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26
Stara ertappte sich dabei, dass sie wieder
einmal im Raum auf und ab ging, und blieb stehen. Sie ballte die
Fäuste und drehte sich zu Vora um.
»Wie lange werde ich hier noch eingepfercht sein?
Jetzt sind es zwei Wochen! Und ich habe meinen Vater nur ein
einziges Mal gesehen, an dem Abend, an dem er seine Gäste bewirtet
hat. Warum kommt er nicht zu mir oder erlaubt mir, ihn zu
besuchen?« Interessiert es ihn denn überhaupt nicht, wie es mir
geht, hätte sie gern hinzugefügt. Liegt ihm nichts daran,
ein wenig Zeit mit mir zu verbringen? Herauszufinden, ob ich
irgendetwas für meinen zukünftigen Ehemann empfunden habe - zum
Beispiel Hass oder Gleichgültigkeit?
Vora zuckte die Achseln. »Nach dem, was ich von den
Sklaven gehört habe, hat Meister Sokaro viel zu tun. Eine Fracht,
die nach Elyne geschickt wurde, ist verschwunden. Die Probleme, für
die die Ichani in Kyralia sorgen, haben ihn in Elyne einige Käufer
gekostet.«
Stara starrte die Sklavin an. »Mutter hat eine
Lieferung und Kunden verloren? Weißt du, wie schlimm es ist?«
»Das ist alles, was ich gehört habe. Abgesehen
davon, dass Euer Vater versucht, Geschäfte hier abzuschließen, um
seinen Verlust dort wettzumachen.«
»Seinen Verlust?« Stara rümpfte die Nase.
»Meine Mutter macht die ganze Arbeit in Elyne.« Wieder lief sie im
Raum auf und ab. »Wenn er doch nur mit mir reden würde. Die
Unwissenheit ist es, die mich in den Wahnsinn treibt!« Sie blieb
stehen, sah sich im Raum um und runzelte finster die Stirn. »Ich
bin dieser immer gleichen Wände müde. Wenn ich ihn nicht
sehen kann, werde ich ausgehen. Gibt es einen Markt in der Stadt?«
Sie brach ab. »Natürlich gibt es einen. Selbst wenn ich keine Münze
habe, die ich ausgeben könnte, kann ich zumindest in Erfahrung
bringen, was ich mir in Zukunft vielleicht kaufen werde. Und
vielleicht finde ich auch mehr über die Situation in Elyne heraus.«
Sie trat vor die Truhe, in der Vora ihre Umhänge aufbewahrte, und
öffnete sie.
»Ihr könnt nicht fortgehen, Herrin«, widersprach
Vora. »Nicht ohne seine Erlaubnis.«
»Mach dich nicht lächerlich. Ich bin eine
erwachsene Frau, kein Kind.« Stara wählte den am wenigsten grellen
Umhang aus und schwang ihn sich um die Schultern.
»So werden die Dinge hier aber nicht gehandhabt«,
erklärte Vora. »Ihr braucht Wachen und den Schutz eines Mannes. Ich
könnte Meister Ikaro fragen, ob...«
»Nein«, fiel Stara ihr ins Wort. »Halte meinen
Bruder da heraus. Ich werde einige Sklaven mitnehmen. Und einen
geschlossenen Wagen. Falls jemand fragt, können wir behaupten, mein
Vater säße darin, wolle aber mit niemandem sprechen. Oder mein
Bruder.« Sie verknotete die Bänder des Umhangs und ging auf die Tür
zu. Vora eilte hinter ihr her. »Und hör auf, mit mir zu streiten.
Ich gehe. Wir gehen. Falls etwas passiert, werde ich einfach...«
Sie hielt inne und beendete im Stillen ihren Satz: sie mit Magie
niedermachen. »Wir werden schon zurechtkommen, ich verspreche
es. Wie elynische Händler so gern sagen: Alles, was man im Leben
braucht, sind Zuversicht, Wissen und eine Menge Verstellung.«
Zehn Minuten später saßen sie und Vora in einem
geschlossenen Wagen und fuhren mit vier stämmigen Sklaven als
Beschützern und einem Fahrer vom Anwesen auf die Straßen der Stadt
hinaus.
»Siehst du?«, sagte Stara. »Niemand hat uns
aufgehalten.«
»Das ist den Sklaven gegenüber nicht besonders
gerecht«, entgegnete Vora missbilligend. »Sie werden bestraft
werden.«
»Weil sie Befehle befolgt haben? So grausam wäre
mein Vater doch sicher nicht.«
Vora zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch
nichts.
Dennoch wurde Staras Triumph darüber, ohne
Widerstand aus dem Haus gekommen zu sein, von Enttäuschung
überschattet. Ihr wäre es lieber gewesen, ihr Vater wäre in
Erscheinung getreten, um sie am Verlassen des Hauses zu hindern,
sodass sie ihn nach dem Geschäft und ihrer Mutter hätte fragen
können. Seufzend lehnte sie sich auf dem Sitz des Wagens zurück und
beobachtete, wie hohe weiße Mauern vorbeizogen.
Ist es überall in der Stadt so? fragte sie
sich. Ich habe nicht mehr viele Erinnerungen an Arvice.
Vielleicht bin ich nie aus dem Haus gekommen. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Mutter gern die ganze Zeit eingepfercht war. Aber
das könnte einer der Gründe gewesen sein, warum sie das Leben hier
gehasst hat. Vielleicht hing es nicht ausschließlich damit
zusammen, dass Vater sich seinen Sklaven gegenüber so schäbig
verhalten hatte.
Vielleicht hatte er sich auch ihrer Mutter
gegenüber schäbig verhalten, um sie dazu zu bringen, sich den
sachakanischen Gepflogenheiten zu beugen. Staras Magen krampfte
sich zusammen. Wenn es sich so verhielt, würde er sich ihr
gegenüber wahrscheinlich genauso benehmen. Ebenso wie es jeder Mann
tun würde, den er als ihren Ehemann auswählte. Sie schauderte.
Ich muss eine Möglichkeit finden, dieser Heirat zu entgehen! Und
dann muss ich ihn davon überzeugen, dass ich in irgendeiner Weise
für ihn arbeiten kann.
Sie begann, sich vorzustellen, wie sie auf dem
Markt neue Kunden für ihn fand. Es war höchst unwahrscheinlich, das
wusste sie, aber der Gedanke unterhielt sie während der Fahrt. Dann
veränderte sich das Bild außerhalb des Wagens so plötzlich, dass
sie einen Moment brauchte, um zu begreifen, was sie sah.
Die weißen Mauern verschwanden, und dann
überquerten sie eine breite Allee, und sie blickte auf Reihen
perfekt geformter Bäume und Beete mit leuchtend bunten Blumen.
Dahinter ragte ein prächtiges Gebäude auf. Sofort erkannte sie die
weißen, geschwungenen Mauern und Kuppeln des Kaiserpalastes, die
sie auf Bildern und Gemälden gesehen hatte - und vielleicht regte
sich sogar ihr Gedächtnis.
Es gibt keine einzige gerade Mauer in dem ganzen
Gebäude, hatte
ihr Vater ihr einmal erzählt. Alle Flure sind gekrümmt; es ist
leicht, sich zu verirren - und genau das ist der Sinn des Ganzen.
Jeder, der versucht, in den Palast einzudringen, würde in
Verwirrung geraten. Die Mauern sind sehr dick, aber ich habe
gehört, sie seien hohl. Die Verteidiger des Palastes können von
diesen Gängen in der Mauer aus jeden Raum erreichen und jeden
Eindringling unschädlich machen.
Genauso abrupt erreichte der Wagen die
gegenüberliegende Straße, und an die Stelle des Palastes traten
wiederum langweilige, hohe Mauern. Stara schloss die Augen und
hielt die Erinnerung an den Palast für einen Moment fest, ebenso
das Gefühl einer liebevollen Verbindung zu ihrem Vater. Das Gefühl
verblasste langsam, und wieder traten Furcht und Kummer an die
Oberfläche.
Wenn ich mein ganzes Leben mit ihm verbracht
hätte, wären die Dinge vielleicht anders. Aber dann hätte ich meine
Mutter nicht gekannt. Oder so viele Freiheiten genossen. Oder Magie
erlernt.
Der Wagen bog von der Straße ab und kam langsam zum
Stehen. Dann drang ein Geräusch durch die Tuchwände des Baldachins.
Stimmen vermischten sich mit dem Zwitschern und Schnauben von
Tieren und dem Klirren von Metall auf Holz. Stara sah Vora
an.
»Der Markt?«
Vora nickte. »Ihr solltet zwei Sklaven mitnehmen,
Herrin.« Sorgenfalten und ein Schatten der Furcht in Voras Augen
ließen die Frau noch älter erscheinen, wie Stara bemerkte.
»Sollen wir überhaupt auf den Markt gehen?«, fragte
Stara.
Die Frau presste die Lippen zusammen, und in ihren
Augen blitzten Ärger und vielleicht eine Spur Trotz auf. »Ihr wollt
jetzt umkehren, Herrin? Dann wäre die Fahrt Zeitverschwendung
gewesen.«
Stara lächelte und rief die Wachen herbei, damit
sie die Türklappe öffneten.
Als sie ausstieg, sah Stara, dass der Markt umgeben
war von einer weiteren hohen weißen Mauer. Den Eingang bildete ein
schlichter Bogen. Wachen standen zu beiden Seiten, aber ihre Mienen
spiegelten Langeweile wider, und sie ignorierten
Stara, Vora und die beiden Sklaven, die durch das Tor traten,
hinein in den Lärm und das Gewirr dahinter.
Sofort fiel Stara auf, dass außer ihr noch andere
Frauen dort waren. Auch sie waren eingehüllt in Umhänge und
allesamt in Begleitung eines Mannes. Solchermaßen beruhigt,
schlenderte sie langsam an den Reihen der Stände vorbei,
betrachtete die Waren und die Preise und beobachtete, dass Frauen
und Kinder sich häufig im fahlen hinteren Teil eines jeden Standes
zusammenkauerten oder dort arbeiteten.
Auf dem Markt waren Händler vieler Rassen
vertreten. Dunkelhäutige Menschen aus Lonmar in ihren trostlosen
Kleidern, die getrocknete Früchte und Gewürze verkauften. Bleiche,
hochgewachsene Lans in Fellen boten alle möglichen aus geschnitzten
Knochen gefertigten Dinge feil. Untersetzte, braune Vindos waren am
häufigsten; sie verkauften eine Vielzahl von Waren aus aller Herren
Länder. Einige Elyner verkauften Wein und das bittere Getränk, das
Stara zu schätzen gelernt hatte, Sumi.
Es waren keine Kyralier zu sehen, wie sie bemerkte.
Einige grauhäutige Männer, die nur einen kurzen Stoffrock trugen,
verkauften Edelsteine.
»Wer sind diese Männer?«, fragte sie Vora.
»Duna«, antwortete Vora. »Von einem Stamm aus der
Aschewüste im Norden.«
Während sie über den Markt schlenderte, Waren in
Augenschein nahm und Verkäufer mit einem höflichen Lächeln und
einem Kopfschütteln abwehrte, lauschte sie auf die Gespräche und
rückte näher heran, wenn sie zwei Händler miteinander reden sah.
Sie fing halbherzige Flüche auf, die sich gegen die Ichani
richteten, die den Handel mit Kyralia störten. Einige schwärmten
von den Möglichkeiten, die sich auftun würden, sobald Kyralia
erobert war. Andere machten sich Sorgen, dass die Ichani sich
sodann gegen den Kaiser wenden und Sachaka in einen Bürgerkrieg
stürzen könnten.
Stara dachte über die Meinung nach, die die Gäste
ihres Vaters vertreten hatten. Sie hatten eingewandt, dass Sachaka
ohnehin bereits auf einen Krieg im Innern zusteuere.
Typisch, dass ich genau zur falschen Zeit in
Sachaka lande.
Als sie und Vora um eine Ecke bogen, sah sie einen
Mann, der zu ihnen herüberschaute. Er musterte Vora flüchtig, dann
kehrte sein Blick sofort zu Stara zurück, und er lächelte. Sie
antwortete mit einem höflichen, aber reservierten Nicken, schaute
zu Boden und ging weiter. Zu ihrer Erheiterung stellte sie fest,
dass ihr Herz ein wenig schneller schlug, und das nicht deshalb,
weil sie sich bedroht fühlte. Was für ein gut aussehender Mann!
Wahrhaftig, wenn Vater ihn mir als Ehemann auswählte, würde es mir
schwerfallen abzulehnen.
Nach einem kurzen Moment blickte sie über ihre
Schulter. Vora zog an ihrem Arm, aber nicht bevor Stara sah, dass
der Mann sie noch immer beobachtete.
»Hört auf damit!«, murmelte die Frau. »Er wird das
als Einladung auffassen.«
»Als Einladung wozu?«, fragte Stara. Gab es
irgendeine Möglichkeit für eine Frau, sich hier in Sachaka einen
Geliebten zu nehmen? Wahrscheinlich nicht nach der Heirat, aber
noch war sie nicht verheiratet …
»Um mit Euch zu reden«, zischte Vora. Sie zog Stara
um die nächste Ecke.
»Nur reden? Was gibt es daran auszusetzen?«
Vora stieß einen kurzen, verärgerten Seufzer aus,
während ihr Blick über die Menschen um sie herum glitt. »Das kann
ich Euch hier nicht erklären, Herrin. Solange Ihr nicht gelernt
habt, mit wem Ihr gefahrlos reden könnt, solltet Ihr mit niemandem
sprechen. Am Ende führt Ihr vielleicht ein Gespräch mit einem der
Feinde Eures Vaters, oder Ihr stoßt einen seiner Verbündeten vor
den Kopf.«
»Wie soll ich lernen, mit wem ich gefahrlos reden
kann, wenn ich niemals jemanden kennenlerne?«
»Ich werde Euch die Namen und Familien nennen.«
Vora runzelte die Stirn und blickte über ihre Schulter. Während sie
das tat, trat der gut aussehende Mann einige Schritte vor ihnen aus
einem Marktstand. Er drehte sich um und lächelte, als er Stara
abermals bemerkte. »Ihr habt noch sehr viel zu lernen. Wir werden
dazu kommen, wenn...«
»Verzeiht mir, aber seid Ihr vielleicht die Tochter
von Ashaki Sokara?«
Stara lächelte und nickte. »Die bin ich.«
»Dann ist es mir eine Ehre, Euch kennenzulernen«,
sagte der Mann. »Ich bin Ashaki Kachiro. Mein Haus steht neben
Eurem, auf der südlichen Seite.«
»Oh, dann seid Ihr unser Nachbar.« Sie sah Vora an,
die den Blick auf den Boden gesenkt hielt. »Ich heiße Stara, und es
ist mir ebenfalls eine Ehre, Euch kennenzulernen, Ashaki
Kachiro.«
»Ich sehe, Ihr habt nichts gekauft«, bemerkte
Kachiro. »Habt Ihr hier nichts gefunden, was Euch gefällt?«
Sie schaute sich um. »Ich will nur wissen, was es
zu kaufen gibt. Es ist interessant, die Waren zu sehen, die in
Capia schwer zu finden sind, während sie hier im Überfluss
angeboten werden, und umgekehrt. Die Preise sind ebenfalls
unterschiedlich.« Als sie auf einen Verkaufsstand zuging, trat er
beiseite, um sie vorbeizulassen, dann schloss er sich ihr an. Zu
ihrer Erheiterung stellte sie fest, dass dies ihr schmeichelte.
Er hat mir während der letzten Augenblicke mehr Aufmerksamkeit
geschenkt, als mein Vater es seit meiner Ankunft getan hat.
»Einige der Waren verderben zu schnell, als dass sie sich für einen
solchen Handel eigneten, aber manches Geschmeide hier ließen sich
auch in Capia gut verkaufen, denke ich.«
»Dann interessiert Ihr Euch also für den
Handel?«
»Ja. Meine Mutter hat mich gelehrt, ihr bei der
Abwicklung der Geschäfte meines Vaters in Elyne zu helfen.«
Sie war davon überzeugt, dass sie damit nicht zu
viel verraten würde. Sie hatte ihre Beteiligung und die ihrer
Mutter nur in vagen Begriffen beschrieben. Wenn sachakanische
Männer es nicht schätzten, mit Frauen Geschäfte zu machen, könnte
die Feststellung, dass ihre Mutter einen Teil der Geschäfte ihres
Vaters führte, ihn herabwürdigen und Kunden abschrecken.
»Darf ich fragen, welche Schmuckstücke sich Eurer
Meinung nach gut verkaufen ließen?«
Sie lächelte. »Fragen dürft Ihr, aber ich wäre eine
Närrin, wenn ich Antwort gäbe.«
Er kicherte. »Ich kann erkennen, dass Ihr keine
Närrin seid.«
Als sie spürte, dass jemand an ihrem Arm zog, wurde
sie schlagartig ernst. Es wäre auch töricht gewesen, Voras
Warnungen vollends in den Wind zu schlagen.
»Es war schön, Euch kennenzulernen, aber ich muss
jetzt nach Hause zurückkehren. Ich hoffe, wir werden uns irgendwann
wiedersehen.«
Er nickte, dann wirkte er plötzlich nachdenklich.
Als sie sich abwandte, machte er einen kleinen Schritt auf sie
zu.
»Ich muss ebenfalls zurückkehren. Da wir Nachbarn
sind … Ich lade Euch ein, mit mir in meinem Wagen heimzufahren. Es
ist für eine Frau sicherer, in Gesellschaft zu reisen, selbst in
der Stadt, und es wäre für mich schrecklich, wenn Euch etwas
zustieße.«
Stara zögerte. War es sicherer, die Einladung
abzulehnen oder anzunehmen? Wäre es unhöflich, ihn abzuweisen? Ihr
Gespräch war angenehm gewesen, aber sie war nicht so empfänglich
für gut aussehende, charmante Männer, dass sie auf den ersten Wink
hin in seinen Wagen springen würde. Sie blickte zu Vora hinüber. Zu
ihrer Überraschung wirkte die Sklavin unentschlossen. Dann nickte
Vora knapp und ließ einen warnenden Blick folgen. Stara wandte sich
wieder zu Kachiro um.
»Darf meine Sklavin mich begleiten?«
»Natürlich. Und Ihr werdet gewiss wollen, dass Euer
Wagen uns folgt.«
»Dann nehme ich Eure Einladung an, Ashaki Kachiro.«
Das Gespräch bewegte sich weiterhin in beruhigend unverfänglichen
Bahnen, während sie vom Marktplatz schlenderten und sich dann in
seinem Wagen niederließen. Er zeigte ein schmeichelhaftes Interesse
an ihrem Leben in Elyne und wirkte beeindruckt von ihren
Kenntnissen in Geschäftsdingen. Und er hielt auch nicht hinterm
Berg, was sein eigenes Leben und sein Geschäft betraf. Als sie vor
der Tür des Wohnhauses ihres Vaters ankamen, hatte sie ein wenig
über Gelbsaaternte und die Verwendungszwecke des daraus gewonnenen
Öls gelernt.
Er geleitete sie und Vora höflich zu ihrem Wagen,
bevor er seinen Heimweg fortsetzte. Als sie durch das Tor fuhren,
warf Stara Vora einen fragenden Blick zu.
»Also, warum ist er nicht mit
hereingekommen?«
Voras Stirn war gerunzelt, aber sie wirkte nur
geringfügig besorgt. »Ashaki Sokara mag ihn nicht besonders,
Herrin. Ich weiß nicht, warum. Er ist weder ein Feind noch ein
Verbündeter.« Ihre Lippen wurden schmal. »Ihr solltet jedoch mit
seinem Missfallen rechnen.«
»Was wird er wahrscheinlich tun? Mich daran
hindern, das Haus abermals zu verlassen?«
»Vermutlich, aber das hätte er ohnehin
getan.«
Während sie aus dem Wagen stiegen und ins Haus
traten, dachte Stara über Voras Worte nach und fragte sich, wie sie
ihren Vater vom Gegenteil überzeugen könnte. Hatte sie von Kachiro
etwas erfahren, das ihrem Vater helfen konnte? Sie glaubte es
nicht. Es sei denn, ihr Vater musste mehr über Gelbsaat
wissen.
Als sie sich ihren Gemächern näherten, stellte sie
fest, dass sie angenehm müde war, und sie freute sich darauf, den
Nachmittag ruhig angehen zu lassen.
»Genau das habe ich gebraucht«, bemerkte sie zu
Vora. »Einen Tapetenwechsel, ein wenig frische Luft und...« Sie
brach ab, als sie sah, dass jemand in ihrem Zimmer stand. Ihr
Vater. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn.
»Wo bist du gewesen?«
Sie hielt inne, bevor sie antwortete; sein Zorn war
ihr nicht entgangen, aber sie fing sich gerade rechtzeitig, bevor
sie zusammenzucken konnte. Ich bin eine fünfundzwanzig Jahre
alte Frau, kein Kind, rief sie sich ins Gedächtnis.
»Ich war auf dem Markt, Vater«, antwortete sie.
»Aber es besteht kein Grund, davon großes Aufhebens zu machen. Ich
habe nichts gekauft.«
Er sah Vora an. »Sie hätte mich um Erlaubnis bitten
müssen.«
»Ich bin kein Kind mehr, Vater«, erinnerte Stara
ihn sanft. »Ich brauche niemanden, der mir die Hand hält.«
»Du bist eine Frau«, fuhr er sie an. »Und dies ist
Sachaka.«
»Niemand hat mich belästigt«, versicherte sie ihm.
»Ich habe Sklaven mitgenommen...«
»Die nichts hätten tun können, um dich zu
schützen«, unterbrach er sie. »Du vergisst eines: Die meisten
freien Männer hier sind Magier.«
»Und gesetzlose Wilde?«, fragte sie. »Gewiss gibt
es Gesetze, die es verbieten, anderen Schaden zuzufügen. Wenn
nicht, würde dann nicht die Furcht vor Vergeltung durch die Familie
Verbrecher abschrecken?«
Er starrte sie an. »Ist es wahr, was die Sklaven
mir erzählt haben: dass Ashaki Kachiro dich nach Hause gebracht
hat?«
Sie blinzelte; der Themenwechsel verwirrte sie.
»Ja.«
»Das hättest du nicht tun dürfen.«
Sie erwog alle Entschuldigungen, die sie anführen
konnte: Dass Kachiro sie hatte beschützen wollen oder dass sie
nicht gewusst hatte, ob es besser sei, die Einladung auszuschlagen
oder anzunehmen; oder dass der Mann ihr Nachbar war und dass Vora
ihr nicht davon abgeraten hatte. Stattdessen entschied sie sich
dafür, ihn offenbaren zu lassen, welches ihre beste Verteidigung
war, indem er ihr erklärte, was ihm an Kachiro am meisten missfiel.
»Warum nicht?«
Er durchquerte den Raum und trat vor sie hin.
Eigenartigerweise wanderte sein Blick zu einer Stelle über ihren
Augen, als hielte er Ausschau nach etwas in ihrem Kopf.
»Was hast du ihm erzählt?«
Sie zuckte die Achseln. »Ein wenig über mein Leben
in Elyne. Dass Mutter und ich bei Geschäften geholfen haben - aber
nicht dass Mutter das Sagen hatte. Dass es auf dem Markt Waren gab,
die sich in Elyne gut verkaufen ließen, aber nicht, welche Waren.
Dass... du hörst mir gar nicht zu, nicht wahr?« Sein Blick war nach
wie vor auf ihre Stirn geheftet. Sie schüttelte den Kopf und
seufzte. »Ich finde eine mögliche Gewinnquelle, aber du hörst nicht
einmal zu.«
»Ich muss wissen, was du ihm erzählt hast«, sagte
er, mehr zu sich selbst als zu ihr. Dann beugte er sich vor und
nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.
»Vater«, erwiderte sie und versuchte, seine Hände
wegzuziehen, aber sein Griff verstärkte sich nur. »Au! Va...«
Plötzlich wurde all ihre Aufmerksamkeit nach innen
gezogen, und ihr wurde bewusst, dass sich etwas in ihrem Kopf
befand, das dort nicht hingehörte. Ein gedankliches Tasten ihres
Vaters, durchmischt von Argwohn, Furcht und Ärger. Ihre
Erinnerungen des Tages spulten sich noch einmal ab - all ihre
Enttäuschung über seine Abwesenheit, jeder Funke ihrer Sorge um
ihre Mutter, sämtliche Informationen, die sie auf dem Markt
gesammelt hatte, Voras Ratschläge und vergebliche Warnungen und zu
guter Letzt jedes Wort, das zwischen ihr und Kachiro gefallen war.
Selbst die Anziehung, die der Mann auf sie ausgeübt hatte.
Er liest meine Gedanken! Ich kann nicht glauben,
dass er das tut. Ohne mich auch nur zu fragen, ob ich damit
einverstanden bin. Wäre ich einverstanden gewesen, hätte er
gefragt? Natürlich nicht! Er ist mein Vater. Er sollte mir
vertrauen. Ich habe lediglich mit seinem Nachbarn gesprochen. Ich
habe es nicht verdient, so behandelt zu werden!
Er tauchte tiefer ein und suchte nach
persönlicheren Informationen. Hatte sie je mit einem Mann das Bett
geteilt? Hatte sie je ein Kind erwartet? Wie hatte sie es
verhindert? Es waren Informationen, die ihn nichts angingen, die zu
erforschen er kein Recht hatte.
In diesem Augenblick wusste sie, dass sie ihm nie
wieder vertrauen würde. Ihre Liebe verdorrte, und an ihre Stelle
trat Hass. Ihr Respekt vor ihm starb angesichts seines brennenden,
tobenden Ärgers. Das Band der Treue, das sie ihr Leben lang
verspürt hatte und das in jüngster Zeit noch einmal auf die Probe
gestellt worden war, riss.
Er musste es gesehen haben. Gefühlt haben. Aber sie
spürte keine Scham, keine Entschuldigung. Stattdessen suchte er
weiter, suchte und suchte, und sie wusste, dass sie ihm Einhalt
gebieten musste. Ich muss ihn aus meinem Kopf bekommen!
SOFORT!
Sie griff nach Magie. Er prallte zurück, als ihm
klar wurde, was sie tat, verlor die Kontrolle über ihren Geist und
ließ die
Hände sinken. Sie wich zurück, und als er vortrat, um sie von
neuem zu packen, stieß sie seine Hände mit einem magischen Schlag
zurück.
Er sah sie mit berechnendem Blick an. Furcht stieg
in ihr auf, als sie begriff, dass er überlegte, ob er es noch
einmal tun sollte, diesmal mit Magie. Es würde ein schlechtes Ende
nehmen, das wusste sie. Er war ein voll ausgebildeter höherer
Magier. Sie hatte Magie erlernt, als sich ihr die Gelegenheit
geboten hatte, und sie wusste nicht, wie man Macht von anderen
abzog. Und erst recht hatte sie keine Gelegenheit gehabt, einen
Vorrat an Macht anzusammeln.
Das Feuer in seinen Augen verebbte. Sie hoffte,
dies würde bedeuten, dass er beschlossen hatte, nicht noch einmal
in ihre Gedanken und Erinnerungen einzudringen. Vielleicht hatte er
nicht genug gesehen, um über das Ausmaß ihrer Fähigkeiten Bescheid
zu wissen …
»Deine Mutter hätte mir mitteilen sollen, dass du
Magie gelernt hast«, sagte er, und in seiner Stimme schwangen
Abscheu und ein Anflug von Drohung mit.
»Sie weiß es nicht.«
»Warum hast du es mir dann nicht erzählt?«
»Ich habe auf den richtigen Augenblick
gewartet.«
Seine Miene wurde nicht weicher.
»Du hast dich als Ehefrau praktisch wertlos
gemacht«, erklärte er. Auf seinem Gesicht stand ein kalter, harter
Ausdruck, und ohne sie anzusehen, ging er an ihr vorbei auf die Tür
zu.
»Ich habe es für dich gelernt«, sagte sie. Er blieb
in der Tür stehen. »Wie alles andere auch. Immer für dich. Ich
dachte, es würde mir die Möglichkeit geben, dir bei deinen
Geschäften zu helfen.«
Ohne sich umzudrehen oder zu sprechen, eilte er
davon.
Das Schweigen, in dem er sie zurückließ, war leer
und voller Schmerz. Tief innen spürte sie einen schrecklichen
Verlust. Aber diesmal war da ein harter, kalter Zorn, der wuchs und
die Leere füllte. Wie konnte er es wagen! Seine eigene Tochter!
Hat er mich überhaupt jemals geliebt?
Tränen traten ihr in die Augen, und sie lief zum
Bett und
ließ sich darauf fallen. Aber das Schluchzen, das sie erwartet
hatte, kam nicht. Stattdessen drosch sie enttäuscht und wütend auf
die Kissen ein und dachte an seine Worte: »Du hast dich als
Ehefrau praktisch wertlos gemacht.« Sie drehte sich auf den
Rücken und starrte zur Decke empor. Das war alles, was ihn
interessierte. In diesem Fall habe ich soeben die beste Rache
geübt, die mir in diesem dummen Land zu Gebote steht. Es
scherte sie nicht, ob niemand sie mehr heiraten wollte.
Aber das war nicht wahr. Sie träumte sehr wohl
davon, den richtigen Mann zu finden, der ihre Talente zu würdigen
wusste und ihre Fehler hinnahm. Davon träumte sie wie jede andere
Frau auch.
Und wenn sie nicht heiratete, würde sie vielleicht
für den Rest ihres Lebens hier festsitzen - eingesperrt in ihren
Gemächern.
Schritte hallten im Raum wider. Sie hob den Kopf
und sah Vora näher kommen. Die Miene der Frau war gelassen, aber
Stara bemerkte einen Anflug von Furcht und Sorge in ihren Augen,
bevor sie sich der Länge nach auf den Boden warf. Langsam
durchschaue ich sie besser, überlegte sie. Sie ließ den Kopf
wieder aufs Bett sinken.
»Ah, Vora. Ich habe soeben das Glück gehabt zu
erfahren, dass ich nicht nur ein Stück Vieh bin, sondern ein
nutzloses Stück Vieh.«
Das Bett bewegte sich leicht, als Vora sich auf die
Kante setzte. »Was nutzlos für eine Person ist, kann kostbar sein
für eine andere, Herrin.«
»Ist das deine Art, mir zu sagen, dass ein Ehemann
sich liebevoller verhalten könnte als mein Vater? Das wäre nicht
besonders schwierig.«
»Nicht direkt, obwohl ich nichts dagegen hätte,
wenn Ihr es so deuten würdet.« Vora seufzte. »Also, Ihr verfügt
über Magie.«
Stara richtete sich auf und betrachtete die alte
Sklavin. Sie hatte die Frau den Raum nicht verlassen sehen.
Höchstwahrscheinlich hatte ihr Vater ihr ein Zeichen gegeben, oder
sie hatte es für klug gehalten fortzugehen.
»Du hast gelauscht, hm?«
Vora lächelte schwach. »Wie immer nur zu Eurem
Besten, Herrin.«
»Also hast du gehört, was er gesagt hat. Warum
macht der Besitz von Magie eine Sachakanerin als Ehefrau
nutzlos?«
Vora zuckte die Achseln. »Männer mögen angeblich
keine mächtigen Frauen. In Wahrheit sind sie nicht alle so. Aber
sie müssen sich den Anschein geben, um Respekt zu gewinnen. Denkt
daran, was ich gesagt habe: Wir sind alle Sklaven.«
Stara nickte. »Wenn ich nutzlos für ihn bin... Ich
schätze, es besteht keine Hoffnung, dass er mir jetzt gestattet,
ihm bei seinen Geschäften zu helfen. Denkst du, er wird mich nach
Elyne zurückschicken?«
Etwas flackerte in Voras Augen auf. Gewiss kein
Widerwille. »Vielleicht. Im Augenblick wäre es zu gefährlich, da
die Grenze geschlossen ist und die Ichani tun, was ihnen gefällt.
Er könnte auch lediglich noch einmal darüber nachdenken, mit wem er
Euch verheiraten will. Falls er von jemandem weiß, der nichts gegen
eine Frau mit magischen Fähigkeiten einzuwenden hätte. Hoffentlich
ist es nicht jemand, dem es gefällt, den Geist einer Frau zu
brechen, oder jemand, dem eine schöne Ehefrau wichtig genug ist, um
das Ärgernis einer Spur von magischem Widerstand zu
übersehen.«
Stara zuckte zusammen und wandte den Blick ab.
»Könnte es nicht jemand sein, dem ich mich nicht widersetzen wollen
würde?«
»Denkt Ihr, Ihr könnt die Dinge mit Eurem Vater
wieder bereinigen?«
Seine eigene Tochter... Abermals regte sich
Wut in Stara. »Vielleicht oberflächlich.«
»Wisst... wisst Ihr, wie man einen Mann tötet,
während man das Bett mit ihm teilt?«
Einen Moment lang konnte Stara nicht glauben, was
Vora soeben gefragt hatte. Dann starrte sie die Frau an. Vora
blickte Stara forschend in die Augen und nickte schließlich.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Ich glaube, es ist
eine Fähigkeit, die mit höherer Magie verbunden ist.« Vora erhob
sich
und ging zur Tür. »Ich werde etwas zu essen und
Wein bringen lassen.«
Als die Schritte der Sklavin verklangen, dachte
Stara über das nach, was die Frau sie gefragt hatte. Es ist also
möglich, jemanden auf diese Weise zu töten. Um das zu tun, müsste
man jedoch das Bett mit jemandem teilen, den man genug hasst, um
ihn töten zu wollen. Aber ich schätze, wenn sich jemand einer Frau
aufzwingt, wird der Wunsch, ihn zu töten, vielleicht groß genug
sein.
Im Stillen verfluchte sie Vora. Denn sobald Stara
wusste, dass etwas mit Magie möglich war, brannte sie darauf zu
erfahren, wie man es machen musste. Und eingedenk der Situation, in
der sie sich befand, war da mehr als nur Neugier, die ihren Wunsch
anfachte, es zu lernen.
Aber wer würde sie unterrichten?
Tessia gähnte. Während der letzten Woche hatte der
Tag der Lehrlinge in aller Frühe mit einer Lektion durch einen oder
mehrere Magier begonnen. Im Allgemeinen begann die Übung mit einem
einzigen Lehrer, aber häufig kamen die Magier dann aus ihren
Zelten, um den Unterricht zu beobachten, und dies führte manchmal
dazu, dass einer von ihnen den Lehrer unterstützte und etwas
beitrug, das dessen Lektion verdeutlichte oder, wie es einmal der
Fall gewesen war, eine Auseinandersetzung in Gang brachte.
»...eine Möglichkeit weiterzumachen, nachdem wir
uns um die Eindringlinge gekümmert haben«, erklang eine Stimme.
Tessia widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und zu den
Magiern hinüberzusehen, die hinter ihr ritten. Aber sie wollte
nicht offenbaren, dass sie ihr Gespräch verfolgen konnte.
»Ich bezweifle es. Niemand hat bisher in diesem Maß
mit anderen zusammengearbeitet, und ich nehme an, dass wir
anschließend zurück in unseren alten Argwohn und die bekannte
Heimlichtuerei verfallen werden.«
»Aber es ist so viel wirksamer. Ich habe
neue Fähigkeiten erlernt. Mir war nie klar, dass in meinem Wissen
so große Lücken klafften.«
»Das gilt auch für mich.« Ein sehnsüchtiger Seufzer
folgte. »Wenn es möglich wäre, weiterhin...«
»Wir werden eine Möglichkeit finden müssen. Die
Heiler haben ihre Gilde. Ich habe den Vorschlag gehört, dass wir
unsere eigene Gilde gründen sollten, sodass...«
Als die Stimmen verklangen, blickte Tessia zu Jayan
hinüber, um festzustellen, ob er ebenfalls zugehört hatte. Er
lächelte, und seine Augen leuchteten.
»Glaubst du, einer der Meisterschüler hat deine
Idee an seinen Meister weitergegeben?«, fragte sie.
Er schaute sie an und straffte die Schultern.
»Vielleicht.«
Tessia zuckte die Achseln. »Möglicherweise sind die
Magier auch zu demselben Schluss gekommen. Irgendwann musste das
passieren.«
Er sah sie tadelnd an. »Glaubst du?«
Sie lächelte. »Es wäre ein zu großer Zufall, nicht
wahr?« »Ja«, sagte er entschieden. »Außerdem hatten sie keine Zeit,
das Ganze zu durchdenken.«
An einem Abend einige Tage zuvor hatte Jayan ihr
von seinen Ideen für eine Magiergilde erzählt, in der Wissen
geteilt wurde und Meisterschüler von allen Magiern unterrichtet
wurden, nicht nur von ihren Meistern. Sie würden Abzeichen haben,
die sie auf die gleiche Weise, wie es bei den Heilern der Fall war,
als Mitglieder der Gilde ausweisen würden, um Kunden zu versichern,
dass sie alle gut ausgebildet waren.
Seine Pläne gingen noch weiter: Er wollte die
Mitglieder der Gilde in zwei oder drei Gruppen aufteilen und sie
dazu ermutigen, miteinander in Wettstreit zu treten, um einen
Anreiz für Neuerungen und die Entwicklung von Fähigkeiten zu
bieten. Sie hatte eingewandt, dass ein solches Verfahren zu
Uneinigkeit und Konflikten führen konnte, und vorgeschlagen, die
Meisterschüler nach ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten in
verschiedene Leistungsklassen einzuteilen, vielleicht eine Klasse
für jedes Jahr der Ausbildung. Jayan hatte dann vorgeschlagen, dass
die Schüler einer Klasse sich einzeln oder gruppenweise miteinander
messen sollten.
Sie hatte die Idee entwickelt, dass Magier sich
vielleicht auf
eine bestimmte Fähigkeit konzentrieren könnten, um diese weiter zu
erkunden und zu entwickeln. Einige Magier könnten Kampf und
Verteidigung studieren, andere Konstruktionstechniken für Brücken
und Gebäude. In Letzterem konnte sie große Möglichkeiten erkennen,
um auf dem Land für größere Sicherheit der Bauten zu sorgen. Man
müsste Magier ermutigen, dort die Bauaufsicht zu übernehmen.
An diesem Punkt hatten sich andere Meisterschüler
zu ihnen gesellt, und sie hatte ein vages Gefühl der Enttäuschung
verspürt. Es war das erste längere Gespräch, das sie mit Jayan
geführt und an dem sie wirklich Gefallen gefunden hatte, das erste
Gespräch, in dem sie einer Meinung gewesen waren und ihre
Begeisterung miteinander geteilt hatten. Als er den anderen
Meisterschülern von seiner Idee erzählt hatte, war sie ein wenig
verletzt gewesen, obwohl sie sich nicht sicher war, warum.
Ich glaube, es lag nicht daran, dass er das
Ganze ausschließlich als seine Idee ausgegeben hat, dachte sie.
Oder dass er etwas, das zuvor nur uns beiden gehörte, plötzlich
mit allen anderen geteilt hat. Nein, es war eher ein Gefühl der
Sorge als des Ärgers. Wenn er den Menschen zu früh davon erzählte,
bevor die Idee ganz ausgereift war, befürchtete sie, dass sie
vergessen würden, von wem der Vorschlag eigentlich gekommen
war.
Vor ihnen zog der Wald sich vom Straßenrand zurück,
und sie ritten in ein kleines, in Felder unterteiltes Tal. Der
Zustand der Äcker entsetzte Tessia. Auf einigen Feldern war das
Getreide überhaupt nicht geerntet worden, andere waren zum Teil
voller Unkraut - da sie in diesem Jahr weder bebaut noch bearbeitet
worden waren. Viele Äcker waren vertrocknet und braun, verdorrt,
weil eine Bewässerung fehlte. Das Zermürbende an dieser
Verschwendung war, dass die Sachakaner sich überhaupt nicht so weit
nach Süden gewagt hatten. Die Menschen waren ohne Grund
geflohen.
Die Gruppe hatte ihre Suche für den Augenblick
eingestellt und kehrte ins Tiefland zurück, wo sie sich mit den
Verstärkungstruppen des Königs treffen wollte. Tessia freute sich
darauf, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen und besseres
Essen zu bekommen. Vor allem aber freute sie sich darauf, dass sie
dann nicht mehr ständig von Angst geplagt werden würde. Sie konnte
sich entspannen in dem Wissen, dass sie nicht mehr befürchten
mussten, jeden Augenblick von Sachakanern angegriffen zu
werden.
Als sie Umrisse von Körpern auf dem vor ihnen
liegenden Feld sah, verzog Tessia das Gesicht. Sie waren auf ihren
Reisen immer wieder auf die Kadaver von Tieren gestoßen, die
verhungert oder verdurstet waren. Sie hörte die Magier und die
Meisterschüler fluchen und stimmte stillschweigend in ihre Flüche
ein.
Dann bemerkte sie, dass viele von ihnen ihre Pferde
vorwärtstrieben. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Keiner von ihnen
hätte sich beeilt, tote Tiere zu untersuchen. Während sie noch
einmal die dunklen Silhouetten betrachtete, konnte sie langsam
menschliche Gestalten ausmachen.
»Was meint Ihr, wie lange es her ist?«, hörte sie
Werrin Dakon fragen.
»Nicht lange. Höchstenfalls einen Tag.« Dakon sah
sich um, und sein Blick fiel auf sie. Auf seinem Gesicht stand ein
grimmiger, fragender Ausdruck. Mit einem unterdrückten Seufzer ritt
sie zu ihm hinüber und blickte auf den ersten Leichnam hinab, wobei
sie sich zwang, nur die Farbe der Haut und den Zustand des
Fleisches wahrzunehmen.
»Mehr als ein halber Tag«, sagte sie.
»Diese Menschen sind für für einen Nachtmarsch
nicht warm genug gekleidet«, meinte Narvelan. Er ritt auf dem Feld
hin und her und ließ den Blick schweifen. Schließlich kehrte er auf
die Straße zurück. »Einige von ihnen tragen auch keine Schuhe, in
denen man lange Strecken gehen könnte. Ich denke, sie hatten Karren
bei sich, die vermutlich inzwischen gestohlen worden sind. Von
dieser Stelle gehen die Spuren in alle Richtungen auseinander. Sie
müssen ihre Angreifer gesehen haben und auseinandergestoben
sein.«
»Mehr als ein Angreifer?«, fragte Werrin.
»Es müssen mehr gewesen sein. Sie sind alle mit
Hilfe höherer Magie getötet worden. Ein einzelner Angreifer hätte
sie
zusammengetrieben, um sie einen nach dem anderen zu töten. Dies
sieht so aus, als seien mindestens vier oder fünf hier
gewesen.«
»Wenn diese Menschen auseinandergestoben sind, dann
könnte jemand entkommen sein«, warf Werrin ein. »Wir sollten allen
Spuren folgen und feststellen, ob einige davon vielleicht nicht bei
einem Leichnam enden.«
Meisterschüler und Magier sahen einander in stiller
Bestürzung an, dann nahm sich jeder Magier jeweils eine Spur vor.
Wenn er einen Leichnam fand, rief er: »Ich habe ihn gefunden.«
Dakon ritt weiter auf eine Reihe von Bäumen zu. Tessia hörte das
Geräusch von fließendem Wasser und begriff, dass sie sich einem
Fluss näherten.
Kurz vor dem Fluss fanden sie denjenigen, der die
Spur hinterlassen hatte. Er lag mit dem Gesicht nach unten über
einem Baumstamm. Jetzt drehte er den Kopf zur Seite und starrte zu
ihnen empor, die Augen voller Schmerz und Entsetzen. Sein Atem ging
in kurzen, gequälten Stößen.
»Er lebt!«, rief Jayan aus.
Sie sprangen zu Boden und näherten sich dem Mann.
Dakon ließ sich in die Hocke nieder und redete beruhigend auf ihn
ein. Langsam verdrängte Hoffnung die Furcht auf dem Gesicht des
Mannes.
»Was ist hier geschehen?«
»Auf Befehl Dorf verlassen«, flüsterte der Mann.
»Magier. Sachakaner. Auf der Straße.« Er hielt inne; das Sprechen
bereitete ihm offenkundig Schmerzen. »Sie... Elia. Sie hat mir
gesagt... lauf weiter... dann... getroffen...«
Tessia untersuchte ihn sanft. »Wo tut es
weh?«
»Hinten«, keuchte er. »Vorne. Überall.«
Behutsam tastete sie seinen Körper ab. Seine Rippen
waren an mehreren Stellen gebrochen, einige durch einen Schlag von
hinten und einige, vermutete sie, durch seinen Sturz auf den
Baumstamm.
»Zunächst einmal sollten wir dich da
herunterholen«, sagte Tessia. Sie umgab ihn mit Magie und zog ihn
vorsichtig von dem Baumstamm, bis er auf dem Rücken zu liegen kam.
Er
stöhnte laut, seine Augen waren weit aufgerissen, und er atmete
sehr schnell. Zumindest weist nichts darauf hin, dass die Rippen
seine Lungen durchstoßen haben. Er hat großes Glück
gehabt.
»Kannst du ihm helfen?«, fragte Jayan. Tessia sah
ihn stirnrunzelnd an, aber Dakon ersparte ihr die Notwendigkeit,
entweder lügen oder ihre Zweifel vor einem Patienten äußern zu
müssen.
»Hast du gesehen, in welche Richtung sie
anschließend geritten sind?«
»Te - Tecurren.«
Dakon richtete sich auf, und in seinem Gesicht
standen tiefe Sorgenfalten. »Ich sollte den anderen Bescheid
geben.« Er schaute sich um. »Es ist zu gefährlich für euch, hier zu
warten, falls einer der Sachakaner zurückgeblieben sein
sollte.«
»Das bezweifle ich, wenn sie auf dem Weg nach
Tecurren waren«, meinte Jayan. »Sie haben seit Mandryn keine
Siedlung mehr angegriffen, die so groß wäre und so weit vom Gebirge
entfernt. Wenn tatsächlich einige von ihnen zurückgeblieben sind,
werden es nicht viele sein, und sie werden das Risiko nicht
eingehen, die Aufmerksamkeit von acht Magiern auf sich zu
lenken.«
Dakon blickte zwischen Jayan und Tessia hin und
her, dann nickte er. »Du wirst nicht viel Zeit haben«, sagte er zu
Tessia. »Werrin wird so schnell wie möglich nach Tecurren reiten
wollen.«
»Ich werde nicht lange brauchen«, versicherte
Tessia ihm.
Als Dakon davonging, stand Jayan auf. »Ich hole
deine Tasche.«
»Danke«, sagte sie. Als er zu ihrem Pferd lief,
richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Verletzten. Er starrte sie
an. Normalerweise hätte sie gewusst, dass sie ihn in der Zeit, die
ihr zur Verfügung stand, unmöglich würde retten können. Die meisten
Patienten, die ihr Vater wegen solcher Verletzungen behandelt
hatte, waren gestorben, obwohl sie nicht so lange unbehandelt
geblieben und nicht ganz so schwer verletzt gewesen waren wie
dieser Mann.
Aber sie gebot über Magie. Wenn sie die Magie
benutzte,
brauchte sie ihn nicht aufzuschneiden. Sie konnte Knochen bewegen
und Pulspfade blockieren. Behutsam legte sie ihm die Hände auf die
Brust, schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Fleisch
unter der Haut.
Sofort wusste sie, dass der Schaden größer war, als
es den Anschein gehabt hatte. Die meisten seiner Rippen waren
zerschmettert worden. Obwohl die Knochen die Lungen nicht
durchbohrt hatten, waren Pulspfade zerrissen und andere Organe
beschädigt. Sie sammelte Magie, griff damit in den Körper des
Mannes und versuchte, einen der zerfetzten Pulspfade
zusammenzudrücken.
Der Mann keuchte gequält auf. Sie zog sich zurück
und betrachtete ihn noch einmal. Was sie tun musste, würde extrem
schmerzhaft sein. Schritte hinter ihr lenkten sie ab. Dann seufzte
sie vor Erleichterung, als Jayan sich neben sie fallen ließ und die
Tasche ihres Vaters klappernd auf dem Boden aufschlug.
»Sei vorsichtig damit«, sagte sie. Sie öffnete die
Tasche und nahm ihr stärkstes Betäubungsmittel heraus. Zu ihrer
Überraschung nahm Jayan ihr die Flasche ab.
»Ich kann das Mischen übernehmen«, erklärte er. »Du
brauchst mir nur zu sagen, wie viel.«
Er befolgte sorgfältig ihre Anweisungen, während
sie die Kleider des Mannes aufschnitt, dann gaben sie dem
Verletzten die Dosis und sahen ungeduldig zu, während das
Medikament Wirkung zeigte. Tessia legte abermals die Hände auf
seine Brust.
Nachdem sie wiederum Magie in sich gesammelt hatte,
zog sie zerrissene Pulspfade zusammen und schob gebrochene Knochen
wieder an die richtige Stelle. Aber noch während sie das tat,
wusste sie, dass es nicht funktionieren würde. Es hatte sich
bereits zu viel Blut in ihm gesammelt, und zu wenig war in seinen
Pulspfaden verblieben. Fleisch, das zerschnitten worden war, konnte
von Magie nicht lange genug zusammengehalten werden, um zu
verheilen. Wenn ich doch nur dafür sorgen könnte, dass das
Fleisch schneller heilt, überlegte sie.
Noch während sie Blut in seinem Körper entfernte,
um Platz
zu schaffen für seine Organe, wusste sie, dass zu viel davon
verloren worden war. Dann lief ein Zucken durch den Körper des
Mannes. Sie spürte, wie die lebenswichtigen Rhythmen unregelmäßig
wurden und schließlich versagten.
Als Dakons Stimme ihre Konzentration durchbrach,
war sie sich nicht sicher, wie lange sie den toten Mann angestarrt
und versucht hatte zu überlegen, wie sie ihn hätte retten können.
Es musste eine Möglichkeit geben.
»Komm, Tessia«, sagte Jayan mit untypisch sanfter
Stimme. »Wir müssen gehen. Du hast dein Bestes gegeben.« Er blickte
hinab. »Aber du solltest dir besser zuerst die Hände
waschen.«
Sie betrachtete ihre blutverschmierten Hände und
nickte, bevor sie zu dem Fluss hinüberging. Am Ufer hockte sie sich
hin und ließ sich von dem Wasser reinigen. Jayan hob die Tasche
ihres Vaters auf und wartete auf sie.
Dann warf sie einen letzten nachdenklichen,
bekümmerten Blick auf den Toten und ging über das Feld zu den
Magiern hinüber.