026
22
Eine kleine Anstrengung von Willenskraft und Magie ließ die Temperatur im Raum ansteigen, und ein wenig Bewegung in der Luft half, Jayans Haut zu trocknen. Eine weitere Bö künstlichen Windes vertrieb die Feuchtigkeit aus seinen Kleidern, und er zog sich schnell an, damit der nächste Meisterschüler den Raum benutzen konnte.
Er war eine willkommene Entdeckung gewesen, dieser Raum. Er gehörte zu einer Mühle am Rand von Lord Ardalens Lehen und beherbergte einen großen Bottich. Jemand hatte eine einfallsreiche Vorrichtung ersonnen: Durch bloßes Umlegen eines Hebels konnte der Bottich über verschiedene Rinnen und Rohre mit Wasser aus dem Fluss gefüllt werden. Ein weiterer Hebel öffnete einen Abfluss, durch den das Wasser den Bottich wieder verlassen konnte - vermutlich, um zurück in den Fluss zu fließen.
Ohne dass dafür längere Diskussionen vonnöten gewesen wären, wechselten sich alle Magier und Meisterschüler der Gruppe darin ab, sich und ihre Kleider zu waschen. Nur die Diener wuschen sich im Fluss.
Jayan griff nach seinen Ersatzkleidern, die jetzt ebenfalls frisch gewaschen und getrocknet waren, und trug sie aus dem Raum. Ein kurzer Flur führte hinaus, wo Zelte aufgebaut worden waren. Obwohl sie in der Mühle selbst hätten Zuflucht suchen können, zogen sowohl Magier als auch Meisterschüler es vor, gemeinsam im Freien zu lagern und stets nach Angreifern Ausschau zu halten.
Die Mühle war bei ihrer Ankunft verlassen gewesen. Auch eine sorgfältige Untersuchung hatte nur leere Schränke und, zu ihrer Erleichterung, keine Leichen ergeben. Die Bewohner mussten Ardalens Nachricht erhalten und sich nach Süden in Sicherheit gebracht haben. Es gab jedoch Zeichen einer Plünderung. In einen Lagerraum war eingebrochen worden. Eine verschlossene Truhe war gewaltsam geöffnet worden, und der Inhalt, der keinen Diebstahl lohnte - größtenteils Kleidung -, lag überall verstreut. Es ließ sich unmöglich feststellen, ob es sich bei den Plünderern um Sachakaner oder um gewöhnliche Diebe gehandelt hatte. Inzwischen hatten sie nämlich auch Nachrichten über die Plünderung verlassener Dörfer durch Einheimische selbst erreicht.
Das war wohl unvermeidlich, dachte Jayan. Die Narren verstehen oder interessieren sich wahrscheinlich nicht dafür, dass ihr Leben, wenn sie von Sachakanern gefangen werden, den Feind stärken wird.
Jayan hielt in der Dunkelheit des Flures inne und blickte hinaus. Tessia war, wie er feststellte, nicht bei den übrigen Meisterschülern. Die anderen vier jungen Männer waren zwischen fünfzehn und zweiundzwanzig Jahre alt. Mikken, den zweitältesten nach Jayan, schlank und selbstbewusst, schätzte er als den attraktivsten von ihnen ein. Leoran war ein wachsamer Typ, der sein ruhiges Wesen dadurch wettmachte, dass er stets eine witzige Bemerkung oder ein Wortspiel anzubieten hatte. Der leicht zu begeisternde Refan stimmte stets allem zu, was die anderen sagten oder dachten. Und Aken, der jüngste, musste noch die Gewohnheit ablegen, seine Gedanken laut auszusprechen, ohne vorher zu überlegen, ob sie jemanden kränken oder ihn als Narren dastehen lassen würden.
Meistenteils neigten sie dazu, Tessia zu ignorieren, doch wenn sie sprach, hörten sie durchaus zu und gaben höflich Antwort. Er wusste, dass sie sich unsicher waren, wie sie sich in ihrer Nähe verhalten sollten. Die jungen Frauen, die sie gewohnt waren, ließen sich leicht in Kategorien einteilen: Sie waren entweder reich und stammten aus mächtigen Familien; oder sie waren Dienerinnen, Bettlerinnen und Huren. Die wenigen weiblichen Magier, denen sie begegnet waren, mussten alle aus der ersten Gruppe stammen, aber das Problem war, dass einige von ihnen im Ruf standen, ziemlich abenteuerlustig zu sein, vor allem, was ihre Einstellung Männern gegenüber betraf.
Die vier jungen Männer lachten, dann schauten sie alle in eine Richtung. Als Jayan ihren Blicken folgte, sah er, dass die Magier in einigen Schritten Entfernung im Kreis zusammenstanden. Wahrscheinlich diskutierten sie einmal mehr sämtliche Gründe, warum sie bisher keinen Sachakanern begegnet waren, und wünschten, sie könnten einen gefahrlosen Weg finden, den Feind aus dem Versteck zu locken.
Jetzt schauten die Meisterschüler alle in die andere Richtung, und Jayan sah, wo Tessia abgeblieben war. Sie pflückte kleine Früchte von einem Baum und füllte eine Schale mit ihnen.
Wahrscheinlich eine Zutat für irgendein Heilmittel, überlegte er und unterdrückte einen Seufzer. Denkt sie denn jemals an irgendetwas anderes? Obwohl diese Besessenheit ihn nicht mehr gar so sehr störte - nicht mehr, seit er sie bei der Frau mit dem Geschwür im Mund beobachtet hatte -, war sie diesbezüglich doch so entschlossen, dass es absolut berechenbar und vielleicht ein wenig langweilig war.
Kurz darauf stand Mikken auf und schlenderte zu ihr hinüber. Er streckte die Hände aus, und sie gab ihm mit leicht überraschter Miene die Schale. Während sie weiterpflückte, redete er mit ihr und lächelte dabei übers ganze Gesicht.
Jayans Haut kribbelte. Er brauchte nicht zu hören, was der Meisterschüler sagte, um zu wissen, was er im Schilde führte. Im nächsten Augenblick trat er durch die Tür und ging auf die beiden zu. Mikken schaute auf, und als er Jayan kommen sah, spiegelten sich auf seiner Miene sowohl Schuldbewusstsein als auch Trotz wider.
»Du bist an der Reihe, Mikken«, sagte Jayan. Er hielt inne, schnupperte und lächelte. »Ich an deiner Stelle würde es nicht mehr allzu lange hinauszögern.«
Der junge Mann runzelte die Stirn und öffnete den Mund zu einer Erwiderung, dann sah er Tessia an und besann sich eines Besseren. Er reichte Jayan die Schale.
»Ich verneige mich vor der Weisheit meines viel, viel älteren Mitschülers«, sagte er spöttisch, dann verabschiedete er sich mit einem letzten Lächeln von Tessia und ging auf die Mühle zu.
Tessia zog eine Augenbraue hoch. »Ihr beide seid noch immer damit beschäftigt, eine Hackordnung zu ermitteln?«
»Oh, es ist klar, wer an der Spitze steht«, entgegnete Jayan. »Die geringeren Ränge müssen den Rest unter sich ausmachen. Gefällt es dir, die Beute zu sein, um die sie streiten?«
»Ich?«
»Ja, du. Ich fürchte, weibliche Magier haben einen ziemlich schlechten Ruf. Meine jungen, naiven Mitschüler versuchen zu ermitteln, ob einer oder auch jeder von ihnen eine Chance bei dir hat.«
»Eine Chance?« Sie drehte sich um und pflückte die nächste Frucht. »Soll ich einen Heiratsantrag erwarten oder etwas viel Seichteres?«
»Definitiv seichter«, antwortete er.
Sie kicherte. »Also, wie kann ich über jeden Zweifel klarmachen, ohne sie in ihrem empfindlichen männlichen Stolz zu kränken, dass ich einen solchen Antrag niemals annehmen werde?«
Jayan hielt inne und dachte nach. »Sei unzweideutig und zögere nicht. Gib ihnen keinen Grund, an deinen Worten zu zweifeln. Aber du darfst sie natürlich nicht beleidigen. Wir müssen mit ihnen reisen.«
Tessia drehte sich wieder zu ihm um, warf eine weitere Handvoll kleiner grüner Früchte in die Schale, dann nahm sie ihm die Schale ab. »Dann sollte ich in dieser Angelegenheit am besten unzweideutig sein und die Dinge klarstellen.«
Sie ging mit langen Schritten auf die Meisterschüler zu. Jayan blieb stehen; plötzlich kamen ihm Zweifel an seinem eigenen Rat. Es hatte nicht in seiner Absicht gelegen, sie dazu zu bringen, die anderen sofort zur Rede zu stellen. Die Augen der drei jüngeren Meisterschüler leuchteten auf, als sie näher kam, obwohl Jayan nicht erkennen konnte, ob bange Erwartung oder Hoffnung der Auslöser waren.
Aber Tessia begann keineswegs eine wortreiche Erklärung, dass sie nicht zu haben sei, oder tadelte sie dafür, eine solche Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen zu haben. Sie setzte sich auf die Decke, auf der die jungen Männer lagen, und reichte dem, der ihr am nächsten war - Refan -, die Schale.
»Koste davon. Sie schmecken wunderbar.«
Refan nahm eine der Früchte. »Aber sie ist nicht reif.«
»Oh doch. Diesen Fehler machen die Leute ständig. Siehst du die dunkle Stelle am Ende? Daran erkennt man, dass sie reif sind. Aber so sind sie nur wenige Wochen lang. Wenn die Frucht die Farbe wechselt, ist es zu spät. Dann werden sie innen ganz filzig und trocken.«
Sie begann, die Frucht zu schälen, die sie für sich behalten hatte. Widerstrebend taten die anderen es ihr gleich. Als sie in das Fleisch bissen, sah Jayan die Überraschung auf ihren Gesichtern. Neugierig nahm er sich ebenfalls eine Frucht und stellte fest, dass Tessia recht hatte. Sie waren scharf, aber süß.
Schon bald tauchte Mikken mit feucht glänzendem Haar aus der Mühle auf.
»Was ist das?«, fragte er, als er sich zu ihnen gesellte. »Was esst Ihr da?«
»Ah, Mikken«, sagte Tessia. »Schön. Jetzt, da du hier bist, gibt es etwas, das ich euch allen offenkundig absolut und unmissverständlich klarmachen muss.« Sie sah Jayan an. »Dir auch.«
Zu seinem Entsetzen spürte Jayan, dass sein Gesicht warm wurde. Er seufzte, verdrehte die Augen und heuchelte Langeweile, und die ganze Zeit über hoffte er, dass sein Gesicht nicht gerötet war.
»Ich habe nicht die Absicht, während dieser Reise oder danach mit irgendeinem von euch das Bett zu teilen«, erklärte Tessia. »Also schlagt euch die Idee aus dem Kopf.«
Jayan beobachtete, wie die vier Jungen den Kopf senkten und überall hinblickten, nur nicht in Tessias Richtung. Aken funkelte Jayan jedoch kurz an.
»Wir haben nicht...«, begann Mikken und breitete die Hände aus. Er sprach im Tonfall eines Menschen, der versuchte, etwas zu erklären.
»Oh, denkt nicht, ich sei töricht genug, das zu glauben«, fiel sie ihm ins Wort. »Ihr seid alle Männer, und jung. Ich bin die einzige Frau hier. Ich bin nicht eitel; nur nicht dumm.« Sie lachte leise. »Außerdem weiß ich, dass die Situation eine andere wäre, wäre ein hübscheres Mädchen in der Nähe. Wie dem auch sei, schlagt euch den Gedanken aus dem Kopf. Es wird nichts geschehen. Schließlich möchte ich wohl kaum ausgerechnet jetzt schwanger werden, oder?«
Die Meisterschüler antworteten nicht, aber sie fing die Blicke auf, die sie tauschten.
»Was?«, fragte sie, und jetzt stahl sich ein wenig Ärger in ihre Stimme. »Dieser Gedanke ist Euch nicht einmal gekommen?«
»Natürlich nicht«, platzte Aken heraus. »Du verfügst über Magie. Du kannst verhindern, dass so etwas geschieht.«
Tessia blinzelte überrascht, dann sah sie mit Argwohn in den Augen zu Jayan hinüber. »Das ist möglich?«, fragte sie ihn leise.
Jedoch nicht leise genug, wie sich herausstellte. Noch während Jayan nickte, hatten die anderen den Kopf gehoben. Sie grinsten.
»Hat das zufällig deine Meinung geändert?«, fragte Aken schüchtern.
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Nein, und wenn du der letzte Mann in Kyralia wärest.«
Die anderen lachten. Tessias Lippen zuckten, dann lächelte sie. »Nun, wir haben also beide heute etwas gelernt, nicht wahr?« Sie griff nach einer weiteren Frucht, und als Mikken ebenfalls eine Frucht untersuchte, erklärte sie ihm, wie man beurteilte, ob das Obst reif war oder nicht.
Nach einer Weile sah sie Jayan an und zog fragend eine Augenbraue hoch. Habe ich sie überzeugt?, stellte er sich ihre Frage vor. Er zuckte die Achseln und nickte. Sie beugte sich näher zu ihm vor, und ihr Blick wanderte zu den Magiern hinüber, die einige Schritte entfernt immer noch miteinander redeten.
»Was denkst du, worüber sie sprechen? Kauen sie dieselben Dinge wieder und wieder durch?«
Er nickte. »Wahrscheinlich.«
»Was für eine Zeitverschwendung. Wenn sie nicht immer wieder darüber sprächen, könnte Lord Dakon ein wenig Zeit erübrigen, um uns zu unterrichten. Ich habe das letzte Mal vor unserer Ankunft in Imardin etwas über Magie gelernt.«
Jayan warf ihr einen ungläubigen Blick zu.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du solches Interesse daran hast.«
Sie schnaubte leise. »Erstaunlich, was ein klein wenig Lebensgefahr bewirken kann. Ganz zu schweigen vom Tod der eigenen Eltern.«
»Nun, falls es dir ein Trost ist: Ich habe auch keinen Unterricht gehabt.«
»Für dich ist das ja alles gut und schön«, gab sie zurück. »Du hast eine jahrelange Ausbildung hinter dir. Ich habe nur Monate gehabt.«
»Ich könnte dich unterrichten«, erbot sich Jayan. Dann sog er scharf die Luft ein und wandte den Blick ab. Woher war das gekommen?
Dann erinnerte er sich daran, dass Lord Dakon ihn vor Monaten gebeten hatte, Tessia beim Üben zu helfen. Dass Jayan auch davon profitieren würde, wenn er einem anderen beim Lernen half. Aber Dakon hatte nicht erwähnt, dass Jayan Tessia unterrichten solle, was Meisterschülern nicht gestattet war.
Der Gedanke, dass sie vielleicht sterben könnte, einfach weil ihre Ausbildung mangelhaft gewesen war, war jedoch unerträglich. Gewiss waren die Umstände außergewöhnlich genug, um eine kleine Beugung der Regeln zu rechtfertigen.
Tessia starrte ihn jetzt mit großen Augen an, aber als er ihrem Blick erneut begegnete, nickte sie schnell.
»Sofort?«
Er sah die anderen an. Sie stopften sich mit Früchten voll, zu beschäftigt mit ihrem Festmahl, um allzu sehr darauf zu achten, was Tessia und Jayan vielleicht taten. Er stand auf. Sie folgte seinem Beispiel und schaute ihn erwartungsvoll an. Jayan dachte gründlich nach, ging ein Stück von den anderen weg und überlegte, was er ihr überhaupt beibringen konnte.
»Raffiniertere Verteidigungsmethoden«, sagte er laut. »Das ist das Naheliegendste, was ich dir zuerst beibringen muss.«
»Klingt vernünftig«, antwortete sie.
Also begann er ihr zu zeigen, wie sie ihren Schild verwandeln konnte. Lord Dakon hatte ihr die grundlegenden Dinge über die Benutzung von Schilden beigebracht, da dies alles war, was ein neuer und mächtiger Meisterschüler am Anfang wissen musste. Was hatte er gesagt? »Es hat keinen Sinn, einen neuen Meisterschüler mit Komplikationen zu verwirren. Bring sie dazu, sich regelmäßig mit einem starken Schild zu schützen, und wenn sie das können, ohne nachzudenken, fang mit den Feinheiten an.«
Jayan bemerkte, dass sie Publikum hatten, als eine Stimme dicht neben ihm laut wurde.
»Das habe ich noch nie versucht. Würdest du es mir zeigen?«
Er drehte sich um und sah Leoran hinter sich stehen. Er musterte den Jungen, dann zuckte er die Achseln und bedeutete ihm, sich neben Tessia zu stellen. »Natürlich. Dergleichen Dinge könnten dir das Leben retten.«
»Und meins auch?«, fragte Aken.
Der junge Meisterschüler wartete nicht auf eine Antwort, sondern lief zu Leoran hinüber. Jayan lächelte schief und drehte sich zu Mikken und Refan um. Sie schüttelten den Kopf.
»Das kenne ich schon«, sagte Mikken.
Während Jayan fortfuhr, sie die verschiedenen Formen des Schutzes durch Schilde zu lehren, die er kannte, trat Mikken vor und unterstützte ihn. Der ältere Meisterschüler führte eine Methode vor, von der Jayan noch nichts gehört hatte, obwohl sie einige ernsthafte Mängel aufwies. Sie begannen, über die Vor- und Nachteile zu debattieren, und jeder benutzte die anderen Meisterschüler, um zu demonstrieren, was er meinte.
»Aufhören! Sofort aufhören!«
Beim Klang der lauten Stimme zuckten alle zusammen. Als sie sich umdrehten, sahen sie Mikkens Meister, Lord Ardalen, mit langen Schritten auf sie zukommen.
»Was tut ihr da«, fragte der Magier scharf. »Ihr unterrichtet einander, nicht wahr?« Als er sie erreichte, legte er Mikken eine Hand auf die Schulter. Sein Gesichtsausdruck war mitfühlend, aber seine Stimme verriet seinen Ärger, als er Jayan ansah. »Du denkst wahrscheinlich, du würdest Initiative zeigen - und das tust du auch -, aber du solltest so etwas nicht machen. Es ist Meisterschülern verboten, andere Meisterschüler zu unterrichten. Du darfst erst unterrichten, wenn du ein höherer Magier geworden bist.«
»Und warum?«, fragte Aken mit unüberhörbarer Enttäuschung.
»Es ist gefährlich«, sagte Lord Balvin, Leorans Meister, der sie nun ebenfalls erreicht hatte. Die anderen Magier kamen näher, wie Jayan bemerkte. Dakon runzelte die Stirn. Der Meisterschüler verspürte Gewissensbisse und Furcht, dass er seinen Meister gekränkt haben könnte.
»Was geht hier vor?«, fragte Lord Dakon, als die übrigen Magier sich zu ihnen gesellt hatten. Nachdem man ihm die Situation erklärt hatte, wurde die Falte zwischen seinen Brauen noch tiefer. »Ich verstehe. Seid aber versichert, dass Jayan dazu ausgebildet worden ist, andere gefahrlos zu unterrichten. Er steht kurz vor dem Ende seiner eigenen Ausbildung, daher habe ich begonnen, ihn auf die Zeit vorzubereiten, da er seinen eigenen Meisterschüler zu sich nimmt. Eure Meisterschüler sind vollkommen sicher.«
Zu Jayans Erheiterung begannen die Magier jetzt, über das Thema zu diskutieren; sie bildeten einen neuen Kreis, der die Meisterschüler ausschloss. Er sah zu Tessia hinüber, um deren Lippen ein schiefes Lächeln spielte. Sie begegnete seinem Blick, zuckte die Achseln und kehrte dann zu der Decke und der beinahe leeren Schale mit Früchten zurück. Als Jayan ihr folgte, schlossen sich die anderen Meisterschüler ihm an.
»Das stinkt zum Himmel«, bemerkte Aken, während er sich mürrisch auf die Decke fallen ließ.
Die anderen nickten.
»Nun...«, begann Jayan. »Meint Ihr, sie hätten auch etwas dagegen, wenn wir Kyrima spielen würden? Das soll angeblich gut sein, um strategische Fähigkeiten zu entwickeln.«
Die anderen blickten eifrig auf. Tessias Schultern sackten herab. »Oh, wie wunderbar«, murmelte sie sarkastisch.
Jayan beachtete sie nicht. Wenn er ihr nur ein wenig zusetzte, würde sie mitspielen. Und sie war gar nicht mal schlecht. Als die anderen sich zu Paaren zusammentaten, drehte er sich zu ihr um.
»Du kannst mich nicht ohne Partner lassen«, sagte er.
Sie verzog das Gesicht, schnappte sich die Schale und stand auf. »Du hast wohl meine kleine Ansprache vorhin vergessen, Jayan? Nicht wenn du der letzte Mann in Kyralia wärest.«
 
Es beruhigte Hanara festzustellen, dass viele der neuen Verbündeten seines Herrn mehr als einen Sklaven mitgebracht hatten. Einige hatten sogar zehn Sklaven bei sich, obwohl sie nicht alle Quellsklaven waren. Da er dies nun wusste, gelang es ihm, Jochara, Takados neuen Quellsklaven, zu dulden. Und es half auch, dass Takado Hanara schwierigere Aufgaben zuwies, da Jochara, der mit den Gepflogenheiten ihres Herrn nicht vertraut war, länger brauchte, um zu begreifen, was von ihm verlangt wurde. Wenn Takado sie gedrängt hätte, miteinander um seine Gunst zu wetteifern, dann wäre klar gewesen, dass er nicht zwei Quellsklaven wollte und den Verlierer töten würde. Aber da Takado und seine Verbündeten ständig umherzogen, gab es so viel zu tun, dass sowohl Hanara als auch Jochara vollkommen erschöpft waren, wenn Takado ihnen endlich gestattete zu schlafen.
Wenn jeder neue Verbündete ihm Geschenke macht, werden wir bald nicht mehr in der Lage sein, alles zu tragen, dachte er, während er die Last auf seinen Schultern ein wenig verschob.
Die Zahl von Takados Verbündeten war auf zwölf gestiegen. Sklaven auf dem Pass wiesen ihnen den Weg zu dem nächsten Posten einer Kette, die quer durchs Gebirge bis zu Takados Lager führte. Auf jedem der in gleichmäßigen Abständen eingerichteten und von Sklaven bemannten Posten wusste die Besatzung lediglich, wo sich die beiden jeweils benachbarten Standorte befanden. Wenn Takado am Abend sein Lager aufgeschlagen hatte, schickte er einen Sklaven zum Ende der Reihe, um seine Verbündeten darüber in Kenntnis zu setzen, wo sie ihn fanden.
In der vergangenen Nacht waren zwei weitere sachakanische Magier mit ihren Sklaven eingetroffen. Glücklicherweise waren die Geschenke, die sie mitgebracht hatten, allesamt zum Verzehr bestimmt. Takado brauchte Proviant für seine Gefolgsleute und Sklaven dringender als schwere, goldene Kinkerlitzchen. Sie plünderten zwar einheimische Bauernhöfe und Dörfer, aber die Siedlungen lagen häufig weit auseinander, und die meisten Einheimischen waren inzwischen geflohen und hatten die geringen Vorräte, die sie besaßen, mitgenommen. Selbst jene, die töricht genug waren zu bleiben, hatten nicht mehr allzu viel in ihren Vorratskammern, da der Winter gerade erst zu Ende gegangen war.
Alledings gab es, wo Kyralier geblieben waren, häufig Vieh, das sie schlachten und verzehren konnten. Davon abgesehen machten sie Jagd auf wilde Tiere. Glücklicherweise brauchten sie sich keine Sorgen zu machen, dass Kochfeuer oder Rauch ihren Standort preisgab, da im Allgemeinen der eine oder andere Magier das Fleisch mit Hilfe von Magie röstete. Sklaven, die im Fährtensuchen bewandert waren, informierten die Magier stets über den Aufenthaltsort und die Zahl der kyralischen Magier.
Als Takado begann, einen steilen Hang in weiten Serpentinen hinaufzusteigen, beugte Hanara sich vor, um mit seiner Last das Gleichgewicht zu wahren, und folgte ihm. Er konnte Jochara hinter sich keuchen hören. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter und durchnässte das Hemd, das der Stallmeister ihm gegeben hatte. Dieses Leben - seine Zeit in Mandryn - erschien ihm bereits wie ein Traum. Es war töricht von ihm gewesen zu denken, es könne von Dauer sein. Es hatte etwas beruhigend Vertrautes, Takado wieder zu dienen. Es war härter, aber er kannte die Regeln. Er passte in diese Gesellschaft.
Als er den Gipfel der Anhöhe erreicht hatte, war er außer Atem. Takado, der keinerlei Lasten trug, hatte einigen Vorsprung gewonnen und stand etwas entfernt auf dem Hügel, wo er sich mit einem Sklaven unterhielt, der einem der anderen Magier gehörte. Der Junge war schnell und behände, daher wurde er nicht als Träger, sondern als Späher eingesetzt.
»...das Licht gesehen. Den Knall gehört. Bum, bum«, sagte der Junge gerade und zeigte auf eine Stelle unter ihnen, wo die Straße zum Pass wie eine offene Wunde durch den Wald schnitt.
»Eine magische Schlacht«, bemerkte Takado und blickte stirnrunzelnd in die Ferne. »Wie lange liegt sie zurück?«
»Eine halbe Schattenlinie«, antwortete der Sklave. »Vielleicht länger.«
Wie der Junge ohne Schattenuhr auf diese Weise die Zeit schätzen konnte, war ein Rätsel. Takado sah Hanara und den Rest seiner Gruppe an, sagte jedoch nichts, sondern schaute wieder zum Wald hinab. Hanara konnte erraten, was er dachte. Hatten die Sklaven auf dem Pass die neuen Verbündeten verfehlt? Waren die Neuankömmlinge stattdessen auf die Kyralier gestoßen? Hatten sie gesiegt oder verloren?
Takado und seine Verbündeten hatten die Gruppe von Kyraliern, die ihnen folgten, nicht als ernsthafte Bedrohung angesehen, da sie nur zu siebt waren gegen zwölf Sachakaner. Aber Takado wollte es vermeiden, kyralische Magier zu töten, bis die Zahl der Männer und Frauen an seiner Seite erheblich größer war und sie jedweden Vergeltungsmaßnahmen, die gewiss folgen würden, standhalten konnten.
Jetzt scheuchte Takado den Späher weg und stieg den Hang hinab, auf die Straße und das Schlachtfeld zu. Hanaras Magen krampfte sich zusammen, und er hörte Jochara hinter sich fluchen. Die anderen drei Ichani in Takados Gruppe erhoben keinen Protest, obwohl sie ihren Sklaven den Befehl gaben, zu schweigen und keinerlei Geräusche zu machen.
Die Zeit dehnte sich. Mit jedem Schritt suchte Hanara den Wald und den unebenen Boden vor sich ab. Er lauschte auf Stimmen oder die Pfiffe, mit denen die Sklaven einander gelegentlich Zeichen gaben. Takado gab ein gemäßigtes Tempo vor und setzte jeden Schritt mit Bedacht. Sie erreichten den Fuß des Hügels. Dann machten sie sich auf den Weg quer durch das Tal, dem die Straße folgte.
Je näher sie der Straße kamen, umso wilder raste Hanaras Herz. Er versuchte weiter, seine Atmung zu beruhigen, indem er in flachen Stößen atmete, aber die Anstrengung, Takados Habe tragen zu müssen, war zu groß, und schon bald ertappte er sich dabei, dass er keuchte.
Schließlich blieb Takado stehen und hob die Hand, um den anderen zu bedeuten, seinem Beispiel zu folgen. Hanara stellte fest, dass sie jetzt in Sichtweite der Straße waren. Schweigend warteten sie ab.
Von einem Ort irgendwo vor ihnen wehten Stimmen herbei. Takado bewegte sich nicht. Langsam entspannten sich seine Schultern, und er verlagerte sein Gewicht auf ein Bein. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust.
Um eine Biegung der Straße kamen zwei Männer geritten. Vor ihnen ging ein prächtig gewandeter Mann, der mit einem Seil gefesselt war und an der Schläfe blutete. Hinter ihnen folgten vier Sklavenmädchen, gebeugt und hager.
Die Haare in Hanaras Nacken stellten sich auf, als er die Reiter erkannte. Es waren zwei von Takados Freunden, die beiden Ichani Dovaka und Nagana. Beide waren inzwischen seit einigen Jahren Ausgestoßene, und sie waren gebräunt und abgehärtet von der Notwendigkeit, in den nördlichen Bergen und der Aschewüste zu überleben. Der ältere, Dovaka, hatte etwas an sich, das Hanara beunruhigte. Sein Magen zitterte, und er bekam eine Gänsehaut. Es war nicht nur der Umstand, dass seine Sklaven immer halb verhungerte, eingeschüchterte und verängstigte junge Frauen waren. In seinen Worten lag stets eine solche Gier nach Gewalt, dass selbst andere Ichani sich von ihm abgestoßen fühlten. Als Takado aus den Bäumen auf die Straße trat, ließ Hanara mutlos die Schultern sinken. Der Rest der Gruppe folgte.
»Takado!«, rief Dovaka, als er sie erblickte. »Ich habe ein Geschenk für dich.« Er sprang von seinem Pferd, dann packte er den gefesselten Mann am Kragen und stieß ihn vor, bis er vor Takado auf die Knie fiel. »Kaiser Vochiras Bote. Wir haben gehört, dass er vor uns durch den Pass geritten war, daher haben wir ihn eingeholt, um festzustellen, was er übermitteln wollte.«
»Ein Bote?«, wiederholte Takado.
»Ja. Er hat dies hier bei sich getragen.«
Dovakas Augen leuchteten auf, als er Takado einen Metallzylinder hinhielt. Takado nahm ihn entgegen, schnitt das Ende ab und zog eine Pergamentrolle heraus. Er entrollte sie und las, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
»Der Kaiser schickt also Magier aus, die sich unserer annehmen sollen«, sagte er und blickte über die Schultern zu seinen Verbündeten hinüber. »Oder er will zumindest, dass der kyralische König das glaubt.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Boten. »Ist das wahr?«
»Würdet Ihr mir glauben, wenn ich Eure Frage bejahte?«, antwortete der Mann trotzig.
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Takado.
Er umfasste den Kopf des Mannes mit beiden Händen und starrte ihn eindringlich an. Alles war still, bis auf den gelegentlichen Ruf eines Vogels und das ferne Bellen irgendeines Tieres. Dann richtete Takado sich auf.
»Du glaubst, es ist die Wahrheit.« Er hielt inne und betrachtete den Mann. »Ich werde dich am Leben lassen, wenn du dich uns anschließt.«
Der Mann blinzelte, dann wurden seine Augen schmal. »Was bringt Euch auf den Gedanken, dass ich mich nicht bei der ersten Gelegenheit davonstehlen würde?«
Takado schüttelte den Kopf. »Weil du versagt hast, Harika. Deine Aufgabe bestand darin, die Nachricht dem kyralischen König zu überbringen. Aber was noch wichtiger war, du solltest verhindern, dass die Nachricht uns erreichte. Kaiser Vochira mag das zwar nicht direkt gesagt haben, aber du weißt, dass es wahr ist. Selbst wenn es dir gelänge, zum kyralischen König vorzudringen und ihn davon zu überzeugen, dass du nicht lügst, was den Inhalt der Nachricht betrifft, die wir dir abgenommen haben, und selbst wenn es dir gelänge, nach Hause zurückzukehren, wird Vochira dich töten lassen oder zum Ausgestoßenen erklären.« Takado lächelte. »Ich fürchte, ganz gleich, was geschieht, du wirst am Ende tot sein oder ein Ichani.«
Der Bote senkte mit gefurchten Brauen den Kopf.
»Du kannst dich uns genauso gut anschließen«, stellte Takado fest. »Ich kann dir versprechen, was der Kaiser nicht kann: dass du, wenn wir Erfolg haben und du überlebst, nicht länger ein landloser, sklavenloser Lakai sein wirst. Du kannst Land für dich selbst fordern, das Ansehen, das du verloren hast, zurückgewinnen, und dafür sorgen, dass dein Sohn etwas zu erben hat.«
Der Bote holte tief Luft, seufzte und nickte langsam. »Ja«, sagte er. Er hob den Kopf und sah Takado an. »Ich werde mich Euch anschließen.«
»Gut.« Takado lächelte, und die Fesseln fielen von den Handgelenken des Mannes. »Steh auf. Mein Sklave wird sich diese Schnittwunde ansehen.«
Takado drehte sich um und winkte Hanara heran. Hanara drängte das starke Verlangen beiseite, Dovaka nicht näher zu kommen, setzte seine Last ab und holte sauberes Wasser und ein Tuch, um Harikas Wunde zu reinigen. Während er arbeitete, beobachtete er, wie Takado und Dovaka sich ein wenig von den anderen entfernten. Ihr Gespräch war zu leise, als dass er es hätte belauschen können, doch ihre Haltung und ihre Gesten wirkten entspannt und freundlich. Aber in Takados Bewegungen lag etwas Bedächtiges, als zwinge er sich, den Eindruck von Ruhe zu erwecken.
Er ist wütend auf sie, wahrscheinlich weil sie nicht dorthin gegangen sind, wohin die Sklaven sie geschickt haben, überlegte er. Er wird es nicht leicht haben, Dovaka und Nagana unter Kontrolle zu halten. Irgendwann wird Dovaka Takados Autorität infrage stellen, und wenn er das tut, hoffe ich, dass ich weit weg bin.
Magie
cana_9783641027582_oeb_cover_r1.html
cana_9783641027582_oeb_toc_r1.html
cana_9783641027582_oeb_ata_r1.html
cana_9783641027582_oeb_p01_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c01_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c02_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c03_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c04_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c05_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c06_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c07_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c08_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c09_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c10_r1.html
cana_9783641027582_oeb_p02_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c11_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c12_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c13_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c14_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c15_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c16_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c17_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c18_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c19_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c20_r1.html
cana_9783641027582_oeb_p03_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c21_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c22_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c23_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c24_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c25_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c26_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c27_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c28_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c29_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c30_r1.html
cana_9783641027582_oeb_p04_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c31_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c32_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c33_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c34_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c35_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c36_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c37_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c38_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c39_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c40_r1.html
cana_9783641027582_oeb_p05_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c41_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c42_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c43_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c44_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c45_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c46_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c47_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c48_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c49_r1.html
cana_9783641027582_oeb_c50_r1.html
cana_9783641027582_oeb_bm1_r1.html
cana_9783641027582_oeb_gl1_r1.html
cana_9783641027582_oeb_ack_r1.html
cana_9783641027582_oeb_cop_r1.html