahen ähnlich aus. Alle bestanden aus Ziegelsteinen und wiesen dieselbe Bauform auf. Er stellte jedem der Häuser die Morgenzeitung zu. Während er mitten auf der Straße entlangradelte und die eingerollten Ausgaben auf die Rasen der Vorgärten, gelegentlich auch gegen die Fassade warf, ließ er den Gedanken freien Lauf. In letzter Zeit nahm er öfter die Fassaden ins Visier, weil es Spaß machte und sein Boss Cliff auf einem anderen Planeten zu weilen schien, seit seine Tochter, die rattenscharfe Henna, in die mysteriöse Schießerei verwickelt worden war, bei der man diesen Kerl am Straßenrand abgeknallt und sie es bezeugt hatte. Entweder hatten die Leute aufgehört, sich zu beschweren, oder, was wahrscheinlicher anmutete, es juckte Cliff nicht mehr. Harold drängte sich geradezu der Eindruck auf, sein Boss wäre gestorben. Ein wandelnder Leichnam.

Das merkwürdigste Haus in der Park Street war unangefochten Nummer 36. Harold wusste, dass dort jemand wohnte, denn jeden Morgen war die Zeitung vom Vortag vom Rasen verschwunden. Wer immer darin lebte, war herausgekommen, um sie zu holen. Aber gerade dadurch wirkte das Haus so merkwürdig: Es gab dort rein gar nichts. Bei allen Häusern – außer bei Nummer 36 – gab es ein Auto oder ein Fahrrad davor oder ein Haustier oder ein auffälliges Schild mit dem Namen des Hauses oder einen Grill vorne oder an der Seite. Irgendetwas. Nicht so bei Nummer 36. Nichts. Es war immer alles verschlossen. Die Vorhänge vollständig zugezogen. Keinerlei Anzeichen von Leben.

Das machte Harold zunehmend neugieriger. Da sich sein Boss nunmehr von dieser Welt verabschiedet zu haben schien, hatte Harold beschlossen, die eingerollte Zeitung gegen die Fassade von Nummer 36 zu schleudern, so kräftig er konnte, in der Hoffnung, dass die Person, die darin wohnte, vielleicht herausstürmen und ihn anbrüllen würde. Irgendetwas.

Aber nichts. So kräftig er auch warf, immer dasselbe Ergebnis. Was lief dort drin ab? Als sich Harold an diesem Morgen Nummer 36 näherte, spielte er kurz mit dem Gedanken, auf das vordere Fenster zu zielen und zu versuchen, es mit der Zeitung einzuschmeißen. Das würde bestimmt eine Reaktion provozieren. Außerdem würde es zweifellos dazu führen, dass er gefeuert wurde.

Er verlangsamte die Fahrt, als er 36 erreichte. Jawohl, wie erwartet. Nichts. Er schaute zu 34 und 38 sowie zu den Häusern mit ungeraden Nummern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Überall ging irgendetwas vor sich. Harold seufzte. Es würde wohl ein Rätsel bleiben, das er niemals lösen würde. Mit dieser Erkenntnis holte er aus und warf die eingerollte Zeitung mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte, gegen die Vordertür.

Klatsch!

Dieser kleine Flachwichser! Ich war mitten im Tiefschlaf. In meinem Traum schwebte ich durch einen goldenen Palast mit unzähligen Mädchen, die alle lange, wallende blonde Haare hatten. Es sah aus, als wären sie alle unter Wasser.

Vier Uhr morgens. Immer dieselbe Zeit. Dieser kleine Penner fängt allmählich an, mir wirklich auf die Nerven zu gehen. Ich bin sicher, dass der Scheißer die Zeitungen absichtlich gegen meine Fassade oder Tür wirft. Jeden Morgen scheint es lauter und lauter zu werden.

Ich schwöre, wenn der Pisser es noch ein einziges Mal macht, verstoße ich gegen die Regeln und hole ihn mir. Ich bringe ihn um – nein, ich schiebe ihm zuerst einen Besenstiel in den Arsch, dann bringe ich ihn um – und verscharre ihn in einer Grube in der Nähe der Mädchen. Zwar habe ich noch nie einen Jungen kaltgemacht, aber das ist etwas anderes. Das ist so, als würde ich Rechnungen bezahlen oder zum Arzt gehen, etwas, das erledigt werden muss, um die natürliche Ordnung der Dinge aufrechtzuerhalten.

An diesem Morgen sind keine Mädchen zum Spielen hier, Freunde, deshalb spule ich meine normale Routine ab, die ich befolge, wenn ich allein bin. Duschen. Rasieren. Anziehen. Die Zeitung holen. Die kleine Arschgeige ist längst weg. Frühstück machen. Gebackene Bohnen auf Toast. Essen und lesen.

Mr Farblos? Erbärmlich? Rattengesichtiger Loser? Amateur?

»Mr Richards, der als überaus erfahrener Experte für Morduntersuchungen gilt, insbesondere in Hinblick auf Serienmorde, brach heute Nachmittag sein Schweigen und teilte mit, dass der Mörder die Polizei ›zu beeindrucken‹ versuche. Einen offiziellen Kommentar seitens der Polizei gab es dazu nicht, aber Quellen aus dem Umfeld der Ermittlungen meinten, der Täter hätte versucht, mit seinen Morden zu prahlen. Mr Richards ging nicht näher darauf ein, in welcher Form geprahlt wurde, daher steht diese Information zurzeit nicht zur Verfügung, jedoch bezeichnete er den Mörder als ›Loser‹ und prägte bewusst oder unbewusst den Ausdruck ›Mr Farblos‹.«

Meine Brüder und Schwestern, könnt ihr euch vorstellen, wie ich mich gefühlt habe? Er will einen farblosen Loser? Dann soll er einen zu sehen bekommen. Ich hatte meine Rache gegen Darian bereits geplant, aber Freunde, ich habe darauf geachtet, mich an die Liste und an die Routine zu halten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, erst in einer Woche tätig zu werden.

Damit war es vorbei.

Wie ein Soldat mit neuen Befehlen stand ich auf und marschierte in die Garage, holte meine Ausrüstung hervor, Decken, mein Seil, und verstaute alles hinten im Van. Ich setzte mich auf den Fahrersitz, schloss die Tür, drückte auf die Fernbedienung und hörte das Geräusch des sich öffnenden Garagentors. Erblickte das Licht des frühen Morgens. Setzte mit dem Van zurück, hielt an, um die Garage mit der Fernbedienung wieder zu schließen, beobachtete, wie das Tor zuging, ließ den Blick noch einmal über das Haus wandern und fuhr dann die Straße hinab – die sich um diese frühmorgendliche Zeit verwaist präsentierte – in Richtung Tanawha.

Tief ins Fleisch
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