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Stara ertappte sich dabei, dass sie wieder einmal im Raum auf und ab ging, und blieb stehen. Sie ballte die Fäuste und drehte sich zu Vora um.
»Wie lange werde ich hier noch eingepfercht sein? Jetzt sind es zwei Wochen! Und ich habe meinen Vater nur ein einziges Mal gesehen, an dem Abend, an dem er seine Gäste bewirtet hat. Warum kommt er nicht zu mir oder erlaubt mir, ihn zu besuchen?« Interessiert es ihn denn überhaupt nicht, wie es mir geht, hätte sie gern hinzugefügt. Liegt ihm nichts daran, ein wenig Zeit mit mir zu verbringen? Herauszufinden, ob ich irgendetwas für meinen zukünftigen Ehemann empfunden habe - zum Beispiel Hass oder Gleichgültigkeit?
Vora zuckte die Achseln. »Nach dem, was ich von den Sklaven gehört habe, hat Meister Sokaro viel zu tun. Eine Fracht, die nach Elyne geschickt wurde, ist verschwunden. Die Probleme, für die die Ichani in Kyralia sorgen, haben ihn in Elyne einige Käufer gekostet.«
Stara starrte die Sklavin an. »Mutter hat eine Lieferung und Kunden verloren? Weißt du, wie schlimm es ist?«
»Das ist alles, was ich gehört habe. Abgesehen davon, dass Euer Vater versucht, Geschäfte hier abzuschließen, um seinen Verlust dort wettzumachen.«
»Seinen Verlust?« Stara rümpfte die Nase. »Meine Mutter macht die ganze Arbeit in Elyne.« Wieder lief sie im Raum auf und ab. »Wenn er doch nur mit mir reden würde. Die Unwissenheit ist es, die mich in den Wahnsinn treibt!« Sie blieb stehen, sah sich im Raum um und runzelte finster die Stirn. »Ich bin dieser immer gleichen Wände müde. Wenn ich ihn nicht sehen kann, werde ich ausgehen. Gibt es einen Markt in der Stadt?« Sie brach ab. »Natürlich gibt es einen. Selbst wenn ich keine Münze habe, die ich ausgeben könnte, kann ich zumindest in Erfahrung bringen, was ich mir in Zukunft vielleicht kaufen werde. Und vielleicht finde ich auch mehr über die Situation in Elyne heraus.« Sie trat vor die Truhe, in der Vora ihre Umhänge aufbewahrte, und öffnete sie.
»Ihr könnt nicht fortgehen, Herrin«, widersprach Vora. »Nicht ohne seine Erlaubnis.«
»Mach dich nicht lächerlich. Ich bin eine erwachsene Frau, kein Kind.« Stara wählte den am wenigsten grellen Umhang aus und schwang ihn sich um die Schultern.
»So werden die Dinge hier aber nicht gehandhabt«, erklärte Vora. »Ihr braucht Wachen und den Schutz eines Mannes. Ich könnte Meister Ikaro fragen, ob...«
»Nein«, fiel Stara ihr ins Wort. »Halte meinen Bruder da heraus. Ich werde einige Sklaven mitnehmen. Und einen geschlossenen Wagen. Falls jemand fragt, können wir behaupten, mein Vater säße darin, wolle aber mit niemandem sprechen. Oder mein Bruder.« Sie verknotete die Bänder des Umhangs und ging auf die Tür zu. Vora eilte hinter ihr her. »Und hör auf, mit mir zu streiten. Ich gehe. Wir gehen. Falls etwas passiert, werde ich einfach...« Sie hielt inne und beendete im Stillen ihren Satz: sie mit Magie niedermachen. »Wir werden schon zurechtkommen, ich verspreche es. Wie elynische Händler so gern sagen: Alles, was man im Leben braucht, sind Zuversicht, Wissen und eine Menge Verstellung.«
Zehn Minuten später saßen sie und Vora in einem geschlossenen Wagen und fuhren mit vier stämmigen Sklaven als Beschützern und einem Fahrer vom Anwesen auf die Straßen der Stadt hinaus.
»Siehst du?«, sagte Stara. »Niemand hat uns aufgehalten.«
»Das ist den Sklaven gegenüber nicht besonders gerecht«, entgegnete Vora missbilligend. »Sie werden bestraft werden.«
»Weil sie Befehle befolgt haben? So grausam wäre mein Vater doch sicher nicht.«
Vora zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts.
Dennoch wurde Staras Triumph darüber, ohne Widerstand aus dem Haus gekommen zu sein, von Enttäuschung überschattet. Ihr wäre es lieber gewesen, ihr Vater wäre in Erscheinung getreten, um sie am Verlassen des Hauses zu hindern, sodass sie ihn nach dem Geschäft und ihrer Mutter hätte fragen können. Seufzend lehnte sie sich auf dem Sitz des Wagens zurück und beobachtete, wie hohe weiße Mauern vorbeizogen.
Ist es überall in der Stadt so? fragte sie sich. Ich habe nicht mehr viele Erinnerungen an Arvice. Vielleicht bin ich nie aus dem Haus gekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mutter gern die ganze Zeit eingepfercht war. Aber das könnte einer der Gründe gewesen sein, warum sie das Leben hier gehasst hat. Vielleicht hing es nicht ausschließlich damit zusammen, dass Vater sich seinen Sklaven gegenüber so schäbig verhalten hatte.
Vielleicht hatte er sich auch ihrer Mutter gegenüber schäbig verhalten, um sie dazu zu bringen, sich den sachakanischen Gepflogenheiten zu beugen. Staras Magen krampfte sich zusammen. Wenn es sich so verhielt, würde er sich ihr gegenüber wahrscheinlich genauso benehmen. Ebenso wie es jeder Mann tun würde, den er als ihren Ehemann auswählte. Sie schauderte. Ich muss eine Möglichkeit finden, dieser Heirat zu entgehen! Und dann muss ich ihn davon überzeugen, dass ich in irgendeiner Weise für ihn arbeiten kann.
Sie begann, sich vorzustellen, wie sie auf dem Markt neue Kunden für ihn fand. Es war höchst unwahrscheinlich, das wusste sie, aber der Gedanke unterhielt sie während der Fahrt. Dann veränderte sich das Bild außerhalb des Wagens so plötzlich, dass sie einen Moment brauchte, um zu begreifen, was sie sah.
Die weißen Mauern verschwanden, und dann überquerten sie eine breite Allee, und sie blickte auf Reihen perfekt geformter Bäume und Beete mit leuchtend bunten Blumen. Dahinter ragte ein prächtiges Gebäude auf. Sofort erkannte sie die weißen, geschwungenen Mauern und Kuppeln des Kaiserpalastes, die sie auf Bildern und Gemälden gesehen hatte - und vielleicht regte sich sogar ihr Gedächtnis.
Es gibt keine einzige gerade Mauer in dem ganzen Gebäude, hatte ihr Vater ihr einmal erzählt. Alle Flure sind gekrümmt; es ist leicht, sich zu verirren - und genau das ist der Sinn des Ganzen. Jeder, der versucht, in den Palast einzudringen, würde in Verwirrung geraten. Die Mauern sind sehr dick, aber ich habe gehört, sie seien hohl. Die Verteidiger des Palastes können von diesen Gängen in der Mauer aus jeden Raum erreichen und jeden Eindringling unschädlich machen.
Genauso abrupt erreichte der Wagen die gegenüberliegende Straße, und an die Stelle des Palastes traten wiederum langweilige, hohe Mauern. Stara schloss die Augen und hielt die Erinnerung an den Palast für einen Moment fest, ebenso das Gefühl einer liebevollen Verbindung zu ihrem Vater. Das Gefühl verblasste langsam, und wieder traten Furcht und Kummer an die Oberfläche.
Wenn ich mein ganzes Leben mit ihm verbracht hätte, wären die Dinge vielleicht anders. Aber dann hätte ich meine Mutter nicht gekannt. Oder so viele Freiheiten genossen. Oder Magie erlernt.
Der Wagen bog von der Straße ab und kam langsam zum Stehen. Dann drang ein Geräusch durch die Tuchwände des Baldachins. Stimmen vermischten sich mit dem Zwitschern und Schnauben von Tieren und dem Klirren von Metall auf Holz. Stara sah Vora an.
»Der Markt?«
Vora nickte. »Ihr solltet zwei Sklaven mitnehmen, Herrin.« Sorgenfalten und ein Schatten der Furcht in Voras Augen ließen die Frau noch älter erscheinen, wie Stara bemerkte.
»Sollen wir überhaupt auf den Markt gehen?«, fragte Stara.
Die Frau presste die Lippen zusammen, und in ihren Augen blitzten Ärger und vielleicht eine Spur Trotz auf. »Ihr wollt jetzt umkehren, Herrin? Dann wäre die Fahrt Zeitverschwendung gewesen.«
Stara lächelte und rief die Wachen herbei, damit sie die Türklappe öffneten.
Als sie ausstieg, sah Stara, dass der Markt umgeben war von einer weiteren hohen weißen Mauer. Den Eingang bildete ein schlichter Bogen. Wachen standen zu beiden Seiten, aber ihre Mienen spiegelten Langeweile wider, und sie ignorierten Stara, Vora und die beiden Sklaven, die durch das Tor traten, hinein in den Lärm und das Gewirr dahinter.
Sofort fiel Stara auf, dass außer ihr noch andere Frauen dort waren. Auch sie waren eingehüllt in Umhänge und allesamt in Begleitung eines Mannes. Solchermaßen beruhigt, schlenderte sie langsam an den Reihen der Stände vorbei, betrachtete die Waren und die Preise und beobachtete, dass Frauen und Kinder sich häufig im fahlen hinteren Teil eines jeden Standes zusammenkauerten oder dort arbeiteten.
Auf dem Markt waren Händler vieler Rassen vertreten. Dunkelhäutige Menschen aus Lonmar in ihren trostlosen Kleidern, die getrocknete Früchte und Gewürze verkauften. Bleiche, hochgewachsene Lans in Fellen boten alle möglichen aus geschnitzten Knochen gefertigten Dinge feil. Untersetzte, braune Vindos waren am häufigsten; sie verkauften eine Vielzahl von Waren aus aller Herren Länder. Einige Elyner verkauften Wein und das bittere Getränk, das Stara zu schätzen gelernt hatte, Sumi.
Es waren keine Kyralier zu sehen, wie sie bemerkte. Einige grauhäutige Männer, die nur einen kurzen Stoffrock trugen, verkauften Edelsteine.
»Wer sind diese Männer?«, fragte sie Vora.
»Duna«, antwortete Vora. »Von einem Stamm aus der Aschewüste im Norden.«
Während sie über den Markt schlenderte, Waren in Augenschein nahm und Verkäufer mit einem höflichen Lächeln und einem Kopfschütteln abwehrte, lauschte sie auf die Gespräche und rückte näher heran, wenn sie zwei Händler miteinander reden sah. Sie fing halbherzige Flüche auf, die sich gegen die Ichani richteten, die den Handel mit Kyralia störten. Einige schwärmten von den Möglichkeiten, die sich auftun würden, sobald Kyralia erobert war. Andere machten sich Sorgen, dass die Ichani sich sodann gegen den Kaiser wenden und Sachaka in einen Bürgerkrieg stürzen könnten.
Stara dachte über die Meinung nach, die die Gäste ihres Vaters vertreten hatten. Sie hatten eingewandt, dass Sachaka ohnehin bereits auf einen Krieg im Innern zusteuere.
Typisch, dass ich genau zur falschen Zeit in Sachaka lande.
Als sie und Vora um eine Ecke bogen, sah sie einen Mann, der zu ihnen herüberschaute. Er musterte Vora flüchtig, dann kehrte sein Blick sofort zu Stara zurück, und er lächelte. Sie antwortete mit einem höflichen, aber reservierten Nicken, schaute zu Boden und ging weiter. Zu ihrer Erheiterung stellte sie fest, dass ihr Herz ein wenig schneller schlug, und das nicht deshalb, weil sie sich bedroht fühlte. Was für ein gut aussehender Mann! Wahrhaftig, wenn Vater ihn mir als Ehemann auswählte, würde es mir schwerfallen abzulehnen.
Nach einem kurzen Moment blickte sie über ihre Schulter. Vora zog an ihrem Arm, aber nicht bevor Stara sah, dass der Mann sie noch immer beobachtete.
»Hört auf damit!«, murmelte die Frau. »Er wird das als Einladung auffassen.«
»Als Einladung wozu?«, fragte Stara. Gab es irgendeine Möglichkeit für eine Frau, sich hier in Sachaka einen Geliebten zu nehmen? Wahrscheinlich nicht nach der Heirat, aber noch war sie nicht verheiratet …
»Um mit Euch zu reden«, zischte Vora. Sie zog Stara um die nächste Ecke.
»Nur reden? Was gibt es daran auszusetzen?«
Vora stieß einen kurzen, verärgerten Seufzer aus, während ihr Blick über die Menschen um sie herum glitt. »Das kann ich Euch hier nicht erklären, Herrin. Solange Ihr nicht gelernt habt, mit wem Ihr gefahrlos reden könnt, solltet Ihr mit niemandem sprechen. Am Ende führt Ihr vielleicht ein Gespräch mit einem der Feinde Eures Vaters, oder Ihr stoßt einen seiner Verbündeten vor den Kopf.«
»Wie soll ich lernen, mit wem ich gefahrlos reden kann, wenn ich niemals jemanden kennenlerne?«
»Ich werde Euch die Namen und Familien nennen.« Vora runzelte die Stirn und blickte über ihre Schulter. Während sie das tat, trat der gut aussehende Mann einige Schritte vor ihnen aus einem Marktstand. Er drehte sich um und lächelte, als er Stara abermals bemerkte. »Ihr habt noch sehr viel zu lernen. Wir werden dazu kommen, wenn...«
»Verzeiht mir, aber seid Ihr vielleicht die Tochter von Ashaki Sokara?«
Stara lächelte und nickte. »Die bin ich.«
»Dann ist es mir eine Ehre, Euch kennenzulernen«, sagte der Mann. »Ich bin Ashaki Kachiro. Mein Haus steht neben Eurem, auf der südlichen Seite.«
»Oh, dann seid Ihr unser Nachbar.« Sie sah Vora an, die den Blick auf den Boden gesenkt hielt. »Ich heiße Stara, und es ist mir ebenfalls eine Ehre, Euch kennenzulernen, Ashaki Kachiro.«
»Ich sehe, Ihr habt nichts gekauft«, bemerkte Kachiro. »Habt Ihr hier nichts gefunden, was Euch gefällt?«
Sie schaute sich um. »Ich will nur wissen, was es zu kaufen gibt. Es ist interessant, die Waren zu sehen, die in Capia schwer zu finden sind, während sie hier im Überfluss angeboten werden, und umgekehrt. Die Preise sind ebenfalls unterschiedlich.« Als sie auf einen Verkaufsstand zuging, trat er beiseite, um sie vorbeizulassen, dann schloss er sich ihr an. Zu ihrer Erheiterung stellte sie fest, dass dies ihr schmeichelte. Er hat mir während der letzten Augenblicke mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als mein Vater es seit meiner Ankunft getan hat. »Einige der Waren verderben zu schnell, als dass sie sich für einen solchen Handel eigneten, aber manches Geschmeide hier ließen sich auch in Capia gut verkaufen, denke ich.«
»Dann interessiert Ihr Euch also für den Handel?«
»Ja. Meine Mutter hat mich gelehrt, ihr bei der Abwicklung der Geschäfte meines Vaters in Elyne zu helfen.«
Sie war davon überzeugt, dass sie damit nicht zu viel verraten würde. Sie hatte ihre Beteiligung und die ihrer Mutter nur in vagen Begriffen beschrieben. Wenn sachakanische Männer es nicht schätzten, mit Frauen Geschäfte zu machen, könnte die Feststellung, dass ihre Mutter einen Teil der Geschäfte ihres Vaters führte, ihn herabwürdigen und Kunden abschrecken.
»Darf ich fragen, welche Schmuckstücke sich Eurer Meinung nach gut verkaufen ließen?«
Sie lächelte. »Fragen dürft Ihr, aber ich wäre eine Närrin, wenn ich Antwort gäbe.«
Er kicherte. »Ich kann erkennen, dass Ihr keine Närrin seid.«
Als sie spürte, dass jemand an ihrem Arm zog, wurde sie schlagartig ernst. Es wäre auch töricht gewesen, Voras Warnungen vollends in den Wind zu schlagen.
»Es war schön, Euch kennenzulernen, aber ich muss jetzt nach Hause zurückkehren. Ich hoffe, wir werden uns irgendwann wiedersehen.«
Er nickte, dann wirkte er plötzlich nachdenklich. Als sie sich abwandte, machte er einen kleinen Schritt auf sie zu.
»Ich muss ebenfalls zurückkehren. Da wir Nachbarn sind … Ich lade Euch ein, mit mir in meinem Wagen heimzufahren. Es ist für eine Frau sicherer, in Gesellschaft zu reisen, selbst in der Stadt, und es wäre für mich schrecklich, wenn Euch etwas zustieße.«
Stara zögerte. War es sicherer, die Einladung abzulehnen oder anzunehmen? Wäre es unhöflich, ihn abzuweisen? Ihr Gespräch war angenehm gewesen, aber sie war nicht so empfänglich für gut aussehende, charmante Männer, dass sie auf den ersten Wink hin in seinen Wagen springen würde. Sie blickte zu Vora hinüber. Zu ihrer Überraschung wirkte die Sklavin unentschlossen. Dann nickte Vora knapp und ließ einen warnenden Blick folgen. Stara wandte sich wieder zu Kachiro um.
»Darf meine Sklavin mich begleiten?«
»Natürlich. Und Ihr werdet gewiss wollen, dass Euer Wagen uns folgt.«
»Dann nehme ich Eure Einladung an, Ashaki Kachiro.« Das Gespräch bewegte sich weiterhin in beruhigend unverfänglichen Bahnen, während sie vom Marktplatz schlenderten und sich dann in seinem Wagen niederließen. Er zeigte ein schmeichelhaftes Interesse an ihrem Leben in Elyne und wirkte beeindruckt von ihren Kenntnissen in Geschäftsdingen. Und er hielt auch nicht hinterm Berg, was sein eigenes Leben und sein Geschäft betraf. Als sie vor der Tür des Wohnhauses ihres Vaters ankamen, hatte sie ein wenig über Gelbsaaternte und die Verwendungszwecke des daraus gewonnenen Öls gelernt.
Er geleitete sie und Vora höflich zu ihrem Wagen, bevor er seinen Heimweg fortsetzte. Als sie durch das Tor fuhren, warf Stara Vora einen fragenden Blick zu.
»Also, warum ist er nicht mit hereingekommen?«
Voras Stirn war gerunzelt, aber sie wirkte nur geringfügig besorgt. »Ashaki Sokara mag ihn nicht besonders, Herrin. Ich weiß nicht, warum. Er ist weder ein Feind noch ein Verbündeter.« Ihre Lippen wurden schmal. »Ihr solltet jedoch mit seinem Missfallen rechnen.«
»Was wird er wahrscheinlich tun? Mich daran hindern, das Haus abermals zu verlassen?«
»Vermutlich, aber das hätte er ohnehin getan.«
Während sie aus dem Wagen stiegen und ins Haus traten, dachte Stara über Voras Worte nach und fragte sich, wie sie ihren Vater vom Gegenteil überzeugen könnte. Hatte sie von Kachiro etwas erfahren, das ihrem Vater helfen konnte? Sie glaubte es nicht. Es sei denn, ihr Vater musste mehr über Gelbsaat wissen.
Als sie sich ihren Gemächern näherten, stellte sie fest, dass sie angenehm müde war, und sie freute sich darauf, den Nachmittag ruhig angehen zu lassen.
»Genau das habe ich gebraucht«, bemerkte sie zu Vora. »Einen Tapetenwechsel, ein wenig frische Luft und...« Sie brach ab, als sie sah, dass jemand in ihrem Zimmer stand. Ihr Vater. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn.
»Wo bist du gewesen?«
Sie hielt inne, bevor sie antwortete; sein Zorn war ihr nicht entgangen, aber sie fing sich gerade rechtzeitig, bevor sie zusammenzucken konnte. Ich bin eine fünfundzwanzig Jahre alte Frau, kein Kind, rief sie sich ins Gedächtnis.
»Ich war auf dem Markt, Vater«, antwortete sie. »Aber es besteht kein Grund, davon großes Aufhebens zu machen. Ich habe nichts gekauft.«
Er sah Vora an. »Sie hätte mich um Erlaubnis bitten müssen.«
»Ich bin kein Kind mehr, Vater«, erinnerte Stara ihn sanft. »Ich brauche niemanden, der mir die Hand hält.«
»Du bist eine Frau«, fuhr er sie an. »Und dies ist Sachaka.«
»Niemand hat mich belästigt«, versicherte sie ihm. »Ich habe Sklaven mitgenommen...«
»Die nichts hätten tun können, um dich zu schützen«, unterbrach er sie. »Du vergisst eines: Die meisten freien Männer hier sind Magier.«
»Und gesetzlose Wilde?«, fragte sie. »Gewiss gibt es Gesetze, die es verbieten, anderen Schaden zuzufügen. Wenn nicht, würde dann nicht die Furcht vor Vergeltung durch die Familie Verbrecher abschrecken?«
Er starrte sie an. »Ist es wahr, was die Sklaven mir erzählt haben: dass Ashaki Kachiro dich nach Hause gebracht hat?«
Sie blinzelte; der Themenwechsel verwirrte sie. »Ja.«
»Das hättest du nicht tun dürfen.«
Sie erwog alle Entschuldigungen, die sie anführen konnte: Dass Kachiro sie hatte beschützen wollen oder dass sie nicht gewusst hatte, ob es besser sei, die Einladung auszuschlagen oder anzunehmen; oder dass der Mann ihr Nachbar war und dass Vora ihr nicht davon abgeraten hatte. Stattdessen entschied sie sich dafür, ihn offenbaren zu lassen, welches ihre beste Verteidigung war, indem er ihr erklärte, was ihm an Kachiro am meisten missfiel. »Warum nicht?«
Er durchquerte den Raum und trat vor sie hin. Eigenartigerweise wanderte sein Blick zu einer Stelle über ihren Augen, als hielte er Ausschau nach etwas in ihrem Kopf.
»Was hast du ihm erzählt?«
Sie zuckte die Achseln. »Ein wenig über mein Leben in Elyne. Dass Mutter und ich bei Geschäften geholfen haben - aber nicht dass Mutter das Sagen hatte. Dass es auf dem Markt Waren gab, die sich in Elyne gut verkaufen ließen, aber nicht, welche Waren. Dass... du hörst mir gar nicht zu, nicht wahr?« Sein Blick war nach wie vor auf ihre Stirn geheftet. Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich finde eine mögliche Gewinnquelle, aber du hörst nicht einmal zu.«
»Ich muss wissen, was du ihm erzählt hast«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu ihr. Dann beugte er sich vor und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.
»Vater«, erwiderte sie und versuchte, seine Hände wegzuziehen, aber sein Griff verstärkte sich nur. »Au! Va...«
Plötzlich wurde all ihre Aufmerksamkeit nach innen gezogen, und ihr wurde bewusst, dass sich etwas in ihrem Kopf befand, das dort nicht hingehörte. Ein gedankliches Tasten ihres Vaters, durchmischt von Argwohn, Furcht und Ärger. Ihre Erinnerungen des Tages spulten sich noch einmal ab - all ihre Enttäuschung über seine Abwesenheit, jeder Funke ihrer Sorge um ihre Mutter, sämtliche Informationen, die sie auf dem Markt gesammelt hatte, Voras Ratschläge und vergebliche Warnungen und zu guter Letzt jedes Wort, das zwischen ihr und Kachiro gefallen war. Selbst die Anziehung, die der Mann auf sie ausgeübt hatte.
Er liest meine Gedanken! Ich kann nicht glauben, dass er das tut. Ohne mich auch nur zu fragen, ob ich damit einverstanden bin. Wäre ich einverstanden gewesen, hätte er gefragt? Natürlich nicht! Er ist mein Vater. Er sollte mir vertrauen. Ich habe lediglich mit seinem Nachbarn gesprochen. Ich habe es nicht verdient, so behandelt zu werden!
Er tauchte tiefer ein und suchte nach persönlicheren Informationen. Hatte sie je mit einem Mann das Bett geteilt? Hatte sie je ein Kind erwartet? Wie hatte sie es verhindert? Es waren Informationen, die ihn nichts angingen, die zu erforschen er kein Recht hatte.
In diesem Augenblick wusste sie, dass sie ihm nie wieder vertrauen würde. Ihre Liebe verdorrte, und an ihre Stelle trat Hass. Ihr Respekt vor ihm starb angesichts seines brennenden, tobenden Ärgers. Das Band der Treue, das sie ihr Leben lang verspürt hatte und das in jüngster Zeit noch einmal auf die Probe gestellt worden war, riss.
Er musste es gesehen haben. Gefühlt haben. Aber sie spürte keine Scham, keine Entschuldigung. Stattdessen suchte er weiter, suchte und suchte, und sie wusste, dass sie ihm Einhalt gebieten musste. Ich muss ihn aus meinem Kopf bekommen! SOFORT!
Sie griff nach Magie. Er prallte zurück, als ihm klar wurde, was sie tat, verlor die Kontrolle über ihren Geist und ließ die Hände sinken. Sie wich zurück, und als er vortrat, um sie von neuem zu packen, stieß sie seine Hände mit einem magischen Schlag zurück.
Er sah sie mit berechnendem Blick an. Furcht stieg in ihr auf, als sie begriff, dass er überlegte, ob er es noch einmal tun sollte, diesmal mit Magie. Es würde ein schlechtes Ende nehmen, das wusste sie. Er war ein voll ausgebildeter höherer Magier. Sie hatte Magie erlernt, als sich ihr die Gelegenheit geboten hatte, und sie wusste nicht, wie man Macht von anderen abzog. Und erst recht hatte sie keine Gelegenheit gehabt, einen Vorrat an Macht anzusammeln.
Das Feuer in seinen Augen verebbte. Sie hoffte, dies würde bedeuten, dass er beschlossen hatte, nicht noch einmal in ihre Gedanken und Erinnerungen einzudringen. Vielleicht hatte er nicht genug gesehen, um über das Ausmaß ihrer Fähigkeiten Bescheid zu wissen …
»Deine Mutter hätte mir mitteilen sollen, dass du Magie gelernt hast«, sagte er, und in seiner Stimme schwangen Abscheu und ein Anflug von Drohung mit.
»Sie weiß es nicht.«
»Warum hast du es mir dann nicht erzählt?«
»Ich habe auf den richtigen Augenblick gewartet.«
Seine Miene wurde nicht weicher.
»Du hast dich als Ehefrau praktisch wertlos gemacht«, erklärte er. Auf seinem Gesicht stand ein kalter, harter Ausdruck, und ohne sie anzusehen, ging er an ihr vorbei auf die Tür zu.
»Ich habe es für dich gelernt«, sagte sie. Er blieb in der Tür stehen. »Wie alles andere auch. Immer für dich. Ich dachte, es würde mir die Möglichkeit geben, dir bei deinen Geschäften zu helfen.«
Ohne sich umzudrehen oder zu sprechen, eilte er davon.
Das Schweigen, in dem er sie zurückließ, war leer und voller Schmerz. Tief innen spürte sie einen schrecklichen Verlust. Aber diesmal war da ein harter, kalter Zorn, der wuchs und die Leere füllte. Wie konnte er es wagen! Seine eigene Tochter! Hat er mich überhaupt jemals geliebt?
Tränen traten ihr in die Augen, und sie lief zum Bett und ließ sich darauf fallen. Aber das Schluchzen, das sie erwartet hatte, kam nicht. Stattdessen drosch sie enttäuscht und wütend auf die Kissen ein und dachte an seine Worte: »Du hast dich als Ehefrau praktisch wertlos gemacht.« Sie drehte sich auf den Rücken und starrte zur Decke empor. Das war alles, was ihn interessierte. In diesem Fall habe ich soeben die beste Rache geübt, die mir in diesem dummen Land zu Gebote steht. Es scherte sie nicht, ob niemand sie mehr heiraten wollte.
Aber das war nicht wahr. Sie träumte sehr wohl davon, den richtigen Mann zu finden, der ihre Talente zu würdigen wusste und ihre Fehler hinnahm. Davon träumte sie wie jede andere Frau auch.
Und wenn sie nicht heiratete, würde sie vielleicht für den Rest ihres Lebens hier festsitzen - eingesperrt in ihren Gemächern.
Schritte hallten im Raum wider. Sie hob den Kopf und sah Vora näher kommen. Die Miene der Frau war gelassen, aber Stara bemerkte einen Anflug von Furcht und Sorge in ihren Augen, bevor sie sich der Länge nach auf den Boden warf. Langsam durchschaue ich sie besser, überlegte sie. Sie ließ den Kopf wieder aufs Bett sinken.
»Ah, Vora. Ich habe soeben das Glück gehabt zu erfahren, dass ich nicht nur ein Stück Vieh bin, sondern ein nutzloses Stück Vieh.«
Das Bett bewegte sich leicht, als Vora sich auf die Kante setzte. »Was nutzlos für eine Person ist, kann kostbar sein für eine andere, Herrin.«
»Ist das deine Art, mir zu sagen, dass ein Ehemann sich liebevoller verhalten könnte als mein Vater? Das wäre nicht besonders schwierig.«
»Nicht direkt, obwohl ich nichts dagegen hätte, wenn Ihr es so deuten würdet.« Vora seufzte. »Also, Ihr verfügt über Magie.«
Stara richtete sich auf und betrachtete die alte Sklavin. Sie hatte die Frau den Raum nicht verlassen sehen. Höchstwahrscheinlich hatte ihr Vater ihr ein Zeichen gegeben, oder sie hatte es für klug gehalten fortzugehen.
»Du hast gelauscht, hm?«
Vora lächelte schwach. »Wie immer nur zu Eurem Besten, Herrin.«
»Also hast du gehört, was er gesagt hat. Warum macht der Besitz von Magie eine Sachakanerin als Ehefrau nutzlos?«
Vora zuckte die Achseln. »Männer mögen angeblich keine mächtigen Frauen. In Wahrheit sind sie nicht alle so. Aber sie müssen sich den Anschein geben, um Respekt zu gewinnen. Denkt daran, was ich gesagt habe: Wir sind alle Sklaven.«
Stara nickte. »Wenn ich nutzlos für ihn bin... Ich schätze, es besteht keine Hoffnung, dass er mir jetzt gestattet, ihm bei seinen Geschäften zu helfen. Denkst du, er wird mich nach Elyne zurückschicken?«
Etwas flackerte in Voras Augen auf. Gewiss kein Widerwille. »Vielleicht. Im Augenblick wäre es zu gefährlich, da die Grenze geschlossen ist und die Ichani tun, was ihnen gefällt. Er könnte auch lediglich noch einmal darüber nachdenken, mit wem er Euch verheiraten will. Falls er von jemandem weiß, der nichts gegen eine Frau mit magischen Fähigkeiten einzuwenden hätte. Hoffentlich ist es nicht jemand, dem es gefällt, den Geist einer Frau zu brechen, oder jemand, dem eine schöne Ehefrau wichtig genug ist, um das Ärgernis einer Spur von magischem Widerstand zu übersehen.«
Stara zuckte zusammen und wandte den Blick ab. »Könnte es nicht jemand sein, dem ich mich nicht widersetzen wollen würde?«
»Denkt Ihr, Ihr könnt die Dinge mit Eurem Vater wieder bereinigen?«
Seine eigene Tochter... Abermals regte sich Wut in Stara. »Vielleicht oberflächlich.«
»Wisst... wisst Ihr, wie man einen Mann tötet, während man das Bett mit ihm teilt?«
Einen Moment lang konnte Stara nicht glauben, was Vora soeben gefragt hatte. Dann starrte sie die Frau an. Vora blickte Stara forschend in die Augen und nickte schließlich.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Ich glaube, es ist eine Fähigkeit, die mit höherer Magie verbunden ist.« Vora erhob sich
und ging zur Tür. »Ich werde etwas zu essen und Wein bringen lassen.«
Als die Schritte der Sklavin verklangen, dachte Stara über das nach, was die Frau sie gefragt hatte. Es ist also möglich, jemanden auf diese Weise zu töten. Um das zu tun, müsste man jedoch das Bett mit jemandem teilen, den man genug hasst, um ihn töten zu wollen. Aber ich schätze, wenn sich jemand einer Frau aufzwingt, wird der Wunsch, ihn zu töten, vielleicht groß genug sein.
Im Stillen verfluchte sie Vora. Denn sobald Stara wusste, dass etwas mit Magie möglich war, brannte sie darauf zu erfahren, wie man es machen musste. Und eingedenk der Situation, in der sie sich befand, war da mehr als nur Neugier, die ihren Wunsch anfachte, es zu lernen.
Aber wer würde sie unterrichten?
 
Tessia gähnte. Während der letzten Woche hatte der Tag der Lehrlinge in aller Frühe mit einer Lektion durch einen oder mehrere Magier begonnen. Im Allgemeinen begann die Übung mit einem einzigen Lehrer, aber häufig kamen die Magier dann aus ihren Zelten, um den Unterricht zu beobachten, und dies führte manchmal dazu, dass einer von ihnen den Lehrer unterstützte und etwas beitrug, das dessen Lektion verdeutlichte oder, wie es einmal der Fall gewesen war, eine Auseinandersetzung in Gang brachte.
»...eine Möglichkeit weiterzumachen, nachdem wir uns um die Eindringlinge gekümmert haben«, erklang eine Stimme. Tessia widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und zu den Magiern hinüberzusehen, die hinter ihr ritten. Aber sie wollte nicht offenbaren, dass sie ihr Gespräch verfolgen konnte.
»Ich bezweifle es. Niemand hat bisher in diesem Maß mit anderen zusammengearbeitet, und ich nehme an, dass wir anschließend zurück in unseren alten Argwohn und die bekannte Heimlichtuerei verfallen werden.«
»Aber es ist so viel wirksamer. Ich habe neue Fähigkeiten erlernt. Mir war nie klar, dass in meinem Wissen so große Lücken klafften.«
»Das gilt auch für mich.« Ein sehnsüchtiger Seufzer folgte. »Wenn es möglich wäre, weiterhin...«
»Wir werden eine Möglichkeit finden müssen. Die Heiler haben ihre Gilde. Ich habe den Vorschlag gehört, dass wir unsere eigene Gilde gründen sollten, sodass...«
Als die Stimmen verklangen, blickte Tessia zu Jayan hinüber, um festzustellen, ob er ebenfalls zugehört hatte. Er lächelte, und seine Augen leuchteten.
»Glaubst du, einer der Meisterschüler hat deine Idee an seinen Meister weitergegeben?«, fragte sie.
Er schaute sie an und straffte die Schultern. »Vielleicht.«
Tessia zuckte die Achseln. »Möglicherweise sind die Magier auch zu demselben Schluss gekommen. Irgendwann musste das passieren.«
Er sah sie tadelnd an. »Glaubst du?«
Sie lächelte. »Es wäre ein zu großer Zufall, nicht wahr?« »Ja«, sagte er entschieden. »Außerdem hatten sie keine Zeit, das Ganze zu durchdenken.«
An einem Abend einige Tage zuvor hatte Jayan ihr von seinen Ideen für eine Magiergilde erzählt, in der Wissen geteilt wurde und Meisterschüler von allen Magiern unterrichtet wurden, nicht nur von ihren Meistern. Sie würden Abzeichen haben, die sie auf die gleiche Weise, wie es bei den Heilern der Fall war, als Mitglieder der Gilde ausweisen würden, um Kunden zu versichern, dass sie alle gut ausgebildet waren.
Seine Pläne gingen noch weiter: Er wollte die Mitglieder der Gilde in zwei oder drei Gruppen aufteilen und sie dazu ermutigen, miteinander in Wettstreit zu treten, um einen Anreiz für Neuerungen und die Entwicklung von Fähigkeiten zu bieten. Sie hatte eingewandt, dass ein solches Verfahren zu Uneinigkeit und Konflikten führen konnte, und vorgeschlagen, die Meisterschüler nach ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten in verschiedene Leistungsklassen einzuteilen, vielleicht eine Klasse für jedes Jahr der Ausbildung. Jayan hatte dann vorgeschlagen, dass die Schüler einer Klasse sich einzeln oder gruppenweise miteinander messen sollten.
Sie hatte die Idee entwickelt, dass Magier sich vielleicht auf eine bestimmte Fähigkeit konzentrieren könnten, um diese weiter zu erkunden und zu entwickeln. Einige Magier könnten Kampf und Verteidigung studieren, andere Konstruktionstechniken für Brücken und Gebäude. In Letzterem konnte sie große Möglichkeiten erkennen, um auf dem Land für größere Sicherheit der Bauten zu sorgen. Man müsste Magier ermutigen, dort die Bauaufsicht zu übernehmen.
An diesem Punkt hatten sich andere Meisterschüler zu ihnen gesellt, und sie hatte ein vages Gefühl der Enttäuschung verspürt. Es war das erste längere Gespräch, das sie mit Jayan geführt und an dem sie wirklich Gefallen gefunden hatte, das erste Gespräch, in dem sie einer Meinung gewesen waren und ihre Begeisterung miteinander geteilt hatten. Als er den anderen Meisterschülern von seiner Idee erzählt hatte, war sie ein wenig verletzt gewesen, obwohl sie sich nicht sicher war, warum.
Ich glaube, es lag nicht daran, dass er das Ganze ausschließlich als seine Idee ausgegeben hat, dachte sie. Oder dass er etwas, das zuvor nur uns beiden gehörte, plötzlich mit allen anderen geteilt hat. Nein, es war eher ein Gefühl der Sorge als des Ärgers. Wenn er den Menschen zu früh davon erzählte, bevor die Idee ganz ausgereift war, befürchtete sie, dass sie vergessen würden, von wem der Vorschlag eigentlich gekommen war.
Vor ihnen zog der Wald sich vom Straßenrand zurück, und sie ritten in ein kleines, in Felder unterteiltes Tal. Der Zustand der Äcker entsetzte Tessia. Auf einigen Feldern war das Getreide überhaupt nicht geerntet worden, andere waren zum Teil voller Unkraut - da sie in diesem Jahr weder bebaut noch bearbeitet worden waren. Viele Äcker waren vertrocknet und braun, verdorrt, weil eine Bewässerung fehlte. Das Zermürbende an dieser Verschwendung war, dass die Sachakaner sich überhaupt nicht so weit nach Süden gewagt hatten. Die Menschen waren ohne Grund geflohen.
Die Gruppe hatte ihre Suche für den Augenblick eingestellt und kehrte ins Tiefland zurück, wo sie sich mit den Verstärkungstruppen des Königs treffen wollte. Tessia freute sich darauf, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen und besseres Essen zu bekommen. Vor allem aber freute sie sich darauf, dass sie dann nicht mehr ständig von Angst geplagt werden würde. Sie konnte sich entspannen in dem Wissen, dass sie nicht mehr befürchten mussten, jeden Augenblick von Sachakanern angegriffen zu werden.
Als sie Umrisse von Körpern auf dem vor ihnen liegenden Feld sah, verzog Tessia das Gesicht. Sie waren auf ihren Reisen immer wieder auf die Kadaver von Tieren gestoßen, die verhungert oder verdurstet waren. Sie hörte die Magier und die Meisterschüler fluchen und stimmte stillschweigend in ihre Flüche ein.
Dann bemerkte sie, dass viele von ihnen ihre Pferde vorwärtstrieben. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Keiner von ihnen hätte sich beeilt, tote Tiere zu untersuchen. Während sie noch einmal die dunklen Silhouetten betrachtete, konnte sie langsam menschliche Gestalten ausmachen.
»Was meint Ihr, wie lange es her ist?«, hörte sie Werrin Dakon fragen.
»Nicht lange. Höchstenfalls einen Tag.« Dakon sah sich um, und sein Blick fiel auf sie. Auf seinem Gesicht stand ein grimmiger, fragender Ausdruck. Mit einem unterdrückten Seufzer ritt sie zu ihm hinüber und blickte auf den ersten Leichnam hinab, wobei sie sich zwang, nur die Farbe der Haut und den Zustand des Fleisches wahrzunehmen.
»Mehr als ein halber Tag«, sagte sie.
»Diese Menschen sind für für einen Nachtmarsch nicht warm genug gekleidet«, meinte Narvelan. Er ritt auf dem Feld hin und her und ließ den Blick schweifen. Schließlich kehrte er auf die Straße zurück. »Einige von ihnen tragen auch keine Schuhe, in denen man lange Strecken gehen könnte. Ich denke, sie hatten Karren bei sich, die vermutlich inzwischen gestohlen worden sind. Von dieser Stelle gehen die Spuren in alle Richtungen auseinander. Sie müssen ihre Angreifer gesehen haben und auseinandergestoben sein.«
»Mehr als ein Angreifer?«, fragte Werrin.
»Es müssen mehr gewesen sein. Sie sind alle mit Hilfe höherer Magie getötet worden. Ein einzelner Angreifer hätte sie zusammengetrieben, um sie einen nach dem anderen zu töten. Dies sieht so aus, als seien mindestens vier oder fünf hier gewesen.«
»Wenn diese Menschen auseinandergestoben sind, dann könnte jemand entkommen sein«, warf Werrin ein. »Wir sollten allen Spuren folgen und feststellen, ob einige davon vielleicht nicht bei einem Leichnam enden.«
Meisterschüler und Magier sahen einander in stiller Bestürzung an, dann nahm sich jeder Magier jeweils eine Spur vor. Wenn er einen Leichnam fand, rief er: »Ich habe ihn gefunden.« Dakon ritt weiter auf eine Reihe von Bäumen zu. Tessia hörte das Geräusch von fließendem Wasser und begriff, dass sie sich einem Fluss näherten.
Kurz vor dem Fluss fanden sie denjenigen, der die Spur hinterlassen hatte. Er lag mit dem Gesicht nach unten über einem Baumstamm. Jetzt drehte er den Kopf zur Seite und starrte zu ihnen empor, die Augen voller Schmerz und Entsetzen. Sein Atem ging in kurzen, gequälten Stößen.
»Er lebt!«, rief Jayan aus.
Sie sprangen zu Boden und näherten sich dem Mann. Dakon ließ sich in die Hocke nieder und redete beruhigend auf ihn ein. Langsam verdrängte Hoffnung die Furcht auf dem Gesicht des Mannes.
»Was ist hier geschehen?«
»Auf Befehl Dorf verlassen«, flüsterte der Mann. »Magier. Sachakaner. Auf der Straße.« Er hielt inne; das Sprechen bereitete ihm offenkundig Schmerzen. »Sie... Elia. Sie hat mir gesagt... lauf weiter... dann... getroffen...«
Tessia untersuchte ihn sanft. »Wo tut es weh?«
»Hinten«, keuchte er. »Vorne. Überall.«
Behutsam tastete sie seinen Körper ab. Seine Rippen waren an mehreren Stellen gebrochen, einige durch einen Schlag von hinten und einige, vermutete sie, durch seinen Sturz auf den Baumstamm.
»Zunächst einmal sollten wir dich da herunterholen«, sagte Tessia. Sie umgab ihn mit Magie und zog ihn vorsichtig von dem Baumstamm, bis er auf dem Rücken zu liegen kam. Er stöhnte laut, seine Augen waren weit aufgerissen, und er atmete sehr schnell. Zumindest weist nichts darauf hin, dass die Rippen seine Lungen durchstoßen haben. Er hat großes Glück gehabt.
»Kannst du ihm helfen?«, fragte Jayan. Tessia sah ihn stirnrunzelnd an, aber Dakon ersparte ihr die Notwendigkeit, entweder lügen oder ihre Zweifel vor einem Patienten äußern zu müssen.
»Hast du gesehen, in welche Richtung sie anschließend geritten sind?«
»Te - Tecurren.«
Dakon richtete sich auf, und in seinem Gesicht standen tiefe Sorgenfalten. »Ich sollte den anderen Bescheid geben.« Er schaute sich um. »Es ist zu gefährlich für euch, hier zu warten, falls einer der Sachakaner zurückgeblieben sein sollte.«
»Das bezweifle ich, wenn sie auf dem Weg nach Tecurren waren«, meinte Jayan. »Sie haben seit Mandryn keine Siedlung mehr angegriffen, die so groß wäre und so weit vom Gebirge entfernt. Wenn tatsächlich einige von ihnen zurückgeblieben sind, werden es nicht viele sein, und sie werden das Risiko nicht eingehen, die Aufmerksamkeit von acht Magiern auf sich zu lenken.«
Dakon blickte zwischen Jayan und Tessia hin und her, dann nickte er. »Du wirst nicht viel Zeit haben«, sagte er zu Tessia. »Werrin wird so schnell wie möglich nach Tecurren reiten wollen.«
»Ich werde nicht lange brauchen«, versicherte Tessia ihm.
Als Dakon davonging, stand Jayan auf. »Ich hole deine Tasche.«
»Danke«, sagte sie. Als er zu ihrem Pferd lief, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Verletzten. Er starrte sie an. Normalerweise hätte sie gewusst, dass sie ihn in der Zeit, die ihr zur Verfügung stand, unmöglich würde retten können. Die meisten Patienten, die ihr Vater wegen solcher Verletzungen behandelt hatte, waren gestorben, obwohl sie nicht so lange unbehandelt geblieben und nicht ganz so schwer verletzt gewesen waren wie dieser Mann.
Aber sie gebot über Magie. Wenn sie die Magie benutzte, brauchte sie ihn nicht aufzuschneiden. Sie konnte Knochen bewegen und Pulspfade blockieren. Behutsam legte sie ihm die Hände auf die Brust, schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Fleisch unter der Haut.
Sofort wusste sie, dass der Schaden größer war, als es den Anschein gehabt hatte. Die meisten seiner Rippen waren zerschmettert worden. Obwohl die Knochen die Lungen nicht durchbohrt hatten, waren Pulspfade zerrissen und andere Organe beschädigt. Sie sammelte Magie, griff damit in den Körper des Mannes und versuchte, einen der zerfetzten Pulspfade zusammenzudrücken.
Der Mann keuchte gequält auf. Sie zog sich zurück und betrachtete ihn noch einmal. Was sie tun musste, würde extrem schmerzhaft sein. Schritte hinter ihr lenkten sie ab. Dann seufzte sie vor Erleichterung, als Jayan sich neben sie fallen ließ und die Tasche ihres Vaters klappernd auf dem Boden aufschlug.
»Sei vorsichtig damit«, sagte sie. Sie öffnete die Tasche und nahm ihr stärkstes Betäubungsmittel heraus. Zu ihrer Überraschung nahm Jayan ihr die Flasche ab.
»Ich kann das Mischen übernehmen«, erklärte er. »Du brauchst mir nur zu sagen, wie viel.«
Er befolgte sorgfältig ihre Anweisungen, während sie die Kleider des Mannes aufschnitt, dann gaben sie dem Verletzten die Dosis und sahen ungeduldig zu, während das Medikament Wirkung zeigte. Tessia legte abermals die Hände auf seine Brust.
Nachdem sie wiederum Magie in sich gesammelt hatte, zog sie zerrissene Pulspfade zusammen und schob gebrochene Knochen wieder an die richtige Stelle. Aber noch während sie das tat, wusste sie, dass es nicht funktionieren würde. Es hatte sich bereits zu viel Blut in ihm gesammelt, und zu wenig war in seinen Pulspfaden verblieben. Fleisch, das zerschnitten worden war, konnte von Magie nicht lange genug zusammengehalten werden, um zu verheilen. Wenn ich doch nur dafür sorgen könnte, dass das Fleisch schneller heilt, überlegte sie.
Noch während sie Blut in seinem Körper entfernte, um Platz zu schaffen für seine Organe, wusste sie, dass zu viel davon verloren worden war. Dann lief ein Zucken durch den Körper des Mannes. Sie spürte, wie die lebenswichtigen Rhythmen unregelmäßig wurden und schließlich versagten.
Als Dakons Stimme ihre Konzentration durchbrach, war sie sich nicht sicher, wie lange sie den toten Mann angestarrt und versucht hatte zu überlegen, wie sie ihn hätte retten können. Es musste eine Möglichkeit geben.
»Komm, Tessia«, sagte Jayan mit untypisch sanfter Stimme. »Wir müssen gehen. Du hast dein Bestes gegeben.« Er blickte hinab. »Aber du solltest dir besser zuerst die Hände waschen.«
Sie betrachtete ihre blutverschmierten Hände und nickte, bevor sie zu dem Fluss hinüberging. Am Ufer hockte sie sich hin und ließ sich von dem Wasser reinigen. Jayan hob die Tasche ihres Vaters auf und wartete auf sie.
Dann warf sie einen letzten nachdenklichen, bekümmerten Blick auf den Toten und ging über das Feld zu den Magiern hinüber.
Magie
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