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Die Sonne wärmte Stara den Rücken, während
die Pferde den schwer beladenen Wagen den Hügel hinaufzogen. Als
sie den Kamm der Anhöhe erreichten, bot sich der jungen Frau ein
Ausblick, bei dem ihr der Atem stockte.
Eine große Stadt lag wie ein Fächer ausgebreitet
vor ihr. Sie reichte bis zur Küste, und dahinter verlor sich der
Blick über der Weite des dunklen Meeres. Die Spitze des Fächers
bildete die Mündung eines Flusses ins Meer. Die Straßen, die von
diesem Punkt ausgingen, waren miteinander verbunden durch
konzentrische Ringe von Durchgangsstraßen.
Arvice. Sie lächelte. Die größte Stadt,
die je gebaut wurde. Ich bin endlich zu Hause.
Fünfzehn Jahre hatte sie auf diesen Tag gewartet.
Fünfzehn lange Jahre, seit ihr Vater sie und ihre Mutter nach Elyne
gebracht und sie dort zurückgelassen hatte. Jetzt hatte er endlich
nach ihr geschickt, wie er es vor so langer Zeit versprochen
hatte.
Während die Reihe der Wagen auf der anderen Seite
des Hügels hinunterfuhren, legten sich Schatten über sie. Stara
schauderte und legte sich ihren Umhang um die Schultern. Fünfzehn
Jahre ihres Lebens hatte sie gesehen, wie die Sonne allabendlich
Elyne in Gold- und Rottöne hüllte, bevor sie im Meer versank. Wenn
sie jetzt eine spektakuläre Begegnung von Sonne und Wasser sehen
wollte, würde sie früh genug erwachen müssen, um den Sonnenaufgang
beobachten zu können.
Es kommt mir so vor, als sei ich von einer Seite
der Welt zur anderen gereist, überlegte sie.
Das Klima in Elyne war dem des südlichen Sachaka
jedoch ähnlich. Sie wünschte beinahe, es wäre nicht so gewesen. Die
gleichen Pflanzen ernährten die gleichen Tiere. Die gleichen Bäume
trugen die gleichen Früchte, die von den gleichen Vögeln gestohlen
wurden. Das gleiche fruchtbare Bauernland umgab sie. Nur
gelegentlich bemerkte sie etwas, das unvertraut und exotisch war -
einen Vogel oder einen fremdartigen Baum.
Die Berge waren aufregender und interessanter
gewesen mit ihren kalten Steinvorsprüngen, den hohen Felstürmen und
Bäumen, die verkrüppelt und verzerrt auf unmöglich steilen Hängen
wuchsen. Der Wind hatte mit der Stimme einer irrsinnigen,
alterslosen Frau gesungen, und die Luft war frisch und rein
gewesen.
Ein- oder zweimal hatten die Fuhrleute ferne
Gestalten auf hohen Pfaden über ihnen ausgemacht. Ichani, sagten
sie. Sie hatten ihr versichert, dass kaum eine Gefahr bestand,
ausgeraubt zu werden. Die Ichani hatten keine Verwendung für die
Färbemittel, mit denen ihr Vater handelte, und selbst wenn sie sich
versucht gefühlt hätten, sie zu stehlen, um sie zu verkaufen, waren
die Tonkrüge, in denen die Farben transportiert wurden, zu schwer
und zu zerbrechlich, als dass es sich gelohnt hätte, sie über diese
schwierigen Bergpfade zu transportieren. Die Ichani wussten, dass
sie im Wagen kein Geld vorfinden würden und nur geringfügige
Vorräte.
Dennoch hatten die Fuhrmänner Stara Männerkleidung
gegeben. Eine Frau von ihrer Schönheit lohne eine Entführung,
hatten sie ihr erklärt und sie mit Schmeicheleien dazu gebracht,
sich ihrem Willen zu fügen.
Sie hätten ihr nicht zu schmeicheln brauchen. Es
hatte ihr gefallen, sich in Hosen und Hemden zu kleiden. Diese
Dinge waren nicht nur praktischer als ihre gewohnten Kleider. Sie
fühlte sich auch ein wenig so, als arbeite sie bereits für ihren
Vater, während sie den Männern bei den leichteren ihrer Pflichten
half, um ihrer Maskerade zusätzlichen Nachdruck
zu verleihen - was bei den Männern große Erheiterung ausgelöst
hatte.
Sie bezweifelte jedoch, dass ihr Vater ihr in
Arvice diese Art von Arbeit zuweisen würde. Als Tochter eines
sachakanischen Ashaki wären ihre Aufgaben würdevoller. Sie würde
zum Beispiel Handelsabkommen treffen und Kunden bewirten oder den
Herstellungsprozess der Farben überwachen und dafür Sorge tragen,
dass Bestellungen zusammengestellt und ausgeliefert wurden.
Sie war ausgebildet für diese Arbeit. Ihre Mutter
hatte in Elyne jahrelang dergleichen getan und ihre Tochter jeden
Schritt ihrer Tätigkeit mitmachen lassen. Zuerst hatte Stara es
gehasst, aber eines Tages war ihr in den Sinn gekommen, dass ihr
Vater sie vielleicht eher zurückhaben wollte, wenn sie ihm von
Nutzen sein konnte, und von dieser Zeit an hatte sie sich ganz dem
Lernen verschrieben.
Stara lächelte vor sich hin, während sie sich
vorstellte, wie sie ihrem Vater ihre Fähigkeiten auflisten
würde.
Ich kann lesen und schreiben, rechnen und
Geschäftsbücher führen. Ich weiß, wie man einen Kunden dazu
überredet, das Doppelte von dem zu bezahlen, was er eigentlich
ausgeben wollte, und dann dafür zu sorgen, dass er überdies
glücklich über seine Entscheidung ist. Ich weiß, wo alle Farben
hergestellt werden, und wie, aus welchen Mineralien sie
zusammengesetzt sind und für welche Stoffe sie sich eignen. Ich
habe sämtliche Namen der wichtigen Familien in Elyne und Sachaka
auswendig gelernt, ebenso wie ihre Bündnisse. Und dass das
Nützlichste von allem ist... ich kann... ich habe...
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Selbst in ihrer
Fantasie fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, ihm ihr größtes
Geheimnis anzuvertrauen. Eins, von dem nicht einmal ihre Mutter
wusste.
Einige Jahre nach ihrer Ankunft in Capia hatte
Stara sich mit der Tochter einer der Freundinnen ihre Mutter
angefreundet. Nimelle war gerade als Meisterschülerin bei einem
Magier angenommen worden und war enttäuscht gewesen, als sie
herausfand, wie wenige andere weibliche Meisterschüler es gab. Das
Mädchen hatte Stara auf magische Fähigkeiten geprüft und reichlich
davon gefunden. Aber als Stara ihre Mutter
gefragt hatte, was sie tun würde, wenn ihre Tochter über magische
Fähigkeit verfügte, war ihre Antwort entschieden und ohne Zögern
gekommen.
»Ich brauche dich hier bei mir, Stara. Wenn du
die Meisterschülerin eines Magiers würdest, müsstest du viele Jahre
lang bei deinem Meister leben. Willst du dich nicht nur von deinem
Vater trennen, sondern auch von deiner Mutter?«
Stara konnte sich nicht dazu überwinden, ihre
Mutter im Stich zu lassen. Als Nimelle dies gehört hatte, hatte sie
es eine »Verschwendung« genannt. Sie hatte sich erboten, Staras
magische Fähigkeit selbst freizusetzen und sie die Grundlagen der
Magie zu lehren - aber sie müsste es geheim halten. Stara hatte
voller Eifer zugestimmt. Seither hatte Stara sich selbst
beigebracht, wie sie ihre Magie benutzen konnte, hatte sich
Nimelles Bücher ausgeborgt und mit ihrer Freundin geübt.
Ich werde Nimelle vermissen, dachte sie.
Sie war der einzige Mensch, der mich nie anders behandelt hat,
weil ich zur Hälfte Sachakanerin bin.
Bei ihrem letzten Treffen hatten sie beide die
Tränen unterdrücken müssen. Aber Stara vermutete, dass Nimelle
schon bald viel zu tun haben und ihre Freundin nicht mehr vermissen
würde. Nachdem ihr im vergangenen Sommer ihre Unabhängigkeit als
höhere Magierin gewährt worden war, hatte Nimelle im Herbst
geheiratet und erwartete jetzt ihr erstes Kind.
Ich werde ebenfalls zu beschäftigt sein, wenn
ich meinem Vater helfe, um mich nach ihr zu sehnen, sagte sie
sich entschieden. Wir haben beide ein neues Leben begonnen.
Und doch freute sie sich jetzt schon auf Nimelles ersten
Brief.
Sie fuhren nun über eine lange, flache Straße, über
der die Düsternis der Abenddämmerung lag. Ab und zu tauchte vor
ihnen ein umfriedetes Grundstück auf, das die Erinnerungen an die
typischen sachakanischen Herrenhäuser mit ihren endlos weißen
Gartenmauern heraufbeschwor, um einige Zeit später im Zwielicht
hinter ihnen zurückzubleiben.
Außerdem waren ihr die Sklaven aufgefallen, die auf
den Feldern arbeiteten. Wann immer sie sie sah, verspürte sie ein
leichtes Unbehagen. Zu viele Jahre in Elyne hatten sie eine
Abneigung gegen die Sklavenhaltung gelehrt, und doch konnte sie
sich auch daran erinnern, dass sie die Sklavinnen angehimmelt
hatte, die sich in ihrer Kindheit um sie gekümmert und sie verwöhnt
hatten.
Das Leben eines Haussklaven ist gewiss erheblich
besser als das eines Feldsklaven, sagte sie sich. Aber wie
Mutter sagt: »Sklaverei ist Sklaverei«. Sie hatte die Sklaverei
gehasst, und Stara wusste, dass dies Teil des Grundes war, warum
sie ihren Vater verlassen hatten und nach Elyne zurückgekehrt
waren.
Es gab noch andere Gründe, darüber war Stara sich
im Klaren. Einige Gründe hatte ihre Mutter ihr genannt, andere
hatte sie erraten. Ihre Mutter war ihrer Familie davongelaufen, um
den Mann zu heiraten, den sie liebte. Dann hatte sie entdeckt, dass
er zu Hause ein anderer Mensch war, als er es in Elyne gewesen war.
Das musste er sein, hatte sie Stara erklärt. Man muss hart und
grausam sein, um die sachakanische Politik zu überleben und die
Sklaven dazu zu bringen zu gehorchen. Dennoch konnte sie es nicht
ertragen mit anzusehen, welche Wirkung es auf ihn hatte. Zu guter
Letzt hatte er ihr gestattet, nach Elyne zurückzukehren. Ein
härterer Mann hätte sie gezwungen zu bleiben, hatte sie zugegeben.
Oder ihre beiden Kinder behalten.
Der Mann, der sie jedes Jahr besuchte, war immer
derselbe gewesen: liebevoll und großzügig. Stara hatte ihn genau
beobachtet und nach einem verborgenen Ungeheuer Ausschau gehalten,
es aber nie entdeckt.
Vielleicht weil er, wenn er in Elyne war,
niemals einen Sklaven auszupeitschen brauchte.
Ihr Bruder, Ikaro, hatte Elyne einige Male besucht.
Um drei Jahre jünger als Stara, war er stets so zurückhaltend
gewesen, dass es beinahe unhöflich war. Sie hatte ihrer Mutter vor
Jahren gestanden, dass sie eifersüchtig auf ihn sei, weil er in
Arvice geblieben war. Gleichzeitig tat er ihr leid, weil er ohne
seine Mutter hatte aufwachsen müssen. Aber als sie Letzteres
während eines seiner Besuche erwähnt hatte, hatte er ihr höhnisch
geantwortet, dass es für einen Mann nicht von Belang
sei, ohne Frauen aufzuwachsen, da sie nicht wichtig seien.
An diesem Tag hatte er viel von ihrem Respekt
verloren. Die Erwartung, dass er sie genauso betrachtete wie andere
Frauen - vor allem im Hinblick auf ihren Wert im Geschäft -,
verdarb ihr ein wenig die Vorfreude darauf, endlich ihr Ziel zu
erreichen. Aber sie war fest entschlossen, ihm nicht zu gestatten,
ihr neues Leben zu verderben.
Die Felder zwischen den umfriedeten Wohnhäusern zu
beiden Seiten der Straße waren immer kleiner geworden. Und bald
traten an ihre Stelle schier endlose Mauern, die nur hier und da
durchbrochen waren von breiten Gassen.
Die Mauern ragten jetzt am Straßenrand auf,
schlicht und wenig einladend. Das fröhliche Pfeifen der Wagenlenker
war erstorben, und ihre Mienen waren wachsam und ernst. Sklaven
eilten mit gesenktem Blick die Straße entlang. Das einzige Licht
kam jetzt von den Lampen der Fuhrleute und Kutscher, von Leuchten,
die die Sklaven trugen, oder von verborgenen Lichtquellen jenseits
der Mauern. Aufregung und Enttäuschung stiegen in Stara auf, als
ihr klar wurde, dass sie sich in der Stadt befanden, und es
vollkommen anders war, als sie erwartet hatte. Im Gegensatz zu
Capia, der Hauptstadt Elynes, stellten die Häuser nicht rings um
einen großen Hafen ihre ganze Pracht zur Schau. Stattdessen machten
sie sich hinter hohen Mauern unsichtbar.
Der Wagen verlangsamte das Tempo, als sie sich
einem großen Holztor näherten, und Staras Herz setzt einen Schlag
aus. Dies musste das Haus ihres Vaters sein. Das Gefährt blieb
stehen, und der erste Fuhrmann rief etwas. Es kam keine Antwort,
aber man hörte ein Klirren. Dann schwangen die Tore langsam auf und
gaben den Blick auf einen großen, gepflasterten, von mehreren
Lampen beleuchteten Innenhof frei. Die Mauern um sie herum waren
weiß, durchbrochen nur von Türen und den Enden dunkler Holzbalken.
Staras Herz schlug schneller. Als sie das Tor passierten, suchte
sie den Hof bereits nach ihrem Vater ab, aber sie sah dort nur
Fremde.
Fremde, die sich allesamt der Länge nach zu Boden
warfen,
als der Wagen schließlich stehen blieb. Stara schaute sich um. Die
gesenkten Köpfe der ringsum liegenden Menschen zeigten sämtlich zu
ihr. Sie lagen da wie die Speichen um eine Nabe.
Sklaven, dachte sie. Müssen sie das immer
tun? Was soll ich jetzt tun? Sie blickte zum Haus hinüber. Die
vertraute Gestalt ihres Vaters war nirgends zu sehen. Ein wenig
verwirrt und enttäuscht ließ sie sich wieder auf ihren Sitz sinken
und wartete ab, was als Nächstes geschehen würde.
»Niemand wird Euch sagen, was Ihr tun sollt,
Herrin«, murmelte eine Stimme ganz in der Nähe. Sie senkte den
Blick und sah einen der Fuhrleute am Wagen lehnen; seine
Aufmerksamkeit war scheinbar auf etwas anderes gerichtet. »Ihr gebt
jetzt die Befehle.«
Plötzlich begriff sie. Niemand würde ihr sagen, wo
ihr Vater war, wenn sie nicht danach fragte. Niemand würde auch nur
aufstehen. In Elyne wartete eine Frau, bevor sie aus einem Wagen
stieg, bis ihr Gastgeber - oder zumindest ein ranghöherer Diener -
zu ihrer Begrüßung erschien. Aber dies war nicht Elyne. Hier war
sie kein Gast, sondern Teil der Familie, die über den Besitz
herrschte.
»Macht weiter, was immer Ihr gerade getan habt«,
rief sie.
Die Sklaven erhoben sich vom Boden und nahmen ihre
Arbeiten auf, wobei sie jedoch bewusst Vorsicht walten ließen. Sie
bemerkte, dass einer von ihnen, ein Mann mit einer roten Kappe,
anderen Befehle erteilte. Langsam stand sie auf und stieg mit so
viel Würde, wie sie aufbringen konnte, aus dem Wagen. Dann wandte
sie sich dem Mann mit der roten Kappe zu.
»Ich wünsche, meinen Vater zu sehen, falls er zu
Hause ist.«
Er verneigte sich, wobei er sich diesmal aus der
Taille heraus vorbeugte, dann deutete er auf einen barbrüstigen
Sklaven, der in der Nähe der Tür stand.
»Euer Wunsch lässt sich erfüllen, Herrin. Folgt
diesem Mann, und er wird Euch zu Ashaki Sokara bringen.«
Als sie dem Sklaven in das Innere des Hauses
folgte, atmete sie tief durch. Ein vertrauter Duft hing in der
Luft, aber sie konnte ihn nicht identifizieren. Der magere Sklave
führte sie
einen schmalen Flur entlang, der ebenso weiß verputzt war wie das
Äußere des Hauses und die Straßenmauern. Sie kamen in einen großen
Raum. Stara erkannte den Grundriss. Dieser Raum war das Zentrum des
Hauses: das »Herrenzimmer«, in dem ihr Vater Gäste empfing,
unterhielt und bewirtete. Von dem Raum aus führten Türen in andere
Teile des Hauses. Das Haus ihrer Mutter entsprach demselben Muster,
ebenso wie andere sachakanische Häuser in Elyne.
Sie erfasste all das mit einem einzigen Blick, weil
in der Mitte des Raums ein Mann auf einem großen Holzstuhl saß. Als
sie ihn erkannte, tat ihr Herz vor Freude einen Satz.
»Vater«, sagte sie.
»Stara.« Er lächelte und winkte sie heran.
Sie ging durch den Raum und war enttäuscht, dass er
nicht aufstand, um sie zu begrüßen. Unsicher, was sie als Nächstes
tun sollte, zögerte sie.
»Setz dich«, sagte er und deutete auf einen
kleineren Stuhl neben seinem.
Sie nahm Platz und seufzte mit geziemender und
nicht zur Gänze gespielter Anerkennung. »Ah. Man sollte meinen,
nachdem ich den ganzen Tag gesessen habe, würde ich einen Stuhl
nicht einmal ansehen wollen.«
»Das Reisen ist ermüdend«, pflichtete er ihr bei.
»Wie war die Fahrt? Haben meine Männer dich gut behandelt?«
»Interessant, und ja, das haben sie«, antwortete
sie.
»Hast du Hunger?«
»Ein wenig.« In Wahrheit war sie vollkommen
ausgehungert.
Er machte eine knappe Handbewegung, und ein Gong
auf der anderen Seite des Raums ertönte. Einen Moment später kam
ein Sklave hereingelaufen und warf sich zu Boden.
»Bring Herrin Stara etwas zu essen.«
Der Sklave sprang auf und eilte davon. Stara
starrte auf die Tür, durch die er verschwunden war. Sein Erscheinen
und sein Abgang waren so dramatisch gewesen, dass Stara es nur
komisch finden konnte. Sie musste den Drang zu lachen
niederkämpfen.
»Du wirst dich an die Sklaven gewöhnen«, meinte ihr
Vater. »Irgendwann vergisst du, dass sie da sind.«
Sie sah ihn an und biss sich auf die Unterlippe.
Ich will mich nicht so sehr an sie gewöhnen, dass ich ihre
Anwesenheit vergesse, dachte sie. Der nächste Schritt wäre
vielleicht zu vergessen, dass sie Menschen sind.
Das Gespräch wandte sich ihrer Mutter zu. Sie
erzählte ihm von den letzten Geschäften und von neuen Kunden,
ebenso von einer Idee, mit der ihre Mutter sich trug - einen Handel
mit Segeltuchfarbe zu entwickeln.
»Sie haben ungefärbtes Segeltuch benutzt, aber wenn
wir die richtigen Personen auf die Vorzüge von gefärbtem Tuch
aufmerksam machen können und die Idee an Beliebtheit gewinnt,
könnten wir einen vollkommen neuen Markt erschließen.« Sie grinste.
»Das war meine Idee. Ich habe einige Kinder mit Spielzeugbooten
spielen sehen und...«
Ärgerlicherweise wählten einige Sklaven gerade
diesen Augenblick, um mit dem Essen einzutreten. Sie hatte auf
irgendeine Anerkennung oder auch nur eine Meinung von Seiten ihres
Vaters gehofft, aber das Eintreffen der Sklaven hatte ihn
vollkommen abgelenkt. Aus einer Schachtel neben seinem Stuhl nahm
er zwei kleine, aber tödlich aussehende Messer, von denen er ihr
eines reichte.
Mit einem leisen Seufzer beobachtete sie, wie sich
ein seltsames Ritual entfaltete. Die Sklaven fielen abwechselnd vor
ihrem Vater auf die Knie. Er wählte einige Bröckchen einer Speise
aus, spießte sie mit seinem Messer auf und führte das Essen an die
Lippen. Dann bedeutete er ihr, von der Speise zu kosten, und der
Sklave rutschte seitlich durch den Raum, bis er vor Stara
kniete.
Ihre Mutter hatte ihr beschrieben, wie Sachakaner
aßen, und sie gewarnt, dass der Herr eines Besitzes stets vor allen
anderen aß. Stara war sich nicht sicher, wie viel sie essen sollte,
da er nur wenig von jedem Teller nahm und es so aussah, als würden
noch etliche weitere Gerichte hereingebracht werden.
Wann immer sie genug von einem Teller gegessen
hatte, blieb der Sklave, wo er war, bis ihr Vater ihm etwas anderes
befahl. »Fertig«, sagte er jedes Mal, dann sah er sie an und
erklärte ihr, sie solle den Sklaven entlassen, wenn sie genug
gegessen habe.
Bevor ihr Hunger zur Gänze gestillt war, aber lange
nachdem das Ritual den Reiz des Neuen verloren hatte, machte er
eine abrupte Handbewegung und sagte einfach: »Geht.« Die Sklaven
eilten davon, ohne mit ihren nackten Füßen auf den Teppichen den
geringsten Laut zu machen. Ihr Vater drehte sich zu ihr um.
»In einer Woche werde ich einige wichtige Besucher
bewirten, und du wirst dabei zugegen sein. Du musst mit den
sachakanischen Sitten vertraut gemacht werden. Die Sklavin, die
sich als Kind um dich gekümmert hat, wird dich lehren, was du
wissen musst.« Er lächelte, dann trat ein leicht entschuldigender
Ausdruck in seine Züge. »Ich wünschte, ich hätte dir mehr Zeit
geben können, damit du dich vorher einleben kannst.«
»Ich werde schon zurechtkommen«, antwortete
sie.
Er nickte und blickte ihr forschend ins Gesicht.
»Ja. Falls du irgendwelche Fehler machst, denke ich, wird man dir
ohne weiteres verzeihen, vor allem da du dich mit einer zum Teil
elynischen Erziehung entschuldigen kannst.« Sein Lächeln
verblasste. »Du solltest wissen, dass ich einen dieser Gäste als
zukünftigen Ehemann für dich im Sinn habe.«
Stara blinzelte. Dann stellte sie fest, dass sie
sich nicht bewegen konnte. Ehemann?
»Eine Verbindung zwischen unseren Familien würde
ein Bündnis stärken, das während der vergangenen Jahre erprobt
worden ist. Deine Sklavin wird dir erklären, was du wissen musst,
aber sei versichert, dass sie reichlich Land besitzen und sich der
Gunst des Kaisers erfreuen.«
Ehemann?
Er runzelte finster die Brauen. »Und
bedauerlicherweise ist die Frau deines Bruders außerstande, Kinder
zu gebären. Wenn du uns keinen Erben gebierst, wird unser Land nach
dem Tod deines Bruders an Kaiser Vochira fallen.«
»Ehemann?«, stieß sie mühsam hervor.
Er schaute sie an und kniff die Augen zusammen.
»Ja. Du bist ein wenig alt, um noch unverheiratet und kinderlos zu
sein, aber deine halb elynische Herkunft sollte das wieder
wettmachen. Anders als die Elyner halten die Sachakaner etwas
fremdes Blut für eine Stärke und nicht für eine Schwäche.«
Ein wenig alt? Sie war erst
fünfundzwanzig!
»Ich dachte...« Sie hörte die Entrüstung in ihrer
Stimme und hielt inne, um tief durchzuatmen. »Ich dachte, du
wolltest mich hier haben, damit ich dir beim Geschäft helfen
kann.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und er
kicherte. Unwillkürlich flammte Ärger in ihr auf. Genauso schnell
verblasste das Lächeln, und ein Ausdruck des Verstehens trat in
seine Züge.
»Das hast du wirklich geglaubt, nicht wahr?« Er
schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Deine Mutter hätte
dich nicht mit einem solchen Missverständnis hierherkommen lassen
dürfen. In Sachaka treiben Frauen keinen Handel.«
»Aber ich könnte es«, sagte sie leise. »Wenn du mir
eine Chance...«
»Nein«, entgegnete er entschieden. »Die Kunden
würden nicht nur über dich lachen, sie würden auch aufhören, mit
mir Geschäfte zu machen. So etwas tut man hier einfach
nicht.«
»Also willst du mich stattdessen verkaufen, als sei
ich ein Bottich Farbe?«, rief sie aus. »Ohne ein Mitspracherecht,
was die Frage betrifft, wen ich heirate?«
Er starrte sie an, seine Züge verhärteten sich
langsam, und Mutlosigkeit ergriff sie.
Er will es wirklich tun. Es war von Anfang an
seine Absicht gewesen. Mutter kann nichts davon gewusst haben.
Anderenfalls hätte sie mich niemals hierhergeschickt.
Alle Hoffnungen, mit ihrem Vater zusammenarbeiten
zu können, sich ein neues Leben mit ihm aufzubauen, zerfielen zu
Asche. Sie stand auf, ging davon und drehte sich dann wieder zu ihm
um.
»Ich kann es nicht glauben. Du hast nach mir
geschickt - du hast mich mit einer List dazu gebracht,
hierherzukommen. Nur damit du mich wie ein Stück Vieh verkaufen
kannst.«
»Setz dich«, sagte er.
»Du hast doch gewiss nicht geglaubt, dass ich
glücklich darüber sein würde«, wütete sie. »Dass ich, nachdem ich
fünfzehn Jahre in Elyne gelebt und während des größten Teils dieser
Zeit zu deinem Nutzen gearbeitet habe, hocherfreut sein würde, die
Ehefrau eines Fremden zu werden. Nein, eine Hure.
Nein, eine Sklavin, da Huren zumindest bezahlt werden
für...«
»SETZ DICH.«
Sie konnte nicht umhin zusammenzuzucken. Immer noch
schwer atmend, schloss sie die Augen und zwang sich, ihren Zorn
abkühlen zu lassen. Als es so weit war, öffnete sie die Augen und
sah ihn an.
»Ist das wirklich der Grund, warum du nach mir
geschickt hast?«
Seine Augen waren jetzt dunkel vor Zorn. »Ja«,
knurrte er.
Sie ging zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich,
wobei sie hoffte, dass ihre Bewegungen entschlossen und würdevoll
wirkten.
»Dann muss ich, bei allem Respekt, ablehnen. Ich
werde nach Elyne zurückkehren.«
Er musterte sie mit schmalen Augen, dann umspielte
plötzlich ein schiefes Lächeln seine Lippen
»Ganz allein, ohne Wachen und Beschützer?«
»Wenn es sein muss.«
»In den Bergen wimmelt es von Ichani. Sie sind
Ausgestoßene - es schert sie nicht, welche Familie sie beleidigen,
welcher Familie sie Schaden zufügen. Du würdest Elyne nie
erreichen.«
»Ich bin bereit, es zu versuchen.«
Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Du
hast recht. Ich hätte dich nicht fünfzehn Jahre in Elyne lassen und
von dir erwarten dürfen, dass du ohne einige törichte Ideen im Kopf
zurückkehrst... obwohl ich mir nicht sicher bin, warum du denkst,
deine Zukunft wäre in Elyne so viel anders gewesen. Deine Mutter
erzählt mir seit Jahren, dass es hohe Zeit für dich sei zu
heiraten, und dass die meisten Frauen deines
Alters bereits mehr als ein Kind zur Welt gebracht hätten.« Er
richtete sich auf. »Du solltest dich ausruhen und über deine
Zukunft nachdenken, und ich muss mir offenkundig meine Pläne für
dich noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Und vergiss nicht,
ich erwarte nach wie vor von dir, dass du dich, wenn unsere
Besucher hier sind, benimmst wie eine richtige Sachakanerin.«
Sie nickte. Ein Teil von ihr wollte rebellieren,
wollte Arvice vor dem Erscheinen dieser Gäste verlassen oder den
Mann, den ihr Vater als ihren Verlobten ausgewählt hatte, davon
überzeugen, dass sie ein verrücktes, zänkisches Weib sei, mit dem
er niemals würde leben wollen. Trotzdem verspürte sie einen
gewissen Anflug von Hoffnung. Vielleicht konnte sie ihren Vater
irgendwie doch noch davon überzeugen, dass sie ihm bei seinen
Geschäften von Nutzen wäre, vielleicht auf eine Art und Weise, wie
sie für die sachakanische Gesellschaft annehmbar wäre. Dass sie
mehr sein konnte als eine Gebärmutter mit Beinen. Sie musste es
versuchen.
Er machte eine kleine Handbewegung. Wieder erklang
der Gong. Eine Frau mit grauen Strähnen im Haar trat ein und warf
sich mit vom Alter steif gewordenen Bewegungen der Länge nach auf
den Boden.
»Das ist Vora. Du erinnerst dich vielleicht noch
aus deiner Kindheit an sie. Sie erinnert sich ganz gewiss an dich.
Sie wird dich in deine Gemächer bringen.«
Stara brachte ein Lächeln zustande und wandte sich
ab, um die Frau erwartungsvoll anzusehen. Vora zog die Augenbrauen
hoch, aber sie zuckte nur die Achseln und führte Stara wortlos aus
dem Raum.
Zwanzig Pferde und ihre Reiter erklommen so leise,
wie es ihnen möglich war, den steilen Pfad. Das Klirren der
Geschirre, das Schnauben der Pferde und das gelegentlich
unterdrückte Husten oder Niesen eines Reiters waren Tessia
mittlerweile so vertraut, dass sie diese Geräusche kaum noch hörte.
Stattdessen nahm sie den Mangel an Geräuschen in den Bäumen um sie
herum wahr. Keine Vögel zirpten oder sangen, kein Wind
raschelte in den Bäumen, keine Tiere bellten, schrien oder
heulten.
Vielleicht war den anderen die ungewöhnliche Stille
aufgefallen, oder vielleicht verspürten sie nur ein eigenartiges
Gefühl, ohne die Quelle zu erkennen, aber sie alle schauten suchend
zu den Bäumen hoch oder blickten sich um. Viele von ihnen runzelten
die Stirn. Nervöse Blicke wurden getauscht. Ein Magier winkte mit
dem Finger, und sein Meisterschüler ritt näher heran, sodass sie
ein gemurmeltes Gespräch führen konnten.
Tessia versicherte sich, dass der magische Schild,
mit dem sie sich selbst und ihr Pferd umgab, stark und umfassend
war. Sie alle ritten jeden Tag innerhalb eines solchen Schildes,
vorbereitet für den Fall eines unerwarteten Angriffs. Bei Nacht
wechselten sie sich ab, um ihr Lager mit Schilden zu schützen,
falls sie gezwungen waren, draußen zu schlafen, oder in dem Dorf
oder Weiler, den sie am Abend zuvor erreicht hatten, Wache zu
halten und zu patrouillieren.
Eine Gestalt erschien vor ihnen auf dem Weg und kam
tapfer herbeigelaufen. Tessia erkannte einen der Späher, die jeden
Tag vorausgeschickt wurden. Lord Dakon war, wie sie wusste, nicht
glücklich darüber, dass sie Nichtmagier für diese Arbeit
einsetzten, da sie sich, falls die Sachakaner sie fanden, nicht
verteidigen konnten, aber wenn sich einer der Magier allein
hinauswagte und mehr als einem einzigen Feind begegnete oder einem
Sachakaner von größerer Macht, war es genauso wahrscheinlich, dass
er umkommen würde. Und es gab erheblich weniger Magier als
Nichtmagier. Die Miene des Mannes war grimmig. Er blieb vor dem
ersten der Magier stehen, begann leise zu sprechen und deutete in
die Richtung, aus der er gekommen war. Langsam wurde die Nachricht
weitergegeben, ein Murmeln, das von einer Person zur nächsten
wanderte.
»Vor uns steht ein Haus«, erklärte Dakon Tessia und
Jayan. »Von den Bewohnern sind alle bis auf einen vor kurzem
ermordet worden. Der Überlebende wird wahrscheinlich nicht mehr
lange durchhalten.«
»Werden wir vorausreiten und uns umsehen?«, fragte
Tessia. »Vielleicht kann ich dieser Person helfen.«
Er blickte nachdenklich drein, dann trieb er sein
Pferd weiter. Lord Narvelan und Werrin waren zu den inoffiziellen
Anführern der Gruppe geworden, obwohl ihre Aufgabe hauptsächlich
darin bestand, einander Fragen zu stellen und Ratschläge zu
erteilen, statt tatsächlich Entscheidungen zu treffen, wie Tessia
aufgefallen war. Auch wenn die anderen es hinnahmen, falls Werrin
eine Entscheidung überstimmte - er war schließlich der Gesandte des
Königs -, neigten sie doch dazu, sich ein wenig störrisch zu
stellen, wenn er ihnen nicht erlaubte, sich zuerst miteinander zu
beraten.
Einige von ihnen machen sich solche Sorgen,
jemand könne ihre Autorität schmälern, dass diese Bedenken beinahe
wichtiger scheinen als die Notwendigkeit, die Sachakaner zu finden
und zu vertreiben. Es würde mich nicht überraschen, wenn es den
Sachakanern gelänge, alle Kyralier während einer dieser
»Diskussionen« zu überwältigen.
Nach einigen Minuten kehrte Dakon zurück.
»Nur wir und Narvelan«, sagte er.
Zu Tessias Überraschung lösten sich zwei weitere
Magier und ihre Meisterschüler von den anderen, um ihnen die Straße
hinauf zu folgen. Lord Bolvin und Lord Ardalen. Dakon nickte ihnen
dankend zu.
Es sieht so aus, als sei nicht jeder bereit,
sich im Schutz der Gruppe zusammenzukauern, während gewöhnliche
Kyralier sterben. Obwohl Ardalen wahrscheinlich mehr wird wissen
wollen. Wir kommen jetzt langsam in die Nähe seines
Lehens.
»Hat der Späher gesagt, worin die Verletzung
bestand?«, murmelte sie.
Dakon schüttelte den Kopf.
Etliche nervöse Minuten später kamen sie zu einem
winzigen, steinernen Gebäude am Rand des Pfads. Insekten
umschwirrten zwei davor am Boden liegende Männerleichen. Dakon,
Tessia und Jayan saßen ab, aber die anderen blieben auf ihren
Pferden und bildeten einen schützenden Halbkreis um die Vorderseite
des Hauses.
Tessia griff nach der Tasche ihres Vaters und
folgte Dakon, während dieser vorsichtig durch die offene Tür trat.
Ein Licht flammte auf und zeigte einen Tisch, der den Raum fast zur
Gänze ausfüllte. Sie blieben stehen und hielten Ausschau nach dem
Überlebenden.
Als Tessia in den hinteren Teil des Raums ging,
verfing sich ihr Fuß in etwas auf dem Boden. Sie blickte hinab und
sah ein Bein, dann ging sie in die Hocke und fand einen jungen
Mann, der unter dem Tisch lag.
Er starrte sie mit verängstigten Augen an.
»Du bist jetzt in Sicherheit«, sagte sie. »Das Haus
ist umstellt von Magiern - kyralischen Magiern. Wo bist du
verletzt?«
Dakon ließ das Licht ein wenig tiefer schweben, und
Tessias Herz krampfte sich zusammen, als sie sah, wie bleich der
Mann war. Seine Lippen waren blau, und er zitterte. Sie konnte
jedoch keine Spur von Blut ausmachen. War es eine innere
Verletzung? Der Mann hatte sich nicht bewegt. Er starrte sie nur
mit großen Augen an.
»Zeig mir, wo du verletzt bist«, sagte sie. »Ich
kann dir helfen. Mein Vater war Heiler und hat mich viel von dem,
was er wusste, gelehrt.«
Als er sich immer noch nicht rührte, überprüfte sie
seine Rhythmen. Die Zeitspanne zwischen seinen Herzschlägen war
unmöglich lang. Sein Atem ging in qualvoll flachen Stößen. Dakon
beugte sich vor und drehte eins der Handgelenke des Mannes um. Ein
dünner, bereits von geronnenem Blut versiegelter Schnitt hob sich
deutlich von seiner totenbleichen Haut ab.
»Das ist nicht genug, um ihn zu töten«, erklärte
Tessia.
Der Blick der weit aufgerissenen Augen war jetzt
auf die Unterseite des Tisches gerichtet. Dann trübte sich der
Blick. Ein letzter langsamer Atemzug kam über die Lippen des
Mannes. Dakon fluchte. Er legte dem Verletzten eine Hand auf die
Stirn. Kurz darauf zog er sie wieder zurück. »Der größte Teil
seiner Energie wurde ihm genommen. Er hatte nicht mehr genug Kraft,
um weiterzuatmen.«
»Hättet Ihr... hättet Ihr ihm ein wenig Kraft
zurückgeben können?«, fragte Tessia.
Dakon runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Ich
habe es nie versucht - es war niemals notwendig. Und ich habe auch
noch nie gehört, dass irgendjemand es getan hätte.« Er sah den Mann
bedauernd an. »Ich würde es jetzt versuchen, aber ich nehme an, es
ist zu spät.«
Tessia nickte. »Mein Vater sagte immer, es sei
töricht und falsch zu versuchen, den Tod rückgängig zu machen. Er
hatte von einem Mann gelesen, dessen Rhythmen nach dem Stillstand
wieder in Gang gesetzt worden waren, dessen Geist jedoch nie wieder
derselbe geworden ist.«
»Wenn wir auf einen weiteren Fall wie diesen
stoßen«, sagte Dakon, »werden wir es versuchen.«
Tessia lächelte, und eine Woge der Dankbarkeit und
Zuneigung für diesen Mann stieg in ihr hoch. Diese Bereitschaft,
selbst dem Niedrigsten der Niedrigen zu helfen, war einer der
Charakterzüge, die sie am meisten an ihm schätzte. Während der
vergangenen Wochen war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass dieses
Mitgefühl bei Magiern etwas Seltenes war.
»Ist das klug? Ihr werdet alle Kraft, die Ihr habt,
benötigen, falls Ihr gegen die Sachakaner kämpfen müsst«, meldete
Jayan sich zu Wort. Als Tessia ihn tadelnd ansah, verzog er das
Gesicht. »Wenn wir einen Mann retten, könnte das uns das Leben
kosten, was wiederum viele weitere Leben kosten könnte.«
Er hatte nicht unrecht, wie sie widerwillig zugeben
musste. Die brutale Nüchternheit seiner Bemerkung betonte nur, wie
sehr er sich von Lord Dakon unterschied. Kalter, ehrlicher,
gesunder Menschenverstand war nicht so liebenswert wie warme,
hoffnungsvolle Großzügigkeit. Dennoch war diese Haltung an die
Stelle von Jayans früherer Geringschätzung und Arroganz getreten
und hatte ihm eine Reife verliehen, die sie zuvor nicht bei ihm
wahrgenommen hatte, und sie musste zugeben, dass ihre Abneigung
gegen ihn inzwischen ein wenig geringer geworden war. Aber nur ein
wenig.
Dakon richtete sich auf und seufzte. »Ich nehme an,
es würde nicht viel Energie kosten, einen Sterbenden auf diese
Weise zu befähigen, weiterzuleben und sich langsam wieder zu
erholen. Ein winziger Teil dessen, was ich jeden Abend von
euch beiden nehme - und so leicht zu ersetzen. Ich würde es nicht
für gefährlich halten, es sei denn, wir wären in einer
verzweifelten Situation.«
Jayan nickte zufrieden. Als sie aufstanden und das
Haus verließen, verspürte Tessia eine erschöpfende Traurigkeit. An
alle Menschen, die in Dörfern oder Bauernhöfen lebten, in den
Hütten der Wälder und Berge der Lehen, die an Sachaka grenzten,
waren Botschaften ergangen; man riet ihnen, in den Süden zu ziehen,
bis die Sachakaner aus Kyralia vertrieben waren. Aber viele
Menschen waren geblieben, denn ihr Leben hing davon ab, dass sie
die Frühjahrsernte aussäten, auf die Jagd gingen oder andere Dinge
taten, um sich ein Einkommen zu sichern. Sie waren leichte Beute
für die Eindringlinge.
Während die kleine Gruppe wieder aufsaß und zu dem
großen Tross zurückkehrte, lauschte Tessia auf das leise Gespräch
der Magier, die darüber redeten, wie lange der Angriff auf das Haus
zurückliegen mochte. Sie hatten mehrere Lagerplätze der Feinde und
auch deren Opfer gefunden, aber bisher keinen einzigen Sachakaner
angetroffen. Vermutlich, so überlegte Tessia, rechneten die Magier
schon seit Wochen mit einem direkten Angriff der Sachakaner und
waren verwirrt, dass bisher noch nichts dergleichen geschehen war.
Einige von ihnen stellten Spekulationen darüber an, dass Takado und
seine Verbündeten bisher vielleicht deshalb gezögert hatten, weil
sie noch zu wenige waren. Deshalb wollten sich die kyralischen
Magier jetzt in kleinere Gruppen aufteilen, um die Sachakaner aus
der Reserve zu locken. Die Gruppen sollten einander aber nahe genug
bleiben, um sich im Fall eines Angriffs gegenseitig Beistand zu
leisten.
Aber, wie Jayan festgestellt hatte, die Sachakaner
würden nicht angreifen, solange sie nicht das Gefühl hatten, den
Sieg davontragen zu können. Sie würden eine kleinere Gruppe nicht
angreifen, wenn eine andere nahe genug war, um sich ihr
anzuschließen.
Also locken sie uns in die Berge, entwischen
immer wieder und töten unterdessen gewöhnliche Kyralier. Sie werden
immer stärker, während jeder unserer Magier nur einen
Meisterschüler hat, von
dem er Kraft beziehen kann - und das gilt auch nur für jene unter
ihnen, die überhaupt einen Schüler haben.
Von allen Meisterschülern wurde erwartet, dass sie
in der Nähe ihrer Meister blieben. Dies diente zum einen ihrem
eigenen Schutz und stellte zum anderen sicher, dass dem Magier im
Notfall eine Quelle für zusätzliche Macht zur Verfügung stand. Das
Thema Stärke war ein weiteres Thema, das die kyralischen Magier
ständig erörterten. Sie konnten nicht wissen, ob sie über ebenso
viel gehortete Magie verfügten wie die Sachakaner. Sie überlegten,
wie viel Macht ein einzelner Sachakaner von Sklaven beziehen konnte
und wie viele Sklaven die Sachakaner bei sich haben mochten.
Außerdem versuchten sie zu berechnen, über wie viel Macht jeder
einzelne von ihnen verfügte.
Allabendlich vollzog sich nun ein gleichbleibendes
Ritual, wenn alle Magier Kraft von ihren Meisterschülern nahmen.
Werrin und Narvelan hatten keine Schüler, obwohl Werrin anscheinend
nach einem jungen Mann geschickt hatte, dem er versprochen hatte,
ihn als Meisterschüler anzunehmen, sobald der Junge das
entsprechende Alter für den Beginn einer Ausbildung erreicht hatte.
Der Meisterschüler würde mit einer Gruppe von Magiern reisen, die
sich erboten hatten, bei der Suche zu helfen.
Das allabendliche Ritual der höheren Magie machte
klar, wie sehr Magier und Meisterschüler voneinander abhängig
waren. Einer war ohne den anderen verletzbar. Es war für Tessia auf
seltsame Weise tröstlich zu wissen, dass sie, obwohl sie ansonsten
unerfahren und für die Gruppe kaum von Nutzen war, dennoch einen
Beitrag zu ihrem eigenen Schutz und dem von Lord Dakon lieferte.
Und zu Jayans Schutz. Und selbst zum Schutz ganz Kyralias. Das
Ritual hatte noch einen anderen Vorteil. Es sorgte dafür, dass
Tessia trotz ihrer Furcht und ihrer Trauer gut schlief, und obwohl
die Angst an ihr nagte, dass sie keine Chance hatten, eine
feindliche Armee zurückzuschlagen, wenn die kyralischen Magier es
schon nicht fertigbrachten, eine Handvoll Sachakaner aufzuspüren
und in ihr Land zurückzujagen.