12
Vampirjägerin
Ich bog von der Straße nach Tewantin ab und fuhr die Moorindil Street etwa zwei Kilometer entlang, bis die Fahrbahn an einem Zusammenspiel von Bäumen, Gras und Sand endete; das Flussufer. Ich rollte ans hintere Ende einer Schlange von ungefähr zwanzig Allradfahrzeugen, die alle geduldig darauf warteten, dass die Autofähre auf unsere Seite des Flusses zurückkehrte und uns nach North Shore übersetzte.
North Shore ist nur über den Wasserweg erreichbar, weist die Form einer langen, flachen Insel auf und wird auf einer Seite vom Meer, auf der anderen vom Noosa River und drei riesigen, seichten Seen gesäumt. Der Ort ist etwa einhundert Kilometer lang und drei Kilometer breit und keine Insel im eigentlichen Sinn, da er an der nördlichsten Spitze mit dem Festland verbunden ist, unmittelbar unterhalb des südlichen Endes von Fraser Island, aber er könnte genauso gut eine Insel sein. Dort oben, nachdem der Fluss zu einem schmalen Bach geschrumpft ist, der sich gewunden den Weg durch Mangrovenwälder, sumpfiges Grasland und die flachen Öden sandigen Buschlands bahnt, weist North Shore letztlich an einer Ortschaft namens Tin Can Bay eine einzige Verbindung zum Rest der Zivilisation auf.
North Shore ist die Heimat der einzigen Strandschnellstraße der Welt. Dort gelten – gewissermaßen – die Straßenverkehrsregeln: Man hält sich links. Das war’s so ziemlich. Da die Schnellstraße hundert bis zweihundert Meter breit ist – und nicht von einer Mauer oder einem Zaun, sondern von der Dünung des Meeres begrenzt wird –, kann man recht weit ausscheren. Man hält sich einfach links der Entgegenkommenden und kann fahren, so irre man will. Keine Ampeln, keine Stoppschilder, keine Kreuzungen, keine Polizei. Das ist toll, wenn man drauf steht, querfeldein über sandige Hügel zu rasen und irgendwann hängen zu bleiben. Ich habe mir sagen lassen, das Hängenbleiben soll sogar das Beste daran sein; jeder hält an und hilft dabei, einen aus dem Sand zu zerren. Je schlimmer man hängen geblieben ist, desto größer die Party. Manchmal packen die Leute Zeltmarkisen aus, zünden den Grill an und lassen Bierdosen krachen.
Knapp unterhalb der Stelle, wo sich der Asphalt buchstäblich im Sand verläuft, wurde vor ein paar Jahren mit dem Bau einer luxuriösen Fünf-Sterne-Ferienwohnanlage begonnen. Die Anlage verfügt über einhundert Wohneinheiten und liegt ein wenig vom Strand zurückversetzt, umgeben von Akazienwäldern und wildem Gras. Es gibt dort Straßenschilder, Straßenlaternen und sogar den einen oder anderen Kreisverkehr. Entlang schmaler Alleen und gepflegter Rasenstreifen hat man sorgsam Palmen gepflanzt. Es ist eine Gemeinde wohlhabender Leute. Sie versenken ihre Autos nicht absichtlich im Sand, sie reißen nicht ihre Bierdosen auf und werfen sie anschließend ins Meer; in diesem Teil von North Shore trinken die Menschen Wein, essen dünn geschnittenen Schinken und Fromage d’Affinois – oder sie würden es, wenn sie könnten. Nachdem sich die Auswirkungen des großen Finanzverbrechens – bei dem sich ein Rudel Gauner in New York einen Plan einfallen ließ, um die Leute um ihr Geld, ihre Jobs, ihre Häuser, ihr Leben zu bringen – hierher ausgebreitet hatten, brach das Konsortium, das die Anlage errichtete, unter der Last der auf Derivaten beruhenden Schulden zusammen, von denen man wahrscheinlich gar nicht wusste, dass man sie hatte. Jedenfalls wurden die Arbeiten einfach eingestellt. Einige der örtlichen Bauunternehmen holten sich Armaturen aus Küchen als verzweifelten Zahlungsersatz, da sie wussten, dass sie nie Geld zu sehen bekommen würden.
Einige Abschnitte der Anlage wurden jedoch trotzdem fertiggestellt, und die entsprechenden Wohnungen standen zum Verkauf. Deshalb erwartete mich eine überzogen lächelnde Frau Ende dreißig vor dem Tor des Noosa North Shore Dreaming Resort. Sie war spindeldürr, hatte platinblonde Haare, rote Lippen und trug einen schwarzen Anzug.
»Hi!«, rief sie mit einem Lächeln, das so breit und gezwungen wirkte, dass es geradezu echt sein musste. »Ich bin Paula, und Sie müssen Darian sein. Ich glaube, das ist der fantastischste Name, den ich je gehört habe!«, fügte sie überschwänglich hinzu. Ich bin kein großer Fan von Immobilienmaklern, aber Paula mochte ich, sobald ich einen Blick auf ihr Auto – einen schwarzen Mercedes – geworfen hatte und sah, dass auf dem Rücksitz ein erschreckendes Chaos herrschte, das unter anderem aus Kleidung, alten Zeitungen, Cola-Dosen und Schokoriegelverpackungen bestand.
»Nicht!«, rief sie, als sie bemerkte, dass ich ihren Mülleimer auf Rädern betrachtete. »Schauen Sie nicht da rein; ich bin so unordentlich wie drei bekiffte Studenten zusammen! Sie werden mich bloß hassen und mir kein Wort glauben, geschweige denn eine halbe Million Dollar für das beste Apartment ausgeben, das die Anlage hier zu bieten hat.«
»Kommen Sie, Paula«, erwiderte ich lächelnd, »kommen Sie und zeigen Sie mir den Ort meiner Träume.«
»Worauf Sie sich verlassen können!«, rief sie. »Springen Sie in den Mercedes«, forderte sie mich auf und ging zur Fahrerseite des Autos. »Wir treffen uns mit Eddie. Er hilft mir dabei, Sie herumzuführen.«
»Wer ist Eddie?«
»Er ist der Hausmeister. Er wohnt hier. Netter Kerl. Sie werden ihn lieben«, meinte sie fröhlich, dann verstummte sie kurz und warf einen Seitenblick auf mich. »Worin machen Sie, Darian?«
»Ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Früher hatte ich ein Sicherheitsunternehmen.«
»Wissen Sie, kaum waren Sie aus dem Auto gestiegen, da dachte ich mir schon, dass Sie in der Branche sein müssten. Sie erinnern mich an meinen ersten Mann; er war Mordermittler in Perth.«
Als wir die Sea Breeze Avenue hinabfuhren und uns der Anlage näherten – einer Ansammlung schlammbrauner Gebäude in gefälschtem toskanischem Look –, fragte ich Paula, wie viele Apartments belegt waren.
»Darian, das weiß ich gar nicht«, antwortete sie. »Eddie wird’s wissen. Irgendjemand ist immer hier. Auch wenn die Anlage nicht komplett fertiggestellt worden ist, zwei der vier Flügel sind rundum bewohnbar. Ich finde es toll hier. Es gibt keinen anderen Ort wie diesen auf North Shore.«
Wir fuhren durch einen Kreisverkehr und hielten vor einem Gebäude namens Ocean Breeze. Es war nicht höher als die höchste Palme und umfasste drei Geschosse. Auf jeder Ebene gab es acht Wohnungen, jede mit einem Balkon. Sah wie ein netter Ort dafür aus, sich zur Ruhe zu setzen, wenn man Golf liebte – nur gibt es auf North Shore keine Golfplätze. Auf North Shore gibt es überhaupt nicht viel außer einem Schnellstraßenstrand, um Partys zu feiern, wenn jemand hängen bleibt. Für mich sah es nicht so aus, als würden Leute, die auf solchen Spaß standen, in Ocean Breeze leben. Eigentlich sah es nicht so aus, als würde überhaupt jemand in Ocean Breeze leben. Der Ort besaß die Atmosphäre eines Friedhofs.
»Er sollte eigentlich hier sein«, murmelte Paula und griff in ihre Handtasche. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich, als sie ihr Handy herausholte und eine Kurzwahlnummer anrief.
Nach wenigen Augenblicken: »Eddie? Paula hier. Wir sind vor dem Haus.« Dann: »Gut.« Und zu mir: »Er ist unterwegs.«
Ich nickte und sah mich um. »Ziemlich ruhig hier. Ich vermute, derzeit sind nicht allzu viele Bewohner hier.«
»Es ist ruhig, Darian.« Immobilienmakler widersprechen einem nie, um keinen Preis. Genau wie Autohändler. Sie sind Experten darin, das Positive hervorzuheben. »Aber«, fügte sie hinzu, »während der Schulferien ist es anders.«
»Ah.« Ich nickte wissend. »Schulferien.« Wäre ich ein Kind, würde ich einen Blick auf diesen Schuppen werfen und schneller das Weite suchen als Usain Bolt auf Speed.
»Da ist er ja!«, rief Paula.
Eddie watschelte seitlich um das Gebäude namens Ocean Breeze herum auf uns zu. Ich versuche, meine Eindrücke von Menschen zu differenzieren, vor allem bei einem Fall, bei dem viele der Menschen, denen man begegnet, der Mörder sein könnten, nach dem man sucht. Es ist wichtig, sich nicht von Äußerlichkeiten wie Hässlichkeit, Trägheit oder schierer Unheimlichkeit ablenken zu lassen.
Eddie wies alles davon auf. Er war beleibt und schwammig, und er gehörte zu der Sorte von Kerlen, die ständig so lächeln, als wären ihnen sämtliche Geheimnisse des Universums bekannt. Als er näher kam, fiel mir auf, dass er wulstige Lippen hatte. Als er noch näher kam, sah ich, dass seine Lippen zudem feucht glänzten. Er glich einer Kröte. Eddie trug eine idiotische Uniform, die aus einer kurzen Khakihose und einer eigens für die Anlage angefertigten Safarijacke bestand. Er schien um die achtundzwanzig zu sein, man hätte ihn jedoch angesichts seiner gletscherartigen Trägheit und seiner geradezu grotesken Hässlichkeit ohne Weiteres auch für achtundsiebzig halten können.
»Hi, Eddie!«, rief Paula. »Das ist Darian.«
Eddie streckte die fette Hand aus, und ich schüttelte sie. Er leckte sich über die Lippen. Eine dicke rosa Zunge schlabberte erst über die obere, dann über die untere. Ich bemühte mich, nicht zusammenzuzucken.
»Hallo, Darian. Interessanter Name«, befand er mit einer Nagerstimme.
Ich nickte und zog die Hand rasch zurück.
»Darian möchte sich einige der Wohnungen ansehen, die zum Verkauf stehen. Ich dachte, wir zeigen ihm die drei in diesem Gebäude und dann die anderen drüben im Sunset Breeze.«
»Kein Ding«, erwiderte Eddie, zog unter dem Hemd einen Schlüssel hervor, der an einer Kette um seinen Hals hing, und schwenkte ihn. »Mit dem kommen wir überall rein.« Er lächelte Paula an und leckte sich erneut über die Lippen. Ich kämpfte gegen den Drang an, zu meinem Auto zurückzulaufen, den Schuhkarton aus seinem Versteck zu holen, die Pistole herauszunehmen und dieses Monster für das Verbrechen abzuknallen, hässlich und gruselig zu sein.
»Gehen Sie voraus, Eddie«, ergriff ich das Wort. »Wir legen uns in Ihre Hände.«
Behäbig watschelte er los. Paula und ich folgten ihm. »Darian wollte wissen, wie viele der Wohnungen belegt sind«, sagte sie.
»Ich hab gern Menschen um mich rum«, warf ich ein.
»Belegt im Sinne von verkauft oder belegt in dem Sinn, wie viele Leute gerade hier sind?«
Gut, Eddie: hervorragende Klarstellung.
»Wie viele Leute gerade hier sind.«
»Puh«, machte er.
Mittlerweile hatten wir die Stufen erklommen und Ocean Breeze durch den Haupteingang betreten. Wir durchquerten das Foyer. Es erwies sich als groß und mit braunen Marmorböden, toskanisch-braunen Wänden und vergessbaren Allzweckdrucken von Frangipanis und Mädchen in Bikinis sowie Palmen in großen Töpfen ausgestattet. Als wir am Aufzug stehen blieben, wiederholte Eddie: »Puh.«
»Na ja, da hätten wir mal die Goldmans, und sind die Robinsons noch hier?«, ergriff Paula das Wort, um ihm auf die Sprünge zu helfen.
»Weg.« Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und wir traten ein, zuerst Paula, dann ich, zuletzt Eddie, die Kröte.
»Ihre drei Monate waren um.«
»Ihre was?«, hakte ich nach.
»Oh!«, entfuhr es Paula. »Ich Dummerchen. Ich bin wohl einfach davon ausgegangen, Sie wüssten darüber Bescheid.«
»Man kann hier nicht länger als drei Monate leben«, erklärte Eddie, der über die Hälfte des Platzes im Aufzug einnahm, als wir in den zweiten Stock fuhren.
»Tut mir leid«, sagte Paula und berührte mich mit beruhigendem Griff am Arm. »Eine der Auflagen vom Bezirksrat sieht vor, dass die Aufenthaltsdauer auf drei Monate im Jahr beschränkt ist.«
Die Sunshine Coast: jeden Tag eine neue Verrücktheit.
»Man kann in einer Wohnung, die einem gehört, nicht länger als drei Monate im Jahr leben – haben Sie das gerade gesagt?«
»Ich weiß!«, rief sie mit Nachdruck und ausgestreckten Armen, als wolle sie mir verdeutlichen, dass sie es genauso verrückt fand wie ich. Schließlich kamen wir im zweiten Stock an. »Der Bezirksrat ist …«
»Das sind alles Grünschnäbel«, fiel Eddie ihr ins Wort. »Flachwichser.«
Paula warf ihm einen tadelnden Blick zu – kurz, scharf, professionell.
»Entschuldigung.«
Paula sprang ein: »Der Bezirksrat hat hier jahrzehntelang niemanden etwas bauen lassen. Es gab um die vierzig Baubewilligungen aus den 1920ern, das war alles. Sie wollen North Shore als Weltnaturerbe gelistet haben … und es ist ja auch wirklich wunderschön hier drüben«, fügte sie im Maklermodus hinzu. »Als die Bauträger endlich die Bewilligung für diese Anlage bekamen, mussten sie diese Dreimonatsauflage in Kauf nehmen.«
»Warum?«, bohrte ich nach.
»Man ist besorgt wegen des Bevölkerungsstands. Eigentlich ist das sogar gut …« Die Maklerin in ihr kam wieder durch, »… weil es bedeutet, dass Noosa nicht so überlaufen und überfrachtet wird, wie es unten an der Gold Coast ist. Sie wissen ja: Noosa ist etwas Besonderes. Etwas Vergleichbares gibt es im ganzen Land nicht, und diese Anlage – zumal sie sich auf dieser faszinierenden Insel befindet – ist auch etwas Besonderes.«
»Aber was, wenn man hier wohnen will?«, fragte ich. »Und ich meine richtig wohnen.«
Sie streckte die Hand aus, berührte mich am Arm und flüsterte: »Dann würde es nie jemand erfahren.«
»Stimmt«, bestätigte Eddie. »Ich lebe schon seit mittlerweile zwei Jahren hier.«
»Und die Leute, die jetzt hier wohnen, was ist mit denen?«
»Also«, setzte Eddie an. »Da sind die Goldmans und Naomi, die früher Investmentbankerin in Sydney war. Ian, der in Sydney Anwalt war, und seine Frau Wendy. Dann haben wir noch John und Anna – er war Buchhalter, hat dann aber kurz vor der Dürre in die Gartenbedarfsbranche gewechselt – und … oh ja, Ron. Und mich. Ich wohne dort drüben.« Er nickte zu einem weiteren identischen toskanisch-braunen Gebäude namens Sunset Breeze, das ebenfalls drei Geschosse aufwies. »Das war’s. Aber während der Schulferien ist hier ziemlich viel los.«
Die Goldmans; Ian, der Ex-Anwalt; John, der Buchhalter, der zum Lieferanten für Gartenbedarf wurde; und Ron, wer immer Ron sein mochte.
Und Eddie.
Und jeder, der regelmäßigen Zugang zu einer leer stehenden Wohnung hatte.
Eddie schloss die Tür zu einem von Paulas Objekten auf. Sie hatte sich weiter darüber ausgelassen, welche Vorteile es hatte, auf einer abgeschiedenen Insel zu leben, auf der es keine Geschäfte gab, keine Kneipen, keine Lokale oder … sonst irgendetwas, nur einen nahe gelegenen Strand, der wie etwas aus Mad Max aussah.
Das Apartment entpuppte sich als unbeeindruckend. Die Aussicht vom Balkon bestand aus Bäumen. Ich wusste, dass sich das Meer in der Nähe befand. Ich konnte die Brandung hören. Langsam drehte ich mich zu meinen Begleitern um.
»Ist toll«, log ich.
»Die Wohnung gefällt Ihnen?« Paula wirkte überrascht.
»Ja. Genau das, wonach ich suche.« Aussicht auf Bäume.
»Nur eine Sache«, fügte ich hinzu, als wäre es mir gerade eingefallen. Paula beugte sich vor, und Eddie drehte sich mir zu.
»Internet. Ich verbringe den Großteil des Tags am Computer; ich muss online sein, um meine Aktien zu überprüfen, das Portfolio im Auge zu behalten.« Ich sah Eddie an. »Gibt es hier WLAN?«
»Ja. Kostenloses WLAN in der gesamten Anlage.«
»Ich habe mir gerade diesen neuen Computer gekauft …«
»Was für einen?«, fragte er.
»Apple. Und da liegt der Hase im Pfeffer: Ich weiß überhaupt nicht, wie man damit umgeht oder eine WLAN-Verbindung herstellt; ich kann das Ding kaum einschalten, so hilflos bin ich. Gibt es hier jemanden, der sich mit solchen Dingen auskennt? Irgendein brillanter Computerexperte in der Anlage?«
»Klar«, sagte Eddie. »Er steht vor Ihnen.«
—
Ted Bundy, der eine Reihe junger Frauen umgebracht hat, war ein attraktiver Mann. Harold Shipman, der über zweihundert seiner betagten Patienten getötet hat, sah wie ein verständnisvoller, liebenswerter Familienarzt aus. Dennis Rader – bekannt als BTK-Killer – hätte man für einen Busfahrer halten können. Vergewaltiger, Folterer und Mörder John Wayne Gacy wirkte drollig und komisch. Bevor sich Charles Manson ein Hakenkreuz in die Stirn ritzte, hatte er ein wenig eigenartig angemutet, hätte aber locker als interessanter Typ mit einer harten Lebensgeschichte durchgehen können. Nur Ivan Milat sah wie die Verkörperung des Bösen aus, das er – und jeder seiner Kollegen – war.
Eddie kam unheimlich und selbstgefällig rüber und leckte sich ständig die Lippen. Er strahlte eine Aura von Aufgeblasenheit aus. Aber er wirkte nicht richtig. Er fühlte sich nicht richtig an.
Ich habe mich schon öfter geirrt, und die erste Regel bei einer Ermittlung lautet: Ausschlussverfahren.
—
Ich saß da und wartete. Von meinem Versteck im Gebüsch hatte ich perfekte Sicht in Eddies Wohnung. Ich befand mich etwa zwanzig Meter entfernt, umrahmt von verkümmerten Neuseelandmyrten und hohem Gras.
Zuvor hatte ich mich von Paula verabschiedet, mir ihre Visitenkarte geben lassen, versprochen, mich zu melden, sobald ich mich entschieden hätte, und beobachtet, wie sie die Asphaltfahrbahn hinab zur Flussfähre davonfuhr. Ich steuerte mit meinem Toyota in die entgegengesetzte Richtung, als wollte ich zur Strandschnellstraße, und passierte die Einfahrt zur Anlage.
Kurz bevor der Trampelpfad in Sand übergeht, ein kleines Stück vom Beginn des Strands entfernt, wo die »Straße« zwischen zwei hohen Dünen hindurch verläuft, befindet sich ein Parkplatz. Die Leute lassen ihre Fahrzeuge dort stehen, um ihren Rausch auszuschlafen, bevor sie nach Hause fahren; oder sie ruhen sich aus, bevor sie an einem Strandrennen teilnehmen; oder sie schlagen ihr Lager auf, wenn die Flut einsetzen könnte und die Nacht heranzieht, weil die Strandschnellstraße dann hochgradig gefährlich wird. Es hat schon Leute erwischt, die mit ihrem Auto ins Meer gespült wurden.
Mein weißer Toyota fügte sich nahtlos ins Bild. Viel anonymer ging es kaum. Niemand bemerkte, wie ich mich ins Gebüsch schlug, oder falls doch, würde es niemanden jucken, man würde bloß annehmen, ich müsste mal pinkeln.
Es gestaltete sich einfach für mich, anonym zu bleiben. Genauso einfach würde es für den Killer sein.
Ich verirrte mich nur etwa eine Stunde lang, bis ich mich schließlich zwischen einem Keil von Bäumen hindurchzwängte und in der Ferne die toskanisch-braunen Gebäude erblickte, deren Fenster die Orangetöne des Sonnenuntergangs gleißend reflektierten.
Langsam arbeitete ich mich das Haus entlang vor und versuchte, festzustellen, in welchen Apartments jemand wohnte. Eddie machte es mir leicht: Er kam auf seinen Balkon heraus und fing an, Gymnastik zu treiben; ein schauderhafter Anblick.
Normalerweise hätte ich an dieser Stelle einer Ermittlung an den Argumenten gearbeitet, die ich einem Richter vorlegen würde, um einen Durchsuchungsbefehl zu erhalten. Mein Team würde das Leben des Verdächtigen durchkämmen: Antrag bei der Telefongesellschaft auf Herausgabe der Aufzeichnungen über seine eingehenden und ausgehenden Anrufe – ein frustrierender Vorgang, der mehrere Tage in Anspruch nehmen kann –, Befragung von Freunden und Kollegen, Überprüfen von Vorstrafen, Aufbau eines Profils, bevor der Hammer niedersaust. Die stille Ermittlungsarbeit eben, die Wochen dauern kann, bevor man endlich bei einem Eigenheim eintrifft und der Verdächtige ein Klopfen an seiner Tür hört.
Ich spürte, wie mein Handy vibrierte: eine SMS.
Nichts.
Keine Vorstrafen. Eddie war sauber.
Mordermittler verlieren fast den Verstand, während sie darauf warten, dass ein Richter entscheidet, ob man das Haus eines Verdächtigen durchsuchen darf. Sie schreien am Telefon, reißen es von der Wand und schleudern es quer durchs Büro, während der Bürokrat am anderen Ende der Leitung seelenruhig erklärt, dass es fünf Werktage dauert, die Aufzeichnungen der eingehenden und ausgehenden Anrufe des Verdächtigen zu beschaffen – unabhängig davon, ob der Verdächtige ein Kind, eine Frau oder sonst jemanden in seinem Haus eingesperrt haben könnte und vielleicht ein Menschenleben auf dem Spiel steht …
Tut mir aufrichtig leid, aber ich muss mich an das Datenschutzrecht halten. Mir sind die Hände gebunden. Und ich kann Ihre Frustration nachvollziehen, Inspektor, ehrlich.
Ich lag mit der Pistole im Gürtel vor der Wohnung meines Verdächtigen auf der Lauer. Dabei trug ich meine übliche Kleidung: schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarze Converse. Die Dunkelheit der Nacht umhüllte mich. Es vermittelte mir ein gutes Gefühl, zu wissen, dass es nur Eddie und mich gab und niemand von mir verlangen würde, mich zu rechtfertigen, was immer ich tun würde.