054
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Hanara hatte gerade einen Alptraum, als der Wachsklave ihn holen kam, und jetzt, da er durch zunehmend breitere und üppiger ausgestattete Flure gezerrt, gestoßen und geschubst wurde, war er sich nicht ganz sicher, ob er wirklich wach oder noch in dem Traum gefangen war. Schließlich war er diesen Weg im Schlaf viele Male gegangen.
Diesmal fehlte jedoch alle Fremdartigkeit, und dieser Umstand sagte ihm, dass er wieder in der wachen Welt war. Keine Ungeheuer lauerten in Seitenfluren oder Räumen voller gefolterter Sklaven. Kein Takado eilte herbei, um ihn zu retten. Keine Kyralier.
Aber Takado wird in dieser Version gewiss eine Rolle spielen, ging es ihm durch den Kopf. Es sei denn, der Kaiser will abermals meine Gedanken lesen. Oder jemand anderer will es...
Er erkannte die Flure, durch die er ging, nicht wieder. Beim letzten Mal waren die Gänge schmaler gewesen als diese und erheblich weniger bevölkert. Sklaven standen wartend vor Türen oder eilten hin und her. Viele trugen die gleichen Hosen aus einem gelben Stoff, der feiner war als alles, was Hanara je zuvor bei einem Sklaven gesehen hatte. Sie alle wirkten verängstigt und gehetzt. Vor einer bestimmten Tür stand eine große Schar von Sklaven. Hanaras Magen krampfte sich zusammen, als ihm klar wurde, dass der Wachmann ihn zu ihnen hinüberführte. Die Sklaven runzelten die Stirn, und einige rangen die Hände. Er konnte hektische, schnelle Worte hören.
Sie verfielen jedoch in Schweigen, als der Wachposten Hanara zwischen ihnen hindurch zu der Tür schob. Ein Sklave, der neben der Tür stand, musterte Hanara, dann lächelte er grimmig, als er den Wachmann ansah.
»Genau zur rechten Zeit«, sagte er, bevor er sich umdrehte, um die Tür zu öffnen.
Einen Moment später stand Hanara in einem riesigen, schmalen Raum voller Säulen. In dessen Mitte stand ein Thron, wie er ihn sich größer und prachtvoller kaum vorstellen konnte. Der Herrscher sah ihn an, die Nase vor Abscheu gerümpft. Hanara warf sich auf den Boden.
»Steh auf«, flüsterte der Wachsklave und trat Hanara scharf gegen das Bein. Er erhob sich langsam und blickte zuerst zum Kaiser hinüber. Der Mann hatte sich abgewandt und seine Aufmerksamkeit jetzt auf einen Punkt am Ende des langgestreckten Saals gerichtet. Hanara schaute zwischen den Säulen hindurch, konnte jedoch nichts entdecken. Dann bemerkte er etwas auf dem Boden.
Ein Mann. Ein nackter Mann, der auf dem Rücken lag, bedeckt mit Schnittwunden und Prellungen. Hanara schaute genauer hin und sah, dass die Brust des Mannes sich hob und senkte. Er nahm eine schwache Bewegung wahr und blickte dem Mann ins Gesicht. Seine Augen waren geöffnet.
Und jähes Begreifen schlug über Hanara zusammen wie ein heißer Schwall Dampf.
Takado!
Schreckliches Mitleid und Kummer ergriffen sein Herz. Und gleichzeitig kam die Angst. Wenn Takado heute stirbt, was wird dann aus mir? Werde ich ebenfalls sterben?
Ein Krachen am anderen Ende des Raums ließ Hanara zusammenzucken. Schritte erklangen. Viele Schritte. Sie waren zunächst schwach, wurden jedoch lauter. Er beugte sich vor, um zwischen den Säulen hindurchschauen zu können, doch der Wachmann riss ihn am Arm zurück.
Als die weißgesichtigen Männer in Sicht kamen, schien es kalt zu werden im Raum.
Sie haben es geschafft, dachte er. Sie sind durch die Stadt vorgedrungen, bis zum Kaiserpalast. Nach allem, was Takado ihnen angetan hat, haben sie sich zur Wehr gesetzt und sind dann weitermarschiert, den ganzen Weg bis nach Arvice. Den ganzen Weg bis hierher.
Er konnte nicht umhin, sie dafür zu bewundern. Die barbarischen Kyralier hatten einen weiten Weg hinter sich gebracht.
Hanara erkannte König Errik und das Gesicht des Magiers zu seiner Rechten. Auf der anderen Seite des Königs stand ein Elyner. Die übrigen Männer in der Umgebung des Königs waren ihm aus den Schlachten ebenfalls vertraut. Ein Gesicht ließ ihn jedoch aufmerken. Das Gesicht des Mannes, der ihm Freiheit und eine Arbeit gegeben hatte. Lord Dakon.
Der Magier hatte ihn nicht gesehen. Sein Blick war auf Takado gerichtet. In seiner Miene rangen Entsetzen und Ärger miteinander.
König Errik blieb mehrere Schritte vor Takado stehen, und seine Aufmerksamkeit wanderte von dem Mann am Boden zum Kaiser. Er wartete, bis der Rest seiner Magier stehen geblieben und verstummt war, bevor er das Wort ergriff.
»Kaiser Vochira. Dies ist eine seltsame Art, einen Eroberer zu empfangen.«
Der Kaiser lächelte. »Gefällt Euch mein Empfang, König Errik?«
Der König musterte Takado und bleckte vor Abscheu die Zähne. »Er lebt noch. Ihr erwartet, dass mir das gefällt?«
»Er lebt und ist hilflos, und fast all seine Stärke wurde ihm genommen. Ein Geschenk für Euch oder vielleicht eine Bestechung. Oder ein Handel.«
»Und was soll ich Euch dafür geben?«
Der Kaiser erhob sich langsam und anmutig, dann stieg er vom Thron. »Das Leben meines Volkes - zumindest das jener, denen Ihr das Leben nicht bereits genommen habt. Das Leben meiner Familie. Vielleicht auch mein eigenes Leben.«
Ein heiseres, kehliges Gelächter kam vom Boden und ließ einen Schauer über Hanaras Rücken laufen.
»Wer ist jetzt der Verräter?«, hustete Takado. »Feigling.«
Der Kaiser und der König sahen zuerst den liegenden Mann an und dann wieder einander.
»Warum sollte ich Euch am Leben lassen?«, fragte der König.
»Ihr wisst, dass ich die Invasion Eures Landes nicht angeordnet habe. Wenn Eure Spione ihre Sache gut gemacht haben, solltet Ihr außerdem wissen, dass ich versucht habe, all dem Einhalt zu gebieten.«
»Aber zu guter Letzt habt Ihr die Invasion doch noch gebilligt.«
»Ja. Es war eine notwendige List. Die Armee, die ich ausgeschickt habe, sollte sich in drei Gruppen aufteilen, um diesen...« Der Kaiser schaute höhnisch auf Takado hinab. »Diesen Ichani-Rebellen zu überwältigen, wenn er mit seiner Magie am Ende war.«
»Für mich sah es so aus, als sei Eure Absicht die, an diesem Punkt selbst zu übernehmen und den Sieg für Euch zu fordern«, entgegnete der König.
Von Takado kam ein schwacher Triumphschrei. »Seht Ihr?«, schnarrte er. »Selbst der Barbarenkönig durchschaut Euch!«
Der Kaiser ignorierte ihn, sah weiter den König an. »Würdet Ihr es vorziehen, wenn ich ihn töte, oder wollt Ihr das selbst erledigen?« Er lächelte. »Oder Eure Magier?«
Die Augen des Königs wurden kalt und hart. Dann verzog sein Mund sich zu einem Lächeln.
»Ein törichter Herrscher, der seine Herrschaft allein auf Magie gründet.« Er schob eine Hand in das langärmelige Gewand, das er trug, dann zog er eine lange, gerade Klinge heraus. »Ein weiser Herrscher gründet sie auf Treue und Pflichterfüllung. Und belohnt jene, seien sie Magier oder nicht, die ihm gute Dienste leisten, auf die Art, die ihnen angemessen ist. Sie alle haben sich meine Treue und Dankbarkeit verdient, daher ist es mir unmöglich zu entscheiden, wem diese Belohnung zufallen soll.«
Der König fasste das Messer an der Klinge und hielt es hoch. »Wer immer die Klinge ergreift, darf den Mann töten.«
Hanara sah, wie die Magier hinter dem König zögerten und Blicke tauschten. Ein hochgewachsener, junger Magier trat vor und hielt inne, als ein anderer das Gleiche tat. Er drehte sich um und starrte den Mann überrascht an. Hanaras Herz setzte einen Schlag aus, als er sah, dass der andere Lord Dakon war. Das Gesicht des älteren Magiers war dunkel von undeutbaren Gefühlen. Er starrte den jüngeren Mann an, der den Kopf neigte und wieder zurücktrat.
Lord Dakon umfasste den Griff des Messers. Der König ließ die Klinge los, und als er sich umdrehte, um zu sehen, wer sie genommen hatte, riss auch er in offenkundigem Erstaunen die Augen auf.
»Lord Dakon...«, begann er, dann runzelte er die Stirn und verstummte.
Als der Magier, der Hanara die Freiheit geschenkt hatte, vor Takado hintrat, zischte dieser.
»Ihr? Was für ein Scherz ist das? Von allen Kyraliern wählt Ihr den jämmerlichsten, mich zu töten?« Er schüttelte schwach den Kopf. »Er wird mich nicht töten. Er ist viel zu zimperlich.«
Dakon nickte. »Im Gegensatz zu Euch gewinne ich dem Töten kein Vergnügen ab. Ich habe mich viele Male gefragt, warum ich an dieser Invasion Sachakas teilgenommen habe, warum ich nichts gegen das unnötige Morden unternommen habe. Jetzt sehe ich, dass ich mich so entschieden habe, um zu dem nötigen Mord zu kommen. Und ich stelle fest, dass ich nicht im Geringsten zimperlich bin.« Er ließ sich auf ein Knie fallen und hob das Messer über Takado. Hanara spürte, wie die Hand um seinen Arm sich fester in sein Fleisch bohrte. Ihm wurde klar, dass er einen Schritt nach vorne gemacht hatte.
»Ich habe es nur getan, um unserem Volk zu helfen«, rief Takado und bemühte sich, den Blick des Kaisers einzufangen.
»Gilt das nicht für uns alle«, erwiderte Dakon, und sein Arm schnellte nach unten.
Dann war es genauso wie in Hanaras Alptraum, nur dass alle Einzelheiten falsch waren. Seine Fantasie hatte erheblich grauenvollere magische Todesarten für seinen Herrn heraufbeschworen. Nicht diesen einen, sauberen Stoß.
Während Takado röchelte und seine Glieder zuckten, schrie Hanara auf. Er stemmte sich gegen den Arm des Wachpostens, versuchte jedoch nicht, mit dem Mann zu kämpfen. Sein Blick erfasste jedes Zittern, das Takado durchlief, erfasste, wie seine Muskeln sich langsam entspannten, wie das Blut sich auf seiner Brust ausbreitete und zu Boden tropfte. Er spürte eine Flüssigkeit über sein Gesicht laufen, wie die Nachahmung dessen, was dort am Boden geschah. Er wusste, dass mehrere Magier sich umgedreht hatten, um ihn anzustarren, aber es scherte ihn nicht.
Dakon erhob sich und wartete ab, und als Takado sich nicht mehr regte, beugte er sich vor und zog die Klinge heraus. Der König ergriff sie, wischte sie an einem Tuch ab, dann verstaute er das Messer wieder in seiner verborgenen Scheide. Dakon kehrte zu seinem Platz hinter dem König zurück.
Errik blickte zum Kaiser hoch und lächelte. »Ihr und Euer Rebell habt uns durch Euren Versuch, uns zu erobern, stärker gemacht, als wir es je gewesen sind. Ohne Euch wären wir schwach geblieben, Einzelgänger, die einander misstrauten. Ihr habt uns gezwungen, uns zusammenzutun, uns gezwungen, Entdeckungen zu machen, die wir noch viele Jahre lang verfeinern und weiterentwickeln werden. Es würde mich nicht überraschen, wenn das sachakanische Reich bald vergessen wäre, überschattet von dem neuen Zeitalter, das in Kyralia beginnt.«
Die Augen des Königs wurden schmal, obwohl er weiterlächelte. »Und mir persönlich habt Ihr einen großen Gefallen erwiesen. Bisher habe ich daran gezweifelt, dass mein Volk einen König ohne Magie akzeptiert hätte. Aber jetzt habe ich bewiesen, dass ein König, obwohl er keine eigene Magie besitzt, dennoch führen, dennoch einen Feind besiegen, dennoch ein Reich erobern kann. Mein Volk hatte davon bislang nichts gewusst. Das Volk von Kyralia hat selbst zur Verteidigung seines Landes beigetragen. Danach bezweifle ich, dass irgendjemand es wagen wird zu behaupten, ihr König tauge nicht zum Regieren.« Er hielt inne. »Aber es gibt eine weitere Entscheidung, die hier getroffen werden muss. Ein letzter Schritt, der getan werden muss. Ihr wisst, was das ist.«
Die Schultern des Kaisers sackten herab. »Ja. Ich weiß es«, sagte er, und seine Stimme war leise und dunkel. »Ich bin ein Magier, wie Ihr wisst. Ich habe die Stärke der besten Quellsklaven dieses Landes. Aber auch sie würde nicht ausreichen, Euch zu bezwingen. Ich werde nicht gegen Euch kämpfen.« Er richtete sich auf. »Ich kapituliere und überantworte Euch mich selbst und ganz Sachaka.«
»Ich nehme an«, antwortete der König.
Ein Murren war zu hören. Die beiden Anführer runzelten die Stirn und drehten sich zu den anderen Magiern um. Dem Ayend, der stets an der Seite des Königs gewesen war, schüttelte den Kopf und blickte den König an.
»Wir können ihm nicht trauen. Er hat höchstwahrscheinlich tatsächlich die Macht, die zu besitzen er behauptet. Solange er diese Macht hat, ist er gefährlich.«
Der König breitete die Hände aus. »Er hat kapituliert. Muss ich ihn dazu zwingen, uns seine Magie ebenso zu übergeben wie seine Macht? Das wäre zu viel verlangt von... von...«
Hanara starrte den König überrascht an. Der Kaiser betrachtete den Eroberer jedoch mit einem wissenden Blick.
»Ja«, antwortete der Elyner. »Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Er soll seine Macht in den Lagerstein fließen lassen. Natürlich nicht direkt. Jemand sollte sie von ihm nehmen und sie dann auf den Stein übertragen.«
»Was ist, wenn er denjenigen, der das tut, angreift?«, fragte jemand.
»Wenn er uns jetzt nicht bereits angegriffen hat, warum sollte er das während der Übergabe seiner Magie tun?«, wandte der Elyner vernünftigerweise ein.
»Ich erbiete mich freiwillig, die Übertragung zu übernehmen.« Der junge Magier, der sich zurückgezogen hatte, damit Dakon das Messer des Königs in Empfang nehmen konnte, trat vor.
»Danke, Lord Narvelan.« König Errik nickte. »Tut es.«
Eine seltsame Szene folgte, während derer der junge Mann die Hand des Kaisers in eine Hand nahm und die des Elyners in die andere. Der Elyner holte den großen Edelstein hervor und hielt ihn in der Faust. Ein langer, schweigsamer Augenblick verstrich, dann lösten die drei Männer sich voneinander.
Ich habe keine Ahnung, was gerade geschehen ist, ging es Hanara durch den Kopf. Was ist ein Lagerstein? Offensichtlich ist er in der Lage, Magie in sich zu bergen.
Die Gespräche wandten sich jetzt praktischen Belangen zu. Hanara hörte nicht mehr zu, und sein Blick wanderte wieder zu Takado hinüber.
Die Augen seines Herrn starrten noch immer zur Decke empor. Sein Mund war leicht geöffnet. Was würde jetzt mit ihm geschehen? Würde irgendjemand den Leichnam mit den geziemenden Riten verbrennen? Er bezweifelte es. Dann spürte er, dass jemand seinen Arm drückte, und sah auf. Einer der Magier zeigte auf ihn. Die anderen hatten sich ebenfalls umgedreht, um Hanara zu mustern.
»Er? Er ist der Sklave des Verräters«, sagte der Kaiser und deutete mit dem Kopf auf Takados Leichnam.
»Wirklich?«, fragte der junge Magier. Mutlosigkeit machte sich in Hanara breit, als der Magier auf ihn zukam und einige Schritte von ihm entfernt stehen blieb. »Du bist Hanara, nicht wahr? Ich denke, Dakon würde gern ein Wort mit dir reden.« Er lächelte, aber es lag keine Freundlichkeit in seinen Zügen. Hanara senkte den Blick und vermied es, dem Mann in die Augen zu sehen, die ein wenig irrsinnig wirkten.
»Lasst ihn gehen«, befahl der Magier.
Die Hand glitt von Hanaras Arm. Überrascht schaute Hanara auf, dann wandte er sich hastig wieder von diesen seltsamen Augen ab.
»Ich denke, ich werde vielleicht einen eigenen Sklaven benötigen, während wir die Dinge hier regeln«, sagte der Magier. »Du wirst für den Augenblick genügen. Komm mit mir.« Der Magier machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.
Hanara schluckte heftig und drehte sich zu dem Wachposten um. Der Mann zuckte die Achseln, dann machte er eine Bewegung, als wolle er ihn wegscheuchen.
»Komm.«
Hanara blickte zurück und sah, dass der Magier stehen geblieben war und ihn herbeiwinkte. Nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, zwang er sich zu gehorchen.
Vergebt mir, Herr, dachte er, als er an Takados Leichnam vorbeikam. Aber ich bin nur ein Sklave. Und ein Sklave kann sich, wie man sagt, seinen Herrn nicht aussuchen. Sein Herr sucht ihn aus.
 
Schmerz pulsierte in Tessias Kopf. Sie wäre gern wieder in eine barmherzige Ohnmacht gesunken, aber die Schärfe des Schmerzes ließ ihr keine andere Wahl. Im nächsten Moment war sie hellwach.
Sie öffnete die Augen, hob die Hände an den Kopf und tastete instinktiv nach einer Verletzung. Auf der einen Seite war eine Schwellung, aber nicht mehr, und als sie die Hände sinken ließ, hatte sie kein Blut an den Fingern.
Stockend und vorsichtig bewegte sie andere Gliedmaßen und stützte sich auf die Ellbogen. Sie ertastete weitere Prellungen, doch nichts Schlimmeres. Einen Moment lang drehte sich alles um sie herum, dann wurde ihr Kopf wieder klar.
Es geht mir gut. Ich bin nicht verletzt.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie in diesen Zustand geraten war. Sie wusste noch, dass sie den Garten hatten verlassen müssen, nachdem sie Menschen dort gehört hatten. Sie erinnerte sich daran, dass sie die Hauptstraße entlanggeeilt waren und versucht hatten, sich im Schatten zu halten. Sie erinnerte sich daran, an brennenden Häusern vorbeigekommen zu sein. Danach... nichts.
Waren sie angegriffen worden? Sie hatte sich nicht einmal mit einem Schild umgeben. Jayan hatte ihr aufgetragen, keine Magie zu benutzen, es sei denn, es ließ sich nicht vermeiden. Sie hatte nicht gesehen, was ihr das Bewusstsein geraubt hatte. Sie und …
Jayan? Wo...? Sie richtete sich auf und sah sich suchend um. Es war dunkel; nur der roter Schimmer eines Feuers war am Himmel zu sehen. Alles roch nach Rauch und Staub. Da sie nicht wagte, eine Lichtkugel zu schaffen und so das Risiko einzugehen, ihren Standort zu offenbaren, erhob sie sich und tastete ihre Umgebung ab.
Plötzlich stießen ihre Hände nicht mehr auf harten Stein, sondern auf weichen Stoff. Sie erkannte die Umrisse eines Beins unter dem Stoff. Ein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase. Metallisch. Wie Blut. Aber dann konnte sie nur noch Rauch riechen.
Vielleicht hatte sie es sich eingebildet.
»Jayan?«, flüsterte sie. »Bist du das?«
Sie tastete das Bein weiter ab, bis sie die Taille erreichte und etwas Feuchtes, Klebriges berührte. Ihr Magen schnürte sich zusammen. Er blutete. Ihre Nase hatte sie nicht getrogen.
Ich brauche Licht. Ich muss es riskieren.
Sie konzentrierte sich und schuf eine denkbar winzige Lichtkugel, die sie mit den Händen abschirmte. Sofort begriff sie: Jayan hatte schreckliche Verletzungen erlitten. Ihr Herz raste vor Angst. War er tot, oder lebte er noch? Sie nahm die Hände etwas auseinander und erweiterte so den Lichtkegel. Sofort sah sie die Wunde, ein Loch in seinem Unterleib, aus dem Blut sickerte. Hoffnung wurde in ihr wach. Wenn noch Blut floss, war er nicht tot.
»Jayan«, sagte sie und rüttelte ihn an der Schulter.
Seine Augen öffneten sich flatternd. Dann verzog er das Gesicht, presste die Augen fest zusammen und schlug sie wieder auf. Diesmal fiel sein Blick auf ihr Gesicht.
»Tessia?«, stieß er rau hervor. »Geht es dir gut?«
Eine Woge der Zuneigung durchflutete sie, überwältigte sie beinahe mit ihrer Stärke. Trotz all seiner aufreizenden Arroganz und seiner gelegentlichen Unfähigkeit, Mitgefühl für andere zu empfinden, denkt er doch an andere, bevor er an sich selbst denkt.
»Mir geht es gut. Nur ein paar Prellungen.« Sie hielt inne. »Aber dir geht es nicht gut.«
Er verzog abermals das Gesicht. »Ich fühle mich auch nicht gut.«
»Ich werde dich heilen«, erklärte sie ihm.
Er öffnete den Mund, als wolle er protestieren, dann schloss er ihn wieder und nickte. »Ich wäre enttäuscht von dir, wenn du es nicht zumindest versuchen würdest«, sagte er.
Sie schnitt eine Grimasse, dann zog sie das Tuch seines Gewandes hoch, um seinen Bauch zu entblößen. Nachdem sie die Hände links und rechts neben die Wunde gelegt hatte, schloss sie die Augen und sandte ihren Geist aus.
Sofort begriff sie, dass der Schaden noch schlimmer war, als es von außen den Anschein hatte. Irgendetwas war tief in seinen Unterleib eingedrungen und hatte die Gedärme durchbohrt. Flüssigkeiten waren durch diese Wunden in die Bauchhöhle gedrungen und richteten dort weiteren Schaden an. Blut hatte die Zwischenräume zwischen den Organen gefüllt und übte Druck auf sie auf. Zu viel Blut. Er konnte allein am Blutverlust sterben.
Einen Moment lang war sie verzweifelt. Wie konnte Magie dies heilen? Es war unmöglich. Jayan war zum Tode verurteilt.
Nein! Ich kann ihn nicht sterben lassen. Ich muss es versuchen!
Sie sammelte Magie in sich und verschloss die Wunden in den Gedärmen, um zu verhindern, dass der Inhalt heraussickerte. Dann sammelte sie den Brei, der bereits herausgelaufen war, und zwang ihn, den Körper durch die offene Bauchwunde zu verlassen. Als Nächstes leitete sie das Blut aus den Hohlräumen. Dabei entdeckte sie auch die Quelle der Blutung und schloss die verletzten Pulspfade.
Was als Nächstes?
Sie spürte, dass sein Körper schwächer wurde. Bei der Erinnerung daran, wie der Körper des vergifteten Magiers Magie benutzte, um sich selbst zu heilen, suchte sie bei Jayan nach dem gleichen Prozess.
Dort. Ich sehe es. Aber dies kann ihn nicht rechtzeitig heilen. Der Schaden ist zu groß.
Hilf mir.
Vor Überraschung hätte sich Tessias Geist beinahe aus seinem Körper zurückgezogen.
Jayan? Redest du mit mir?
Tessia? Oh, entschuldige. Ich wollte dich nicht ablenken. Ich glaube, ich habe geträumt...
Er war im Fieberwahn.
Halte durch, drängte sie ihn. Gib noch nicht auf.
Ich werde dich niemals aufgeben.
Sie konzentrierte sich wieder auf den Schaden und betrachtete ihn sorgfältig. Es musste irgendeine Möglichkeit geben, diese heilende Magie nachzuahmen. Sie versuchte, Magie in ihn zu leiten, konnte sie aber zu nichts anderem formen als zu Hitze oder Gewalt. Etwas nagte an ihr. Jayans Worte hallten in ihrem Kopf wider. »Hilf mir.« Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn sie ihn nicht retten konnte. Es musste eine Möglichkeit geben.
Moment mal... Vielleicht brauchte sie den Heilungsprozess seines Körpers nicht nachzuahmen, sondern ihm lediglich mehr Magie zur Verfügung zu stellen, ihn mit erheblich mehr Macht zu verstärken. Also sammelte sie Magie in sich und sandte sie in einem sanften, ungeformten Strom aus, damit sie sich mit dem vermischte, was von ihm bereits zu den verwundeten Bereichen seines Körpers floss. Ihre Magie wurde ein Teil dieses Flusses, wurde auf jene mysteriöse Weise geformt, die der Körper wählte, um sich selbst zu heilen. Das ist es!
Sie verdoppelte den magischen Strom und sah, wie sich die Wirkung verdoppelte. Jetzt sandte sie größere Mengen von Macht in ihn hinein und konnte beobachten, wie die Heilung schnelle Fortschritte machte. Sie konzentrierte sich auf die Risse in den Gedärmen und sah sie langsam schrumpfen, bis sie sich schlossen. Sie sandte Magie in die zerfetzten Pulspfade, und eine Woge des Triumphs schlug über ihr zusammen, als sie sich praktisch ruckartig schlossen. Der allgemeine Schaden, den die giftigen Flüssigkeiten in seinem Innern angerichtet hatten, war schwerer zu greifen, aber schon bald konnte sie spüren, wie auch hier die Dinge wieder ins Lot kamen.
Während sie Magie in ihn hineinfließen ließ, konnte sie mehr und mehr fühlen, wie sein Körper die Magie benutzte. Sie verstand es auf eine instinktive Weise, die sie einem anderen nicht hätte erklären können. Wenn ich mir irgendwie einprägen könnte, wie sich dies anfühlt und wie die Magie fließt, könnte ich vielleicht meine eigene Magie auch bei Nichtmagiern anwenden und sie ebenfalls heilen.
Schon bald waren sämtliche Schäden in seinem Unterleib mehr oder weniger behoben. Sie konzentrierte sich auf den Riss in seiner Haut und verstärkte den Fluss der Magie, bis Fleisch mit Fleisch verschmolz. Aber noch während sie beobachtete, wie sich das Narbengewebe bildete, wusste sie, dass er noch nicht zur Gänze geheilt war.
Er hatte eine Menge Blut verloren. Als sie tiefer in ihn hineintauchte, fragte sie sich, ob sie irgendetwas tun konnte, um das Blut zu ersetzen. Die Heiler waren sich nicht einig darin, welches Organ Blut herstellte. Aber wenn er sich ausruhte, wenn er aß und etwas Wasser trank, würde sein Körper sich vielleicht selbst heilen.
Tessia?
Ja, Jayan?
Ich habe es gespürt. Ich habe gespürt, wie du mich geheilt hast. Ich habe es mir nicht eingebildet, nicht wahr?
Nein. Ich habe es gefunden. Das Geheimnis. Es ist...
Verrate es mir nicht.
Was? Warum nicht? Es müssen mehr Menschen davon erfahren. Falls du es vergessen hast, wir befinden uns beide noch immer mitten in einem Krieg und sitzen ganz allein in einer Stadt voller Menschen, die uns töten wollen. Wenn wir sterben, wird diese Entdeckung verloren sein.
Sie spürte eine Woge unterschiedlicher Gefühle von ihm. Furcht. Den Drang, sie zu beschützen. Zuneigung. Sehnsucht. Sie waren verworren, aber da war noch etwas anderes. Sprich nicht über den Tod, sagte er. Du musst diesen Krieg überleben. Ich habe zu lange gewartet, und er ist beinahe vorüber.
Wovon redest du?
Aber sie kannte die Antwort, noch während sie die Frage stellte. Sie spürte, wie sie durch die Risse seiner Selbstbeherrschung sickerte. Noch während sie die Wahrheit erkannte und Staunen in ihr aufstieg, spürte sie, dass ihr Körper auf eine Weise reagierte, die kein Heiler jemals zufriedenstellend hatte erklären können. Es war eines der großen Rätsel. Eins der ergötzlicheren Rätsel, hatte ihr Vater einmal gesagt. Wozu diente das Herz, außer zum Pumpen von Blut? Warum tat es dann noch dieses andere, Unerklärliche?
Und warum ich? Warum nicht irgendeine reiche Frau. Eine hübsche Meisterschülerin?
Ich liebe dich, antwortete er ihr.
Süßes Glück durchströmte sie. Aber seine Worte besaßen auch eine unüberhörbare Selbstgefälligkeit. Er spürte seinerseits ihre Gefühle und war deswegen hochzufrieden mit sich selbst.
Wie sich herausstellt, liebe ich dich ebenfalls, erwiderte sie und übermittelte ihm ihre Erheiterung. Von allen aufreizenden Menschen auf der Welt musstest ausgerechnet du es sein.
Arme Tessia, spottete er.
Sobald wir nach Imardin zurückkommen, wirst du ganz sicher mit reichen, hübschen Mädchen flirten. Vielleicht sollte ich dir das Geheimnis der Heilung doch nicht verraten. Es würde dich nur umso reizvoller für sie machen.
Noch reizvoller, als ich es ohnehin schon bin? Er gab ihr keine Zeit zu einer Antwort. Tatsächlich hast du recht. Es wäre sicherer, wenn noch jemand davon wüsste.
Also erklärte sie es ihm, und als sie davon überzeugt war, dass er es verstanden hatte, zog sie ihren Geist aus seinem Körper zurück. Als sie die Augen aufschlug, spürte sie eine Hand im Nacken, die sie hinabzog. Jayan erhob sich und drückte seinen Mund auf ihren. Überrascht leistete sie einen Moment lang Widerstand. Dann überlief sie ein Schaudern, nicht kalt, sondern warm und wunderbar. Sie erwiderte seinen Kuss; die Art, wie seine Lippen sich auf ihren bewegten, gefiel ihr ungemein.
Ich könnte mich daran gewöhnen.
Sie hätte beinahe protestiert, als er sie losließ. Sie sahen einander noch einen Moment lang an, dann begannen beide zu lächeln. Jayans Lächeln verblasste jedoch sofort wieder. Er stemmte sich hoch, blickte auf seine blutverschmierten Kleider hinab, verzog das Gesicht und legte sich eine Hand auf die Stirn.
»Mir ist schwindlig«, sagte er.
»Du wirst dich noch für eine Weile sehr schwach fühlen«, erwiderte sie.
»Wir können nicht hierbleiben.«
»Nein«, stimmte sie ihm zu und stand auf. Als sie sich umschaute, entdeckte sie ein beinahe ausgebranntes Haus. »Wir sollten uns bis zum Morgen dort verstecken. Es wird sich niemand die Mühe machen, in das Haus einzudringen, weil alles von Wert verbrannt sein wird und die Mauern einstürzen könnten. Ich kann uns mit einem Schild schützen.«
»Ja. Wir können Wache halten und hinausgehen, wenn jemand vorbeikommt, den wir kennen. Es könnte eine Weile dauern, aber irgendwann wird gewiss jemand kommen. Wo ist deine Tasche?«
»Ich weiß es nicht. Aber es spielt auch keine Rolle. Wenn ich diese Art des Heilens auch bei Nichtmagiern anwenden kann, werde ich keine Heilmittel oder Instrumente mehr benötigen.«
Er nickte, dann richtete er sich langsam auf; zuerst ging er in die Hocke, dann beugte er sich vor, und schließlich stand er. Als sie auf das Haus zugingen, stieg eine Woge der Müdigkeit in ihr auf, und sie stolperte. Das Heilen hatte sie mehr Magie gekostet, als ihr bewusst gewesen war.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte Jayan.
»Ja. Ich bin nur müde.«
»Nun, warte zumindest, bis wir im Haus sind, bevor du einschläfst, ja?«
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, dann ließ sie sich von ihm durch die Tür führen.
Magie
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