25
Opferfamilien
Nachdem Angie den Zeitungsbericht ein zweites Mal zu Ende gelesen hatte, hörte ich das Geräusch von knirschendem Schotter: Ein Auto näherte sich draußen in meinem Vorgarten. Es war noch nicht ganz fünf Uhr morgens.
Angie wirkte panisch.
»Keine Sorge«, beruhigte ich sie, stieg aus dem Bett und zog eine Jeans an. »Das sind weder die Cops, noch ist es die Presse, dafür ist es zu früh.«
Ich forderte sie auf, im Bett zu bleiben, und schloss die Tür hinter mir, als ich den Raum verließ. Ich konnte damit leben, im Rampenlicht der Presse zu stehen, Angie hingegen nicht; für sie wäre das katastrophal gewesen. Sie wusste, dass ich ihre Anonymität bei Bedarf mit tödlicher Entschlossenheit schützen würde.
Als ich die Vordertür öffnete und hinausging, wusste ich auf Anhieb, wer sich draußen befand. Ich hatte die Verzweiflung in den Geräuschen der Bremsen des Autos gehört, als es jäh zum Stehen kam. Es würden die Eltern eines der vermissten Mädchen sein.
Tatsächlich waren es alle außer Sheryl Brown. Die anderen hatten auf der Straße geparkt. Sie standen wie in einer Szene aus Die glorreichen Sieben in meinem Garten. Bildeten eine zornige Linie. Wollten Antworten.
»Für wen zum Teufel halten Sie sich eigentlich?«, lautete der Eröffnungskommentar, der von einem kleinen Kerl mit kurzer Hose und einem T-Shirt stammte, das für Foster’s-Bier warb. Izzies Vater. Er verkörperte den Vertreter der Angehörigen, ihren Sprecher, und nach den Mienen der anderen zu urteilen, hatte er sich selbst dazu erkoren. Mit anderen Worten: Er war der Lauteste. Alle trauerten, alle waren verwirrt, alle lebten in einer schrecklichen Welt der Unsicherheit, deshalb bemühte ich mich, mein Temperament im Zaum zu halten.
»Ich bin Darian Richards. Sie sind zweifellos wegen des Artikels in der heutigen Zeitung gekommen …«
»Warum hat man uns nichts gesagt?«, unterbrach mich Izzies Vater. Ich vermeinte, mich zu erinnern, dass er Alf hieß. Jedenfalls sah er wie ein Alf aus. Ich fragte mich, ob er über die Eskapaden seiner Tochter Bescheid wusste.
Obwohl ich merkte, dass es in den Rängen Unstimmigkeiten über Alfs Rolle als Sprecher gab, wurde zu seiner Frage zustimmend genickt. Warum hatte man ihnen nicht gesagt, was ich vorhatte?
»Ich mache das nicht offiziell. Ich bin sicher, Sie alle wissen, dass Zeitungen Dinge regelmäßig falsch darstellen; der Artikel in der heutigen Ausgabe ist ein gutes Beispiel dafür …«
»War er es?«, fragte eine der Mütter. Ich war nicht sicher, wessen Mutter, aber allmählich beschlich mich die Gewissheit, dass es mir nicht gelingen würde, auch nur einen Satz zu beenden.
»Der Mann, der erschossen worden ist«, fuhr sie fort, »war es er?«
Bevor ich darauf antwortete, musste ich ein paar Dinge klarstellen. »Ich bin nicht offiziell involviert. Solche Fragen müssen Sie an die Polizei richten …«
Wieder wollte sie mich unterbrechen, diesmal jedoch ließ ich es nicht zu: »Aber«, fügte ich mit Nachdruck hinzu und brachte sie dadurch zum Schweigen, »ich bezweifle stark, dass der junge Mann, der gestern Nacht getötet wurde, die Person ist, nach der die Polizei sucht.«
»Also sind wir wohl nicht wichtig, was? Ist es so? Zu uns mussten Sie nicht kommen, um mit uns zu reden, richtig? Aber zu dieser verdammten Sheryl Brown schon …«
»Alf«, tadelte ihn eine Frau, wahrscheinlich Izzies Mutter. Sie war klein und stämmig, genau wie er. Ich konnte beobachten, wie seine Verärgerung bei den anderen Unruhe auslöste. Sie wichen zurück, als wollten sie sich von seiner Wut distanzieren. Einige sahen mich mit geradezu flehentlichen Mienen an, als wollten sie sagen: Tut uns leid.
»Was?«, wollte Alf von seiner Frau wissen und wirbelte selbstgerecht vorwurfsvoll zu ihr herum. »Dieser Kerl fängt an, das Verschwinden unserer Töchter zu untersuchen, und fragt uns nicht mal, hat nicht mal die Höflichkeit, uns zu fragen!«
Damit hatte er seinen Standpunkt dargelegt, und ohne Widerspruch von seiner Frau drehte sich Alf wieder mir zu und spie mir die Frage entgegen: »Was gibt Ihnen überhaupt das Recht dazu? Wie kommen Sie darauf, dass Sie einfach aufkreuzen und über unseren Verlust ermitteln können, ohne uns zu fragen, ohne uns etwas zu sagen? Was glauben Sie denn, wer wir sind? Hä? Wer? Wer sind wir?«, fragte er und klopfte sich auf die Brust.
—
Die traurige Wahrheit lautet, dass sie irrelevant waren. Ich brauchte sie nicht; ich wollte sie nicht. Natürlich würde ich ihnen das nicht sagen, aber es stimmte.
In Viktimologie lernt man, dass man durch das Studieren des Opfers Informationen über den Killer entdeckt. Eine Betrachtung dessen, wer sie sind, verrät zumindest etwas darüber, wer er ist. Das ist wichtig und so grundlegend und offensichtlich, dass manche Ermittler dazu neigen, es zu ignorieren. Der Zugang zu Opfern wird natürlich von denjenigen gewährt, die zurückbleiben – in diesem Fall von den Eltern in meinem Garten. Allerdings hatte ich bereits alles, was ich brauchte. Alles, was ich über die Mädchen und seine Schattenspur bei ihnen benötigte, befand sich an der Wand meines Wohnzimmers. Davon war ich überzeugt.
Die Familien von Opfern, vor allem, wenn es sich bei den Opfern um Kinder handelt, entwickeln unausweichlich einen sippenartigen Zusammenhalt, verbunden durch die schockierende Gemeinsamkeit ihres Verlusts. Ihr Kummer und ihre betäubende Unfähigkeit, irgendetwas zu unternehmen, schlagen in der Regel in Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit um. Was letztlich, so traurig es ist, die Menschen zerstört, die sie einst waren. Wenn ein Kind entführt, wenn ein Leben genommen wird, dann verändert sich alles. Was man einst war, ist so tot wie das Kind oder der geliebte Mensch, den man verloren hat. Man wird zu einem Überrest.
Damals im siebten Stock, als mir die Idee kam, unterschiedliche Klingeltöne für verschiedene Kategorien von Leuten zu verwenden, mit denen wir es zu tun haben würden, gab es keine Debatte darüber, dass dafür nur Jimi Hendrix oder Neil Young infrage kamen. Ich halte nichts von Demokratie. Mein Wort gilt. Und dennoch gab es eine Debatte, als wir, nachdem wir dem Büro des Polizeichefs »Purple Haze« und Informanten »Spanish Castle Magic« zugewiesen hatten, eine Entscheidung über einen geeigneten Klingelton für die Familien von Opfern treffen mussten. Die meisten der Teams sprachen sich für »The Wind Cries Mary« aus, weil sie durchaus zu Recht fanden, dass der elegische Text zur Traurigkeit dieser Menschen passte. Sie gerieten ziemlich außer sich, als ich mich über sie hinwegsetzte und ablehnte. Ich bestimmte, dass es »Hey Joe« mit dem zornigen, kontroversen Text über Joes irrationale Entscheidung würde, seine Freundin zu töten, weil man sie mit einem anderen Kerl gesehen hatte.
Ich wurde gefragt, wie ich so herzlos sein könne.
»Die Familien trauern«, erklärte ich. »Hütet euch vor Emotionen, hütet euch vor Kummer; Kummer fällt nicht in unsere Zuständigkeit. Natürlich tun sie uns leid, aber Kummer, Bedauern, Traurigkeit – das sind keine Emotionen für die hartgesottenen Krieger der Justiz.«
Niemand stimmte mir zu, und jedes Mal, wenn »Hey Joe« im Büro ertönte, sah ich, wie sie zusammenzuckten – was genau dem entsprach, was ich erreichen wollte.
—
»Wer sind wir?«, hatte Alf gefragt.
»Weiß ich nicht«, erwiderte ich, eine Antwort, die als Reaktion unübersehbar Betroffenheit, Fassungslosigkeit, Verblüffung auslöste, bis ich auf Izzies Vater zutrat und sagte: »Außer bei Ihnen. Alf. Richtig?« Ich streckte den Arm aus, um ihm die Hand zu schütteln.
Er blinzelte Tränen weg. In seinen Augen blitzten Wut und Kummer auf – tiefer, anhaltender, grauenhafter Kummer. Schließlich ergriff er meine Hand und schüttelte sie.
»Darian.«
Er nickte nur, dann ließ er meine Hand los und trat einen Schritt zurück. Ich wandte mich an seine Frau.
»Darian«, wiederholte ich mit neuerlich ausgestreckter Hand.
»Angie«, erwiderte sie. Manchmal, korrigierte ich mich in Gedanken, gibt es bei Mordermittlungen doch Zufälle. Angie und Alf: Izzies Mutter und Vater.
Wir schüttelten uns die Hände. Ich wechselte zum nächsten Elternteil. Und zum nächsten und nächsten.
Rob; Curly. Curly und Rob: Marianne – Opfer Nummer zwei: vierzehn Jahre alt, kurze blonde Haare, zwischen den zwei Vorderzähnen eine Lücke, für deren Korrektur bereits ein Termin beim Kieferorthopäden vereinbart gewesen war. Die Schule hatte sie in ihrem Heimatort Maroochydore besucht, einer Strandortschaft eine halbe Stunde südlich von Noosa.
Donna; Neil. Donna und Neil: Jessica – Opfer Nummer vier: vierzehn Jahre alt, wurde entführt, während ich ganz in der Nähe schwamm, stammte aus Nambour, einer alten Stadt, die einst der Nabel der Zuckerrohrbranche gewesen war; durch die Hauptstraße verlaufen nach wie vor Schienen aus den Tagen, als Zuckerrohr noch mit dem Zug befördert wurde.
Johnno; Tera. Tera und Johnno: Carol – Opfer Nummer fünf: sechzehn Jahre alt, lange, blond gefärbte Haare, zuletzt auf dem Weg zum Friseur gesehen, wo sie sich die Haare nachfärben lassen wollte, weil sie am Samstag eine Geburtstagsparty gehabt hätte und sich wegen des dunklen Nachwuchses schämte. Auch sie kam aus Nambour.
Juanita; Jim. Jim und Juanita: Brianna – Opfer Nummer sechs: vierzehn Jahre alt, das Mädchen, das beim Schulabschlusskonzert »Stairway to Heaven« gespielt hatte. Sie hatte in Noosaville gelebt, acht Straßen von dort entfernt, wo wir alle gerade standen.
Ich glaube, sie erwarteten von mir, dass ich sie einladen und ihnen vielleicht Tee anbieten würde. Aber ich war fertig. Ich hatte ihnen meinen Respekt erwiesen.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte ich.
»Aber …«, setzte Juanita an. Die Worte gingen ihr aus, bevor sie zu Form und Inhalt fanden.
Ich wusste, dass sie keine Ahnung hatte, was sie eigentlich sagen wollte. Ich sagte es für sie alle: »Sie alle leben in einer Welt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Das weiß ich, das verstehe ich, aber die Polizei leistet hervorragende Arbeit und befasst sich rund um die Uhr mit dem Fall. Ich hingegen bin bloß ein Mordermittler im Ruhestand. Wenn ich Hilfe oder Rat zur offiziellen Untersuchung beisteuern kann, tue ich das. Ich wünschte, ich hätte mehr zu sagen. Ich wünschte, ich hätte Antworten. Aber die habe ich nicht.«
»Sie haben zu Sheryl Brown gesagt, dass die Mädchen alle tot sind.« Wieder Juanita. Allmählich tat sich die wahre Sprecherin hervor.
»Ich hab gelogen«, log ich. »Geben Sie die Hoffnung nicht auf.« Sie waren so erleichtert, dass niemand daran dachte, mich zu fragen, warum ich Sheryl angeblich belogen hatte – was gut war, denn mir war noch keine Antwort dazu eingefallen.
»Dürfen wir herkommen und Sie aufsuchen?« Und wieder Juanita. Die Frage, die sie alle stellen wollten.
Auf keinen Fall. Angehörige von Opfern geraten einem nur in den Weg. Es gibt einen Grund, warum Cops den Leuten sagen, sie sollen zu Hause bleiben und am Telefon warten, damit wir wissen, wo sie sind. In Wirklichkeit bedeutet das: Lassen Sie mich in Ruhe, denn leider verkörpern Sie eine Ablenkung.
»Besser nicht. Ich wünschte, ich könnte ja sagen, aber wissen Sie, das sind nicht meine Ermittlungen, nicht mal annähernd. Ich arbeite unter Anleitung der Polizei. Die haben die Fäden in der Hand. Rund um die Uhr. Die Polizei wird immer mehr wissen als ich.«
Sie glaubten mir – abgesehen von Juanita, deren eindringlicher Blick mir verriet, dass sie Bullshit einen Kilometer gegen den Wind witterte – und dankten mir. Einige segneten mich sogar, bevor sie leise gingen. Sogar die Geräusche von Alfs aus dem Garten zurücksetzendem Auto klangen verhalten und respektvoll. Es mutete wie ein beschaulicher Sonntagmorgen an.
Als ich zurück hineinging, saß Angie mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett, immer noch herrlich nackt, und las in der Zeitung ihr Horoskop. Steinbock.
»Du bist wirklich gut«, meinte sie mit aufrichtiger Anerkennung, da sie alles mit angehört hatte, was draußen gesagt worden war.
»Bin ich«, gab ich zurück und zog meine Jeans aus.
Sie hielt mein Handy hoch. »Was bedeutet ›gofish‹?«