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Hanara hatte gerade einen Alptraum, als der
Wachsklave ihn holen kam, und jetzt, da er durch zunehmend breitere
und üppiger ausgestattete Flure gezerrt, gestoßen und geschubst
wurde, war er sich nicht ganz sicher, ob er wirklich wach oder noch
in dem Traum gefangen war. Schließlich war er diesen Weg im Schlaf
viele Male gegangen.
Diesmal fehlte jedoch alle Fremdartigkeit, und
dieser Umstand sagte ihm, dass er wieder in der wachen Welt war.
Keine Ungeheuer lauerten in Seitenfluren oder Räumen voller
gefolterter Sklaven. Kein Takado eilte herbei, um ihn zu retten.
Keine Kyralier.
Aber Takado wird in dieser Version gewiss eine
Rolle spielen, ging es ihm durch den Kopf. Es sei denn, der
Kaiser will abermals meine Gedanken lesen. Oder jemand anderer will
es...
Er erkannte die Flure, durch die er ging, nicht
wieder. Beim letzten Mal waren die Gänge schmaler gewesen als diese
und erheblich weniger bevölkert. Sklaven standen wartend vor Türen
oder eilten hin und her. Viele trugen die gleichen Hosen aus einem
gelben Stoff, der feiner war als alles, was Hanara je zuvor bei
einem Sklaven gesehen hatte. Sie alle wirkten verängstigt und
gehetzt. Vor einer bestimmten Tür stand eine große Schar von
Sklaven. Hanaras Magen krampfte sich zusammen, als ihm klar wurde,
dass der Wachmann ihn zu ihnen hinüberführte. Die Sklaven runzelten
die Stirn, und einige rangen die Hände. Er konnte hektische,
schnelle Worte hören.
Sie verfielen jedoch in Schweigen, als der
Wachposten Hanara zwischen ihnen hindurch zu der Tür schob. Ein
Sklave, der neben der Tür stand, musterte Hanara, dann lächelte er
grimmig, als er den Wachmann ansah.
»Genau zur rechten Zeit«, sagte er, bevor er sich
umdrehte, um die Tür zu öffnen.
Einen Moment später stand Hanara in einem riesigen,
schmalen Raum voller Säulen. In dessen Mitte stand ein Thron, wie
er ihn sich größer und prachtvoller kaum vorstellen konnte. Der
Herrscher sah ihn an, die Nase vor Abscheu gerümpft. Hanara warf
sich auf den Boden.
»Steh auf«, flüsterte der Wachsklave und trat
Hanara scharf gegen das Bein. Er erhob sich langsam und blickte
zuerst zum Kaiser hinüber. Der Mann hatte sich abgewandt und seine
Aufmerksamkeit jetzt auf einen Punkt am Ende des langgestreckten
Saals gerichtet. Hanara schaute zwischen den Säulen hindurch,
konnte jedoch nichts entdecken. Dann bemerkte er etwas auf dem
Boden.
Ein Mann. Ein nackter Mann, der auf dem Rücken lag,
bedeckt mit Schnittwunden und Prellungen. Hanara schaute genauer
hin und sah, dass die Brust des Mannes sich hob und senkte. Er nahm
eine schwache Bewegung wahr und blickte dem Mann ins Gesicht. Seine
Augen waren geöffnet.
Und jähes Begreifen schlug über Hanara zusammen wie
ein heißer Schwall Dampf.
Takado!
Schreckliches Mitleid und Kummer ergriffen sein
Herz. Und gleichzeitig kam die Angst. Wenn Takado heute stirbt,
was wird dann aus mir? Werde ich ebenfalls sterben?
Ein Krachen am anderen Ende des Raums ließ Hanara
zusammenzucken. Schritte erklangen. Viele Schritte. Sie waren
zunächst schwach, wurden jedoch lauter. Er beugte sich vor, um
zwischen den Säulen hindurchschauen zu können, doch der Wachmann
riss ihn am Arm zurück.
Als die weißgesichtigen Männer in Sicht kamen,
schien es kalt zu werden im Raum.
Sie haben es geschafft, dachte er. Sie
sind durch die Stadt vorgedrungen, bis zum Kaiserpalast. Nach
allem, was Takado ihnen angetan hat, haben sie sich zur Wehr
gesetzt und sind dann weitermarschiert, den ganzen Weg bis nach
Arvice. Den ganzen Weg bis hierher.
Er konnte nicht umhin, sie dafür zu bewundern. Die
barbarischen Kyralier hatten einen weiten Weg hinter sich
gebracht.
Hanara erkannte König Errik und das Gesicht des
Magiers zu seiner Rechten. Auf der anderen Seite des Königs stand
ein Elyner. Die übrigen Männer in der Umgebung des Königs waren ihm
aus den Schlachten ebenfalls vertraut. Ein Gesicht ließ ihn jedoch
aufmerken. Das Gesicht des Mannes, der ihm Freiheit und eine Arbeit
gegeben hatte. Lord Dakon.
Der Magier hatte ihn nicht gesehen. Sein Blick war
auf Takado gerichtet. In seiner Miene rangen Entsetzen und Ärger
miteinander.
König Errik blieb mehrere Schritte vor Takado
stehen, und seine Aufmerksamkeit wanderte von dem Mann am Boden
zum Kaiser. Er wartete, bis der Rest seiner Magier stehen
geblieben und verstummt war, bevor er das Wort ergriff.
»Kaiser Vochira. Dies ist eine seltsame Art, einen
Eroberer zu empfangen.«
Der Kaiser lächelte. »Gefällt Euch mein Empfang,
König Errik?«
Der König musterte Takado und bleckte vor Abscheu
die Zähne. »Er lebt noch. Ihr erwartet, dass mir das
gefällt?«
»Er lebt und ist hilflos, und fast all seine Stärke
wurde ihm genommen. Ein Geschenk für Euch oder vielleicht eine
Bestechung. Oder ein Handel.«
»Und was soll ich Euch dafür geben?«
Der Kaiser erhob sich langsam und anmutig, dann
stieg er vom Thron. »Das Leben meines Volkes - zumindest das jener,
denen Ihr das Leben nicht bereits genommen habt. Das Leben meiner
Familie. Vielleicht auch mein eigenes Leben.«
Ein heiseres, kehliges Gelächter kam vom Boden und
ließ einen Schauer über Hanaras Rücken laufen.
»Wer ist jetzt der Verräter?«, hustete Takado.
»Feigling.«
Der Kaiser und der König sahen zuerst den liegenden
Mann an und dann wieder einander.
»Warum sollte ich Euch am Leben lassen?«, fragte
der König.
»Ihr wisst, dass ich die Invasion Eures Landes
nicht angeordnet habe. Wenn Eure Spione ihre Sache gut gemacht
haben, solltet Ihr außerdem wissen, dass ich versucht habe, all dem
Einhalt zu gebieten.«
»Aber zu guter Letzt habt Ihr die Invasion doch
noch gebilligt.«
»Ja. Es war eine notwendige List. Die Armee, die
ich ausgeschickt habe, sollte sich in drei Gruppen aufteilen, um
diesen...« Der Kaiser schaute höhnisch auf Takado hinab. »Diesen
Ichani-Rebellen zu überwältigen, wenn er mit seiner Magie am Ende
war.«
»Für mich sah es so aus, als sei Eure Absicht die,
an diesem Punkt selbst zu übernehmen und den Sieg für Euch zu
fordern«, entgegnete der König.
Von Takado kam ein schwacher Triumphschrei. »Seht
Ihr?«, schnarrte er. »Selbst der Barbarenkönig durchschaut
Euch!«
Der Kaiser ignorierte ihn, sah weiter den König an.
»Würdet Ihr es vorziehen, wenn ich ihn töte, oder wollt Ihr das
selbst erledigen?« Er lächelte. »Oder Eure Magier?«
Die Augen des Königs wurden kalt und hart. Dann
verzog sein Mund sich zu einem Lächeln.
»Ein törichter Herrscher, der seine Herrschaft
allein auf Magie gründet.« Er schob eine Hand in das langärmelige
Gewand, das er trug, dann zog er eine lange, gerade Klinge heraus.
»Ein weiser Herrscher gründet sie auf Treue und Pflichterfüllung.
Und belohnt jene, seien sie Magier oder nicht, die ihm gute Dienste
leisten, auf die Art, die ihnen angemessen ist. Sie alle haben sich
meine Treue und Dankbarkeit verdient, daher ist es mir unmöglich zu
entscheiden, wem diese Belohnung zufallen soll.«
Der König fasste das Messer an der Klinge und hielt
es hoch. »Wer immer die Klinge ergreift, darf den Mann
töten.«
Hanara sah, wie die Magier hinter dem König
zögerten und Blicke tauschten. Ein hochgewachsener, junger Magier
trat vor und hielt inne, als ein anderer das Gleiche tat. Er drehte
sich um und starrte den Mann überrascht an. Hanaras Herz setzte
einen Schlag aus, als er sah, dass der andere Lord Dakon war. Das
Gesicht des älteren Magiers war dunkel von undeutbaren Gefühlen. Er
starrte den jüngeren Mann an, der den Kopf neigte und wieder
zurücktrat.
Lord Dakon umfasste den Griff des Messers. Der
König ließ die Klinge los, und als er sich umdrehte, um zu sehen,
wer sie genommen hatte, riss auch er in offenkundigem Erstaunen die
Augen auf.
»Lord Dakon...«, begann er, dann runzelte er die
Stirn und verstummte.
Als der Magier, der Hanara die Freiheit geschenkt
hatte, vor Takado hintrat, zischte dieser.
»Ihr? Was für ein Scherz ist das? Von allen
Kyraliern wählt Ihr den jämmerlichsten, mich zu töten?« Er
schüttelte schwach den Kopf. »Er wird mich nicht töten. Er ist viel
zu zimperlich.«
Dakon nickte. »Im Gegensatz zu Euch gewinne ich dem
Töten kein Vergnügen ab. Ich habe mich viele Male gefragt, warum
ich an dieser Invasion Sachakas teilgenommen habe, warum ich nichts
gegen das unnötige Morden unternommen habe. Jetzt sehe ich, dass
ich mich so entschieden habe, um zu dem nötigen Mord zu kommen. Und
ich stelle fest, dass ich nicht im Geringsten zimperlich bin.« Er
ließ sich auf ein Knie fallen und hob das Messer über Takado.
Hanara spürte, wie die Hand um seinen Arm sich fester in sein
Fleisch bohrte. Ihm wurde klar, dass er einen Schritt nach vorne
gemacht hatte.
»Ich habe es nur getan, um unserem Volk zu helfen«,
rief Takado und bemühte sich, den Blick des Kaisers
einzufangen.
»Gilt das nicht für uns alle«, erwiderte Dakon, und
sein Arm schnellte nach unten.
Dann war es genauso wie in Hanaras Alptraum, nur
dass alle Einzelheiten falsch waren. Seine Fantasie hatte erheblich
grauenvollere magische Todesarten für seinen Herrn
heraufbeschworen. Nicht diesen einen, sauberen Stoß.
Während Takado röchelte und seine Glieder zuckten,
schrie Hanara auf. Er stemmte sich gegen den Arm des Wachpostens,
versuchte jedoch nicht, mit dem Mann zu kämpfen. Sein Blick
erfasste jedes Zittern, das Takado durchlief, erfasste, wie seine
Muskeln sich langsam entspannten, wie das Blut sich auf seiner
Brust ausbreitete und zu Boden tropfte. Er spürte eine Flüssigkeit
über sein Gesicht laufen, wie die Nachahmung dessen, was dort am
Boden geschah. Er wusste, dass mehrere Magier sich umgedreht
hatten, um ihn anzustarren, aber es scherte ihn nicht.
Dakon erhob sich und wartete ab, und als Takado
sich nicht mehr regte, beugte er sich vor und zog die Klinge
heraus. Der König ergriff sie, wischte sie an einem Tuch ab, dann
verstaute er das Messer wieder in seiner verborgenen Scheide. Dakon
kehrte zu seinem Platz hinter dem König zurück.
Errik blickte zum Kaiser hoch und lächelte. »Ihr
und Euer Rebell habt uns durch Euren Versuch, uns zu erobern,
stärker gemacht, als wir es je gewesen sind. Ohne Euch wären wir
schwach geblieben, Einzelgänger, die einander misstrauten. Ihr
habt uns gezwungen, uns zusammenzutun, uns gezwungen, Entdeckungen
zu machen, die wir noch viele Jahre lang verfeinern und
weiterentwickeln werden. Es würde mich nicht überraschen, wenn das
sachakanische Reich bald vergessen wäre, überschattet von dem neuen
Zeitalter, das in Kyralia beginnt.«
Die Augen des Königs wurden schmal, obwohl er
weiterlächelte. »Und mir persönlich habt Ihr einen großen Gefallen
erwiesen. Bisher habe ich daran gezweifelt, dass mein Volk einen
König ohne Magie akzeptiert hätte. Aber jetzt habe ich bewiesen,
dass ein König, obwohl er keine eigene Magie besitzt, dennoch
führen, dennoch einen Feind besiegen, dennoch ein Reich erobern
kann. Mein Volk hatte davon bislang nichts gewusst. Das Volk von
Kyralia hat selbst zur Verteidigung seines Landes beigetragen.
Danach bezweifle ich, dass irgendjemand es wagen wird zu behaupten,
ihr König tauge nicht zum Regieren.« Er hielt inne. »Aber es gibt
eine weitere Entscheidung, die hier getroffen werden muss. Ein
letzter Schritt, der getan werden muss. Ihr wisst, was das
ist.«
Die Schultern des Kaisers sackten herab. »Ja. Ich
weiß es«, sagte er, und seine Stimme war leise und dunkel. »Ich
bin ein Magier, wie Ihr wisst. Ich habe die Stärke der
besten Quellsklaven dieses Landes. Aber auch sie würde nicht
ausreichen, Euch zu bezwingen. Ich werde nicht gegen Euch kämpfen.«
Er richtete sich auf. »Ich kapituliere und überantworte Euch mich
selbst und ganz Sachaka.«
»Ich nehme an«, antwortete der König.
Ein Murren war zu hören. Die beiden Anführer
runzelten die Stirn und drehten sich zu den anderen Magiern um. Dem
Ayend, der stets an der Seite des Königs gewesen war, schüttelte
den Kopf und blickte den König an.
»Wir können ihm nicht trauen. Er hat
höchstwahrscheinlich tatsächlich die Macht, die zu besitzen er
behauptet. Solange er diese Macht hat, ist er gefährlich.«
Der König breitete die Hände aus. »Er hat
kapituliert. Muss ich ihn dazu zwingen, uns seine Magie ebenso zu
übergeben wie seine Macht? Das wäre zu viel verlangt von...
von...«
Hanara starrte den König überrascht an. Der Kaiser
betrachtete den Eroberer jedoch mit einem wissenden Blick.
»Ja«, antwortete der Elyner. »Aber es gibt noch
eine andere Möglichkeit. Er soll seine Macht in den Lagerstein
fließen lassen. Natürlich nicht direkt. Jemand sollte sie von ihm
nehmen und sie dann auf den Stein übertragen.«
»Was ist, wenn er denjenigen, der das tut,
angreift?«, fragte jemand.
»Wenn er uns jetzt nicht bereits angegriffen hat,
warum sollte er das während der Übergabe seiner Magie tun?«, wandte
der Elyner vernünftigerweise ein.
»Ich erbiete mich freiwillig, die Übertragung zu
übernehmen.« Der junge Magier, der sich zurückgezogen hatte, damit
Dakon das Messer des Königs in Empfang nehmen konnte, trat
vor.
»Danke, Lord Narvelan.« König Errik nickte. »Tut
es.«
Eine seltsame Szene folgte, während derer der junge
Mann die Hand des Kaisers in eine Hand nahm und die des Elyners in
die andere. Der Elyner holte den großen Edelstein hervor und hielt
ihn in der Faust. Ein langer, schweigsamer Augenblick verstrich,
dann lösten die drei Männer sich voneinander.
Ich habe keine Ahnung, was gerade geschehen
ist, ging es Hanara durch den Kopf. Was ist ein Lagerstein?
Offensichtlich ist er in der Lage, Magie in sich zu
bergen.
Die Gespräche wandten sich jetzt praktischen
Belangen zu. Hanara hörte nicht mehr zu, und sein Blick wanderte
wieder zu Takado hinüber.
Die Augen seines Herrn starrten noch immer zur
Decke empor. Sein Mund war leicht geöffnet. Was würde jetzt mit ihm
geschehen? Würde irgendjemand den Leichnam mit den geziemenden
Riten verbrennen? Er bezweifelte es. Dann spürte er, dass jemand
seinen Arm drückte, und sah auf. Einer der Magier zeigte auf ihn.
Die anderen hatten sich ebenfalls umgedreht, um Hanara zu
mustern.
»Er? Er ist der Sklave des Verräters«, sagte der
Kaiser und deutete mit dem Kopf auf Takados Leichnam.
»Wirklich?«, fragte der junge Magier. Mutlosigkeit
machte sich in Hanara breit, als der Magier auf ihn zukam und
einige Schritte von ihm entfernt stehen blieb. »Du bist Hanara,
nicht wahr? Ich denke, Dakon würde gern ein Wort mit dir reden.« Er
lächelte, aber es lag keine Freundlichkeit in seinen Zügen. Hanara
senkte den Blick und vermied es, dem Mann in die Augen zu sehen,
die ein wenig irrsinnig wirkten.
»Lasst ihn gehen«, befahl der Magier.
Die Hand glitt von Hanaras Arm. Überrascht schaute
Hanara auf, dann wandte er sich hastig wieder von diesen seltsamen
Augen ab.
»Ich denke, ich werde vielleicht einen eigenen
Sklaven benötigen, während wir die Dinge hier regeln«, sagte der
Magier. »Du wirst für den Augenblick genügen. Komm mit mir.« Der
Magier machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.
Hanara schluckte heftig und drehte sich zu dem
Wachposten um. Der Mann zuckte die Achseln, dann machte er eine
Bewegung, als wolle er ihn wegscheuchen.
»Komm.«
Hanara blickte zurück und sah, dass der Magier
stehen geblieben war und ihn herbeiwinkte. Nachdem er einmal tief
Luft geholt hatte, zwang er sich zu gehorchen.
Vergebt mir, Herr, dachte er, als er an
Takados Leichnam vorbeikam. Aber ich bin nur ein Sklave. Und ein
Sklave kann sich, wie man sagt, seinen Herrn nicht aussuchen. Sein
Herr sucht ihn aus.
Schmerz pulsierte in Tessias Kopf. Sie wäre gern
wieder in eine barmherzige Ohnmacht gesunken, aber die Schärfe des
Schmerzes ließ ihr keine andere Wahl. Im nächsten Moment war sie
hellwach.
Sie öffnete die Augen, hob die Hände an den Kopf
und tastete instinktiv nach einer Verletzung. Auf der einen Seite
war eine Schwellung, aber nicht mehr, und als sie die Hände sinken
ließ, hatte sie kein Blut an den Fingern.
Stockend und vorsichtig bewegte sie andere
Gliedmaßen und stützte sich auf die Ellbogen. Sie ertastete weitere
Prellungen,
doch nichts Schlimmeres. Einen Moment lang drehte sich alles um
sie herum, dann wurde ihr Kopf wieder klar.
Es geht mir gut. Ich bin nicht
verletzt.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie in
diesen Zustand geraten war. Sie wusste noch, dass sie den Garten
hatten verlassen müssen, nachdem sie Menschen dort gehört hatten.
Sie erinnerte sich daran, dass sie die Hauptstraße entlanggeeilt
waren und versucht hatten, sich im Schatten zu halten. Sie
erinnerte sich daran, an brennenden Häusern vorbeigekommen zu sein.
Danach... nichts.
Waren sie angegriffen worden? Sie hatte sich nicht
einmal mit einem Schild umgeben. Jayan hatte ihr aufgetragen, keine
Magie zu benutzen, es sei denn, es ließ sich nicht vermeiden. Sie
hatte nicht gesehen, was ihr das Bewusstsein geraubt hatte. Sie und
…
Jayan? Wo...? Sie richtete sich auf und sah
sich suchend um. Es war dunkel; nur der roter Schimmer eines Feuers
war am Himmel zu sehen. Alles roch nach Rauch und Staub. Da sie
nicht wagte, eine Lichtkugel zu schaffen und so das Risiko
einzugehen, ihren Standort zu offenbaren, erhob sie sich und
tastete ihre Umgebung ab.
Plötzlich stießen ihre Hände nicht mehr auf harten
Stein, sondern auf weichen Stoff. Sie erkannte die Umrisse eines
Beins unter dem Stoff. Ein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase.
Metallisch. Wie Blut. Aber dann konnte sie nur noch Rauch
riechen.
Vielleicht hatte sie es sich eingebildet.
»Jayan?«, flüsterte sie. »Bist du das?«
Sie tastete das Bein weiter ab, bis sie die Taille
erreichte und etwas Feuchtes, Klebriges berührte. Ihr Magen
schnürte sich zusammen. Er blutete. Ihre Nase hatte sie nicht
getrogen.
Ich brauche Licht. Ich muss es
riskieren.
Sie konzentrierte sich und schuf eine denkbar
winzige Lichtkugel, die sie mit den Händen abschirmte. Sofort
begriff sie: Jayan hatte schreckliche Verletzungen erlitten. Ihr
Herz raste vor Angst. War er tot, oder lebte er noch? Sie nahm die
Hände etwas auseinander und erweiterte so den Lichtkegel. Sofort
sah sie die Wunde, ein Loch in seinem Unterleib, aus dem Blut
sickerte. Hoffnung wurde in ihr wach. Wenn noch Blut floss, war er
nicht tot.
»Jayan«, sagte sie und rüttelte ihn an der
Schulter.
Seine Augen öffneten sich flatternd. Dann verzog er
das Gesicht, presste die Augen fest zusammen und schlug sie wieder
auf. Diesmal fiel sein Blick auf ihr Gesicht.
»Tessia?«, stieß er rau hervor. »Geht es dir
gut?«
Eine Woge der Zuneigung durchflutete sie,
überwältigte sie beinahe mit ihrer Stärke. Trotz all seiner
aufreizenden Arroganz und seiner gelegentlichen Unfähigkeit,
Mitgefühl für andere zu empfinden, denkt er doch an andere, bevor
er an sich selbst denkt.
»Mir geht es gut. Nur ein paar Prellungen.« Sie
hielt inne. »Aber dir geht es nicht gut.«
Er verzog abermals das Gesicht. »Ich fühle mich
auch nicht gut.«
»Ich werde dich heilen«, erklärte sie ihm.
Er öffnete den Mund, als wolle er protestieren,
dann schloss er ihn wieder und nickte. »Ich wäre enttäuscht von
dir, wenn du es nicht zumindest versuchen würdest«, sagte er.
Sie schnitt eine Grimasse, dann zog sie das Tuch
seines Gewandes hoch, um seinen Bauch zu entblößen. Nachdem sie die
Hände links und rechts neben die Wunde gelegt hatte, schloss sie
die Augen und sandte ihren Geist aus.
Sofort begriff sie, dass der Schaden noch schlimmer
war, als es von außen den Anschein hatte. Irgendetwas war tief in
seinen Unterleib eingedrungen und hatte die Gedärme durchbohrt.
Flüssigkeiten waren durch diese Wunden in die Bauchhöhle gedrungen
und richteten dort weiteren Schaden an. Blut hatte die
Zwischenräume zwischen den Organen gefüllt und übte Druck auf sie
auf. Zu viel Blut. Er konnte allein am Blutverlust sterben.
Einen Moment lang war sie verzweifelt. Wie konnte
Magie dies heilen? Es war unmöglich. Jayan war zum Tode
verurteilt.
Nein! Ich kann ihn nicht sterben lassen. Ich
muss es versuchen!
Sie sammelte Magie in sich und verschloss die
Wunden in
den Gedärmen, um zu verhindern, dass der Inhalt heraussickerte.
Dann sammelte sie den Brei, der bereits herausgelaufen war, und
zwang ihn, den Körper durch die offene Bauchwunde zu verlassen. Als
Nächstes leitete sie das Blut aus den Hohlräumen. Dabei entdeckte
sie auch die Quelle der Blutung und schloss die verletzten
Pulspfade.
Was als Nächstes?
Sie spürte, dass sein Körper schwächer wurde. Bei
der Erinnerung daran, wie der Körper des vergifteten Magiers Magie
benutzte, um sich selbst zu heilen, suchte sie bei Jayan nach dem
gleichen Prozess.
Dort. Ich sehe es. Aber dies kann ihn nicht
rechtzeitig heilen. Der Schaden ist zu groß.
Hilf mir.
Vor Überraschung hätte sich Tessias Geist beinahe
aus seinem Körper zurückgezogen.
Jayan? Redest du mit mir?
Tessia? Oh, entschuldige. Ich wollte dich nicht
ablenken. Ich glaube, ich habe geträumt...
Er war im Fieberwahn.
Halte durch, drängte sie ihn. Gib noch
nicht auf.
Ich werde dich niemals aufgeben.
Sie konzentrierte sich wieder auf den Schaden und
betrachtete ihn sorgfältig. Es musste irgendeine Möglichkeit geben,
diese heilende Magie nachzuahmen. Sie versuchte, Magie in ihn zu
leiten, konnte sie aber zu nichts anderem formen als zu Hitze oder
Gewalt. Etwas nagte an ihr. Jayans Worte hallten in ihrem Kopf
wider. »Hilf mir.« Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn
sie ihn nicht retten konnte. Es musste eine Möglichkeit
geben.
Moment mal... Vielleicht brauchte sie den
Heilungsprozess seines Körpers nicht nachzuahmen, sondern ihm
lediglich mehr Magie zur Verfügung zu stellen, ihn mit erheblich
mehr Macht zu verstärken. Also sammelte sie Magie in sich und
sandte sie in einem sanften, ungeformten Strom aus, damit sie sich
mit dem vermischte, was von ihm bereits zu den verwundeten
Bereichen seines Körpers floss. Ihre Magie wurde ein
Teil dieses Flusses, wurde auf jene mysteriöse Weise geformt, die
der Körper wählte, um sich selbst zu heilen. Das ist
es!
Sie verdoppelte den magischen Strom und sah, wie
sich die Wirkung verdoppelte. Jetzt sandte sie größere Mengen von
Macht in ihn hinein und konnte beobachten, wie die Heilung schnelle
Fortschritte machte. Sie konzentrierte sich auf die Risse in den
Gedärmen und sah sie langsam schrumpfen, bis sie sich schlossen.
Sie sandte Magie in die zerfetzten Pulspfade, und eine Woge des
Triumphs schlug über ihr zusammen, als sie sich praktisch ruckartig
schlossen. Der allgemeine Schaden, den die giftigen Flüssigkeiten
in seinem Innern angerichtet hatten, war schwerer zu greifen, aber
schon bald konnte sie spüren, wie auch hier die Dinge wieder ins
Lot kamen.
Während sie Magie in ihn hineinfließen ließ, konnte
sie mehr und mehr fühlen, wie sein Körper die Magie benutzte. Sie
verstand es auf eine instinktive Weise, die sie einem anderen nicht
hätte erklären können. Wenn ich mir irgendwie einprägen könnte,
wie sich dies anfühlt und wie die Magie fließt, könnte ich
vielleicht meine eigene Magie auch bei Nichtmagiern anwenden und
sie ebenfalls heilen.
Schon bald waren sämtliche Schäden in seinem
Unterleib mehr oder weniger behoben. Sie konzentrierte sich auf den
Riss in seiner Haut und verstärkte den Fluss der Magie, bis Fleisch
mit Fleisch verschmolz. Aber noch während sie beobachtete, wie sich
das Narbengewebe bildete, wusste sie, dass er noch nicht zur Gänze
geheilt war.
Er hatte eine Menge Blut verloren. Als sie tiefer
in ihn hineintauchte, fragte sie sich, ob sie irgendetwas tun
konnte, um das Blut zu ersetzen. Die Heiler waren sich nicht einig
darin, welches Organ Blut herstellte. Aber wenn er sich ausruhte,
wenn er aß und etwas Wasser trank, würde sein Körper sich
vielleicht selbst heilen.
Tessia?
Ja, Jayan?
Ich habe es gespürt. Ich habe gespürt, wie du
mich geheilt hast. Ich habe es mir nicht eingebildet, nicht
wahr?
Nein. Ich habe es gefunden. Das Geheimnis. Es
ist...
Verrate es mir nicht.
Was? Warum nicht? Es müssen mehr Menschen davon
erfahren. Falls du es vergessen hast, wir befinden uns beide noch
immer mitten in einem Krieg und sitzen ganz allein in einer Stadt
voller Menschen, die uns töten wollen. Wenn wir sterben, wird diese
Entdeckung verloren sein.
Sie spürte eine Woge unterschiedlicher Gefühle von
ihm. Furcht. Den Drang, sie zu beschützen. Zuneigung. Sehnsucht.
Sie waren verworren, aber da war noch etwas anderes. Sprich
nicht über den Tod, sagte er. Du musst diesen Krieg
überleben. Ich habe zu lange gewartet, und er ist beinahe
vorüber.
Wovon redest du?
Aber sie kannte die Antwort, noch während sie die
Frage stellte. Sie spürte, wie sie durch die Risse seiner
Selbstbeherrschung sickerte. Noch während sie die Wahrheit erkannte
und Staunen in ihr aufstieg, spürte sie, dass ihr Körper auf eine
Weise reagierte, die kein Heiler jemals zufriedenstellend hatte
erklären können. Es war eines der großen Rätsel. Eins der
ergötzlicheren Rätsel, hatte ihr Vater einmal gesagt. Wozu diente
das Herz, außer zum Pumpen von Blut? Warum tat es dann noch dieses
andere, Unerklärliche?
Und warum ich? Warum nicht irgendeine reiche
Frau. Eine hübsche Meisterschülerin?
Ich liebe dich, antwortete er ihr.
Süßes Glück durchströmte sie. Aber seine Worte
besaßen auch eine unüberhörbare Selbstgefälligkeit. Er spürte
seinerseits ihre Gefühle und war deswegen hochzufrieden mit sich
selbst.
Wie sich herausstellt, liebe ich dich
ebenfalls, erwiderte sie und übermittelte ihm ihre Erheiterung.
Von allen aufreizenden Menschen auf der Welt musstest
ausgerechnet du es sein.
Arme Tessia, spottete er.
Sobald wir nach Imardin zurückkommen, wirst du
ganz sicher mit reichen, hübschen Mädchen flirten. Vielleicht
sollte ich dir das Geheimnis der Heilung doch nicht verraten. Es
würde dich nur umso reizvoller für sie machen.
Noch reizvoller, als ich es ohnehin schon
bin? Er gab ihr keine
Zeit zu einer Antwort. Tatsächlich hast du recht. Es wäre
sicherer, wenn noch jemand davon wüsste.
Also erklärte sie es ihm, und als sie davon
überzeugt war, dass er es verstanden hatte, zog sie ihren Geist aus
seinem Körper zurück. Als sie die Augen aufschlug, spürte sie eine
Hand im Nacken, die sie hinabzog. Jayan erhob sich und drückte
seinen Mund auf ihren. Überrascht leistete sie einen Moment lang
Widerstand. Dann überlief sie ein Schaudern, nicht kalt, sondern
warm und wunderbar. Sie erwiderte seinen Kuss; die Art, wie seine
Lippen sich auf ihren bewegten, gefiel ihr ungemein.
Ich könnte mich daran gewöhnen.
Sie hätte beinahe protestiert, als er sie losließ.
Sie sahen einander noch einen Moment lang an, dann begannen beide
zu lächeln. Jayans Lächeln verblasste jedoch sofort wieder. Er
stemmte sich hoch, blickte auf seine blutverschmierten Kleider
hinab, verzog das Gesicht und legte sich eine Hand auf die
Stirn.
»Mir ist schwindlig«, sagte er.
»Du wirst dich noch für eine Weile sehr schwach
fühlen«, erwiderte sie.
»Wir können nicht hierbleiben.«
»Nein«, stimmte sie ihm zu und stand auf. Als sie
sich umschaute, entdeckte sie ein beinahe ausgebranntes Haus. »Wir
sollten uns bis zum Morgen dort verstecken. Es wird sich niemand
die Mühe machen, in das Haus einzudringen, weil alles von Wert
verbrannt sein wird und die Mauern einstürzen könnten. Ich kann uns
mit einem Schild schützen.«
»Ja. Wir können Wache halten und hinausgehen, wenn
jemand vorbeikommt, den wir kennen. Es könnte eine Weile dauern,
aber irgendwann wird gewiss jemand kommen. Wo ist deine
Tasche?«
»Ich weiß es nicht. Aber es spielt auch keine
Rolle. Wenn ich diese Art des Heilens auch bei Nichtmagiern
anwenden kann, werde ich keine Heilmittel oder Instrumente mehr
benötigen.«
Er nickte, dann richtete er sich langsam auf;
zuerst ging er
in die Hocke, dann beugte er sich vor, und schließlich stand er.
Als sie auf das Haus zugingen, stieg eine Woge der Müdigkeit in ihr
auf, und sie stolperte. Das Heilen hatte sie mehr Magie gekostet,
als ihr bewusst gewesen war.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte
Jayan.
»Ja. Ich bin nur müde.«
»Nun, warte zumindest, bis wir im Haus sind, bevor
du einschläfst, ja?«
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick,
dann ließ sie sich von ihm durch die Tür führen.