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Dies ist also die Art Haus, die einem
Mann gehört, der seine Frau zu ermorden plant, dachte Stara,
als sie und Kachiro durch einen Flur zum Herrenzimmer von Vikaros
Haus geführt wurden. Während sie sich umschaute, verspürte sie eine
eigenartige Enttäuschung. Sie hatte erwartet, etwas Ungewöhnliches
zu sehen, und sei es auch noch so verschwommen, irgendetwas, das
vielleicht auf die gefährliche Natur des Besitzers hindeuten
würde.
Nichts Seltsames erregte ihre Aufmerksamkeit. Das
Haus hatte die üblichen weiß gestrichenen Wände. Die Möbel waren
offenkundig von Motara entworfen worden, und die anderen
Einrichtungsgegenstände waren typisch sachakanisch. Nichts
Ungewöhnliches.
Vielleicht ist der Mangel an etwas
Ungewöhnlichem der entscheidende Fingerzeig, überlegte sie.
Dann schüttelte sie den Kopf. Wenn ich so denke, könnte ich
verrückt werden. Besser, ich akzeptiere einfach, dass man einen
Mörder nicht aufgrund seines Besitzes erkennen kann. Nun, es sei
denn, er hätte irgendwo einen Vorrat an Giften...
Als Vikaros Sklave sie ins Herrenzimmer brachte,
wurden sie von dem Gastgeber und Kachiros anderen Freunden
begrüßt.
»Habt Ihr es schon gehört?«, fragte Chavori mit
leuchtenden
Augen. »Die kyralische Armee ist nach Sachaka eingedrungen?«
»Nachdem sie Takado besiegt haben, denken sie, sie
könnten auch uns Übrige besiegen«, sagte Motara lächelnd. »Der Sieg
ist ihnen zu Kopf gestiegen.«
Stara sah Kachiro an. Er runzelte die Stirn. »Wie
weit sind sie gekommen?«
»Das weiß niemand genau«, antwortete Vikaro. »Aber
es muss einige Tage gedauert haben, bis die Nachricht hier
eingetroffen ist. Sie könnten bereits auf halbem Weg nach Arvice
sein. Vielleicht lassen sie sich Zeit. Oder vielleicht hat sich
schon jemand ihrer angenommen.«
»Hat jemand gehört, ob der Kaiser eine weitere
Armee aufgestellt hat, die ihnen entgegentritt?«, fragte
Motara.
Die anderen schüttelten den Kopf. Stara bemerkte,
dass Kachiro zusammenzuckte, und erinnerte sich daran, dass er sich
geweigert hatte, der letzten Armee beizutreten.
Kachiro wirkte nachdenklich. »Also... sobald sie
besiegt sind, wird es niemanden mehr in Kyralia geben, der Sachaka
daran hindern kann, das Land zu übernehmen.«
Vikaro zog die Augenbrauen hoch. »Daran hatte ich
noch gar nicht gedacht.«
Die Magier verfielen in Schweigen, während sie
darüber nachsannen, und Stara machte sich die Pause zunutze.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten über die
Sachakaner, die nach Kyralia gezogen sind?«, fragte sie.
»Alle tot«, erwiderte Rikasha mit einer
wegwerfenden Handbewegung. »Sie waren Narren, dass sie überhaupt
dort eingefallen sind.«
Stara spürte, wie etwas in ihr zurückzuckte, als
habe eine Faust sie in die Brust getroffen. Ikaro. Er kann
einfach nicht tot sein. Wir haben uns gerade erst kennen und mögen
gelernt.
»Ich habe gehört, dass einige überlebt haben
sollen«, erzählte Chavori ihr.
Es gelang ihr, ihm ein kurzes, dankbares Lächeln zu
schenken. Kachiro tätschelte sanft ihren Arm. »Ich werde sehen, was
ich herausfinden kann«, murmelte er. »Warum stellst du nicht
fest, ob die Frauen mehr wissen? Sie haben ihre eigenen
Informationsquellen.«
»Klatsch?« Vikaro verdrehte die Augen. »So
verlässlich wie Gerüchte.« Dann lächelte er Stara an. »Araniras
Sklavin wird dich zu ihnen bringen.«
Er deutete auf eine Seite des Raums, und sie sah,
dass eine Sklavin sich einige Schritte entfernt auf den Boden
geworfen hatte. Als sie einen Schritt auf die Frau zumachte, sprang
die Sklavin auf, winkte und ging auf eine nahe Tür zu. Im Flur
wartete Vora. Die Lippen der alten Frau waren schmal geworden, und
in ihren Augen stand Sorge.
Sie brennt noch mehr auf Neuigkeiten von Ikaro,
als ich es tue, ging es Stara durch den Kopf.
Einige Flure später fand Stara sich in einem Garten
wieder, der von einem großen, mit Reben überwucherten, hölzernen
Rahmenwerk überschattet wurde. Darunter standen Stühle für ihre
vier neuen Freundinnen, und eine Sklavin brachte einen weiteren
Stuhl für Stara herbei.
Mehrere Sklavinnen hielten sich im Garten auf. Mehr
als notwendig war, bemerkte Stara. Die Frau, die Tashana am
nächsten stand, kam ihr bekannt vor.
»Wie verheilt dein Ohr, Stara?«, fragte
Tavara.
Stara berührte den Ohrring. »Gut, denke ich.«
»Sie hat eine Woche lang jeden Abend deswegen
gejammert«, fügte Vora hinzu.
»Vora!«, protestierte Stara. »Du brauchst ihnen
nicht alles über mich zu erzählen!«
»Nein, aber ich tue es gern«, erwiderte Vora mit
einem hinterhältigen Lächeln.
»Du hast von den Kyraliern gehört?«, fragte
Chiara.
»Ja«, antwortete Stara. »Ist es...?«
»Ernst? Ja.« Chiara seufzte. »Unserem Botensklaven
zufolge sind sie schon auf halbem Wege nach Arvice.«
Ein Schock der Kälte durchlief Stara. »Warum hat
der Kaiser sie noch nicht aufgehalten?«
Chiaras Miene war düster. »Weil unsere Armee in
Kyralia vernichtet wurde.«
»Alle? Wirklich jeder?« Staras Herz schnürte sich
vor Furcht zusammen.
»Es gibt Gerüchte, nach denen Takado vor einigen
Tagen nach Sachaka zurückgekehrt ist und vom Kaiser gefangen
genommen wurde. Wenn es ihm gerade erst gelungen ist
zurückzukehren, werden andere vielleicht noch folgen.«
»Aber wahrscheinlich ist es nicht«, sagte Stara und
senkte den Blick. Ich sollte mich darauf gefasst machen, dass
Ikaro tot ist. Und Vater ebenfalls. Beim Gedanken an den Tod
ihres Vaters verspürte sie nur Bedauern. Bedauern, dass es sich als
so schwierig erwiesen hatte, den Vater zu lieben, den sie während
des größten Teils ihres Lebens angehimmelt hatte. Aber Ikaro hatte
sich als ein weit gütigerer Mann entpuppt, als sie es immer
geglaubt hatte. Es war ungerecht, dass sie ihn jetzt verloren haben
sollte. Und es tat auf eine Weise weh, wie sie es noch nie zuvor
erlebt hatte; der Schmerz war so stark, dass er ihr den Atem
raubte.
Ich nehme an, ich werde jetzt Vaters Besitz
erben. Der Gedanke kam unerwartet, und es überraschte sie, dass
sie eine milde Erregung dabei empfand. Könnte ich den Handel
übernehmen? Wäre es wirklich so unmöglich für eine Frau, wie Vater
gesagt hat?
Aber dann fiel ihr Kachiro wieder ein. Als ihr
Ehemann würde er alles kontrollieren, was sie erbte. Wenn er nicht
wollte, dass sie das Geschäft führte, würde sie nicht dazu in der
Lage sein.
»Stara.«
Sie blickte zu Tavara auf. »Ja?«
»Du musst etwas für uns tun.«
Stara blinzelte überrascht. »Was?«
»Die Zuflucht wurde von den Kyraliern angegriffen.
Obwohl die meisten Sklaven gestorben sind, haben einige von ihnen
überlebt, zusammen mit den Frauen, die wir schützen. Sie hatten
keine andere Wahl, als zu fliehen. Jetzt sind sie auf dem Weg nach
Arvice, und sie werden morgen hier sein. Wir brauchen ein Quartier
für sie. Meinst du, dass Kachiro dir erlauben würde, sie als deine
Gäste aufzunehmen?«
Stara überlegte. »Vielleicht. Ich habe ihn noch nie
um etwas
gebeten, aber ich sehe keinen Grund, warum er mir meine Bitte
abschlagen sollte.«
Tavara trat aus dem Schatten und blieb hinter
Tashanas Stuhl stehen. Ihre Miene war ernst, als sie Stara in die
Augen sah. »Es gibt da etwas, das du über deinen Mann wissen
musst.«
Ein Schauder überlief Stara. Natürlich gibt es
das, dachte sie. Er ist zu nett. So nette Menschen kann es
in Sachaka nicht geben. Sie müssen mit irgendeinem schrecklichen
Makel behaftet sein. Mit einem dunklen Geheimnis, von dem nur ihre
Ehefrauen wissen, einem Geheimnis, unter dem sie leiden.
Sie seufzte. »Ich wusste, dass es irgendwann
schlechte Nachrichten geben würde. Was ist es?«
Die Frauen tauschten einen Blick, dann verzog
Chiara das Gesicht und beugte sich vor.
»Kachiro zieht die Gesellschaft von Männern der
Gesellschaft von Frauen vor«, sagte sie. »Und ich rede nicht von
Gesprächen. Ich meine, dass er sie in sein Bett nimmt.«
Stara erwiderte Chiaras Blick und lächelte. Das
ist es? Das ist alles? Es ergab gewiss einen Sinn. Seine
»Unfähigkeit« war also doch kein körperliches Gebrechen. Er fand
Frauen einfach nicht erregend. Eine Woge der Erleichterung schlug
über ihr zusammen. Sie beobachtete, wie die Frauen einander
stirnrunzelnd ansahen und den Kopf schüttelten.
»Du wusstest es bereits?«, fragte Tavara.
»Nein.« Stara verkniff sich ein Lachen. »Ich habe
etwas … Schlimmeres erwartet.«
»Es macht dir nichts aus?«, fragte Chiara mit
hochgezogenen Augenbrauen. »Er nimmt Männer in sein Bett. Es
ist...« Sie schauderte.
»Vielleicht ist das in Sachaka eine Schande«,
erwiderte Stara. »Aber in Elyne werden Männer wie er weder
verspottet noch verachtet.« Zumindest in der Regel nicht,
fügte sie im Stillen hinzu. Es gibt einige Menschen, die
reichlich Spott und Verachtung für diese Männer haben, aber das
sind im Allgemeinen unangenehme Menschen, und es sind nicht nur
Männer wie Kachiro, die sie hassen.
»Nun... dies ist Sachaka«, sagte Tavara. »Solche
Dinge werden hier als falsch und unnatürlich betrachtet. Er wird
nicht wollen, dass es öffentlich bekannt wird.«
»Also schlägst du vor, dass ich ihn erpressen
soll?«
»Ja.«
Stara nickte. »Wie wäre es, wenn ich zuerst
versuchte, mein charmantes Wesen einzusetzen, um an seinen guten
Charakter zu appellieren? Und mir die Erpressung für verzweifelte
Situationen aufzuheben.«
Tavara lächelte. »Natürlich, wenn du denkst, dass
du ihn überreden kannst, dann versuche das zuerst. Elyne hin, Elyne
her, es ist trotzdem überraschend, dass du nicht wütend auf ihn
bist. Es war nicht recht von ihm, dich zu heiraten, obwohl er
wusste, dass er dir keine Kinder schenken kann.«
Stara nickte. »Das ist wahr. Und das wird ein weit
besserer Hebel sein. Er wird aus Dankbarkeit für mein Schweigen
tun, worum ich ihn bitte, statt meinem Wunsch aus Furcht vor einer
Bloßstellung widerstrebend nachzukommen.«
Aber sie hat recht. Selbst in Elyne gilt es als
schäbig, wenn ein Mann mit seinen Neigungen eine Frau hintergeht
und sie dazu bringt, ihn zu heiraten. Ich hatte keine Wahl, mit wem
man mich verheiratete, aber Kachiro hatte durchaus eine Wahl.
Obwohl... ich frage mich doch, wie geheim sein Geheimnis
ist. Hat Vater Bescheid gewusst? Wusste er, dass Kachiro aus diesem
Grund keinen Erben hervorbringen würde?
Sie würde es vielleicht nie erfahren, jetzt, da ihr
Vater tot war. Und da Nachira nun in Sicherheit war, spielte es
keine Rolle mehr.
Tessia warf die Tasche ihres Vaters auf den Boden
und setzte sich neben Mikken. Dann betrachtete sie die Tasche und
seufzte.
»Was ist los?«, fragte Mikken.
Sie zuckte die Achseln. »Nichts. Alles. Die
Tatsache, dass ich diese Tasche kein einziges Mal benötigt habe, es
sei denn, um eine Schnittwunde zu verbinden, einen verstauchten
Knöchel zu schienen und die Kopfschmerzen eines der Diener zu
behandeln.«
»Möchtest du, dass die Leute sich selbst verletzen
oder die Sachakaner gegen uns kämpfen, damit du jemanden hast, den
du heilen kannst?«, fragte er mit einem schiefen Lächeln.
»Natürlich nicht.« Sie erwiderte sein Lächeln kurz,
um ihn wissen zu lassen, dass sie den Scherz verstanden hatte. »Ich
habe nur gedacht, dass das Heilen mein Anteil daran sein würde, den
Sklaven in Sachaka zu helfen.«
Mikken nickte. »Ich weiß. Zumindest sind jetzt alle
Häuser verlassen. Es ist niemand mehr da, den wir töten könnten,
sei es ein Sklave oder ein Freier.« Er runzelte die Stirn. »Aber
ich muss zugeben, dass es mir ein wenig Angst macht. Es bedeutet,
dass stattdessen die Sachakaner die Stärke ihrer Sklaven nehmen.
Und wir bekommen nichts mehr.«
»Wir hätten uns mit den Sklaven anfreunden sollen.
Dann hätten wir inzwischen Tausende von ihnen, die uns folgen und
jeden Tag ihre Stärke geben würden.«
Mikken schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass es
so einfach gewesen wäre, sie auf unsere Seite zu ziehen. Was
Narvelan gesagt hat, entspricht der Wahrheit. Sie sind ihren Herren
treu ergeben.«
»Sie können nur nicht glauben, dass irgendjemand
sie befreien würde. Wir hätten zumindest versuchen sollen, sie
davon zu überzeugen, dass genau das unsere Absicht war.«
Mikken zuckte auf die Art und Weise mit den
Schultern, wie Menschen es taten, wenn sie anderer Meinung waren,
aber nicht streiten wollten. Sie musterte ihn einen Moment lang,
dann wandte sie den Blick ab. Für eine Weile hatte sie ihn charmant
und attraktiv gefunden. Jetzt war sie zu müde und zu enttäuscht von
allem, um irgendjemanden reizvoll zu finden. Bis auf Dakon, und in
ihm sah sie nur einen Lehrer und Beschützer. Und vielleicht noch
Jayan, obwohl sie nicht sagen konnte, warum. Er war eine Art Freund
geworden. Oder vielleicht nur jemand, der ihr gelegentlich recht
gab. Obwohl er ein unverlässlicher Helfer war und ihr genauso oft
widersprach, wie er ihr recht gab.
»Tessia.« Sie blickte auf. Dakon kam über den
Innenhof auf sie zu. Er hatte sich, sobald die Armee in ihre
Unterkünfte
in den Gebäuden gezogen war, auf die Suche nach essbaren Vorräten
gemacht. Die Häuser, die die Sachakaner verlassen hatten, hatten
sich als die besten Quartiere für die kyralische Armee erwiesen.
Als Dakon näher kam, erhob Tessia sich. Es war unmöglich, seine
Stimmung zu erraten. Zwischen seinen Brauen stand eine tiefe Falte,
aber die stand in letzter Zeit immer dort.
»Zwei Magier sind krank geworden«, eröffnete er
ihr. »Könntest du sie dir einmal ansehen?«
»Selbstverständlich.« Sie bückte sich und griff
nach ihrer Tasche.
Er führte sie durch den Eingang des Hauses und dann
durch einen Flur nach dem anderen. Tessia waren Ähnlichkeiten
zwischen den Häusern aufgefallen, in denen sie gewohnt hatten, und
sie erkannte einige Merkmale, die sie bereits bei den von
Sachakanern gebauten Häusern in Imardin gesehen hatte, obwohl
Letztere größer und prächtiger gewesen waren.
Die Domänen mit ihren zahlreichen Gebäuden waren
häufiger geworden, je näher die Armee Arvice gerückt war, aber sie
hatten weder Städte noch Dörfer gesehen. Jayan glaubte, dass diese
Güter sich größtenteils selbst versorgten und jene Waren, die sie
selbst nicht besaßen, im Austausch von anderen Domänen
bezogen.
Das Holz für Möbel und dergleichen Dinge muss
von anderswo herkommen, überlegte Tessia. Wir sind, seit wir
die Berge verlassen haben, auch nicht mehr auf Wälder gestoßen. Nur
Bäume, die Straßen säumten oder an den Rändern von Nebenstraßen
Alleen bildeten und hie und da ein Wäldchen, das dem Vieh Schutz
bot.
Dakon trat in einen großen Raum, von dem viele
kleinere Räume abzweigten. Auch dieses Arrangement hatte sie schon
früher gesehen. In solchen Räumen wurden im Allgemeinen elegante
Kleider sowohl für Erwachsene als auch für Kinder aufbewahrt, daher
hielt sie sie für Familienzimmer.
Mehrere Magier standen in dem größeren Raum, und
als sie sie sahen, musterten sie sie nachdenklich. Sie erkannte
Lord Bolvin und Lord Hakkin. Dem Ayend war ebenfalls zugegen.
Dann trat ein Mann hinter dem Dem hervor, und ihr
Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn erkannte.
»Meisterschülerin Tessia«, sagte König Errik. »Ich
habe großes Lob bezüglich Eurer Heilkünste gehört.« Er deutete auf
einen der kleineren Räume. »Diese beiden Magier sind vor kurzem
erkrankt. Könnt Ihr sie untersuchen?«
»Selbstverständlich, Euer Majestät«, erwiderte sie
und verbeugte sich hastig. Er lächelte und zog sie in den kleinen
Raum. Dakon folgte ihnen. Die kranken Männer lagen auf Betten, die
zu kurz waren für ihre Größe. Kinderbetten, vermutete sie. Ihre
Gesichter waren verzerrt von Schmerz, und sie schienen Mühe zu
haben, den Blick auf irgendetwas zu konzentrieren. Sie ging zu
einem der Kranken hinüber und tastete nach Hitze und Puls. »Wie
lange genau ist es her, dass sie krank geworden sind, und auf
welche Weise?«
Der König blickte zu einer nicht mehr ganz jungen
Dienerin hinüber, die neben dem Bett eines der Magier stand.
»Höchstens eine halbe Stunde«, erklärte die Frau.
»Er hat sich über Magenkrämpfe beklagt. Beide haben Magen und
Gedärme entleert, und ich dachte, das Essen könne verdorben gewesen
sein, aber dann verschlimmerte sich ihr Zustand. Daraufhin habe ich
Hilfe geholt.«
Tessia sah zu Dakon auf. »Ihr solltet besser dafür
sorgen, dass kein anderer isst, wovon sie gegessen haben.«
Dakon nickte und winkte die Dienerin heran. »Hast
du sie bedient?« Die Frau nickte. »Erzähl mir, was du ihnen gegeben
hast und woher du es bekommen hast.«
In dem Bewusstsein, dass der König sie ebenso wie
die Magier im Nebenzimmer eingehend beobachtete, legte Tessia einem
der Magier eine Hand auf die Stirn. Sie schloss die Augen und
atmete langsam ein und aus, um ihren Geist zu beruhigen. Dann
sandte sie ihre Sinne in seinen Körper hinein.
Sobald sie sich auf seine Gefühle eingestimmt
hatte, führten Schmerz und Unbehagen sie zu seinem Magen. Krämpfe
ließen die Muskeln erzittern. Sein Körper reagierte, und als sie
genauer hinschaute, sah sie, dass er versuchte, etwas Unerwünschtes
auszuscheiden. Die unerwünschte Substanz wirkte
wie ein Gift auf den Körper. Und sie wirkte schneller, als der
Körper sie ausscheiden konnte.
Schneller als damals, als die Diener an
schlechtem Essen starben. Sie müssen etwas wahrhaft Schreckliches
gegessen haben, oder... oder aber sie sind vergiftet
worden!
Bei dieser Erkenntnis zog sie ihre Sinne zurück und
öffnete die Augen. Sie blickte auf und sah sich direkt dem König
gegenüber.
»Wenn das Essen, das sie zu sich genommen haben,
nicht absolut verdorben ist, vermute ich, dass es sich um die
Wirkung von Gift handelt«, sagte sie.
Seine Augen weiteten sich, dann wandte er sich zu
Dakon um, der in den Raum zurückgekehrt war. Ein Stich des
Erschreckens und der Schuldgefühle durchzuckte Tessia. Als der für
die Suche nach Nahrung verantwortliche Magier konnte man ihm die
Schuld daran geben, dass er vergiftetes Essen herbeigeschafft
hatte. Er sah dem König in die Augen und nickte.
»Ich werde dafür sorgen, dass niemand einen Bissen
zu sich nimmt, bis wir herausgefunden haben, ob alles, was wir an
Nahrung hier haben, ungefährlich ist.«
»Alles?«, fragte der König. »Es handelt sich doch
gewiss nur um das, was wir heute gefunden haben.«
Dakon schüttelte den Kopf. »Diese Magier könnten
etwas gegessen haben, das wir schon seit einer Weile mit uns
führen, das aber jetzt erst zubereitet wurde. Die Dienerin soll den
Koch holen, der das Gericht, das sie gegessen haben, zubereitet
hat.«
Der König nickte, dann wandte er sich Tessia zu und
blickte abermals auf die Magier hinab. »Werden sie
überleben?«
»Ich... ich glaube nicht.«
»Könnt Ihr sie heilen?«
Er sah sie ebenso eindringlich wie flehend an. Sie
wandte den Blick ab.
»Ich werde es versuchen, aber ich kann nichts
versprechen. Ich konnte die Diener nicht retten, die während des
Krieges verdorbenes Essen zu sich genommen hatten, und dies hier
ist weit schlimmer.«
»Versucht es«, befahl er.
Nachdem sie den Halsausschnitt des Gewandes
gelockert hatte, das der Magier trug, legte sie eine Hand auf die
nackte Haut seiner Brust. Einmal mehr schloss sie die Augen und
sandte ihren Geist aus. Sie sah sofort, dass die Situation sich
verschlimmert hatte. Sein Herz musste harte Arbeit leisten, und er
hatte zunehmend Mühe zu atmen.
Zuerst sollte ich so viel von dem Gift wie nur
möglich aus seinem Körper schaffen, dachte sie. Aber nicht
durch die Kehle, da ihm das Atmen ohnehin schon schwerfällt. Ich
will ihn nicht ersticken. Sie sandte Magie aus, schuf eine
flexible, wie eine Schöpfkelle geformte Barriere rund um den Inhalt
seines Magens und schob diesen sanft durch seine Gedärme, wobei sie
unterwegs alle Überreste sammelte. Als sie die Substanz aus seinem
Körper bewegte, konnte sie eine gewisse ironische Erheiterung nicht
ganz unterdrücken. Dies wird nicht besonders gut
riechen.
Jetzt zu dem Gift, das in die Kanäle und Pfade
eingedrungen ist. Sie überprüfte diese Wege mit großer
Sorgfalt. Das gesamte Blut war von Gift durchsetzt. Selbst wenn sie
alles entfernen konnte, ohne ihn zu töten, wie sollte sie das
bewerkstelligen? Dies war offenkundig nicht die richtige
Vorgehensweise.
Bevor sie sich auf eine andere Methode besinnen
konnte, geriet das Herz des Mannes ins Stocken. Erschrocken
sammelte sie Magie und griff danach. Sie konzentrierte sich mit
aller Macht und begann zuzudrücken in einem Rhythmus, der für einen
gesunden Körper in etwa richtig gewesen wäre.
Dann wurde ihr bewusst, dass auch seine Lungen zu
arbeiten aufgehört hatten; sie hatten anscheinend jede Bewegung
eingestellt. Sie griff nach weiterer Magie und zwang die Lungen
sanft, sich auszudehnen, bevor sie ihnen erlaubte, sich wieder zu
entspannen. Es kostete sie ihre ganze Konzentration, die Arbeit
dieser beiden Organe aufrechtzuerhalten.
Ich kann nicht bis in alle Ewigkeit so
weitermachen, dachte sie. Ich muss mir etwas anderes
ausdenken.
Aber als es ihr gelang, wieder ein wenig
Aufmerksamkeit für die unteren Systeme zu erübrigen, stellte sie
fest, dass sie das Wirken einer vertrauten Energie spüren konnte.
Magie
floss. Magie, die nicht ihre eigene war, sondern verankert im
Körper des Magiers. Magie, die gegen die Wirkung des Giftes
anarbeitete. Magie, die sich auf die Leber und die Nieren
konzentrierte und half, das Blut zu reinigen und das Gift
fortzuspülen.
Und sie begriff, dass es die ganze Zeit über
funktioniert hatte. Es hatte nur nicht ausreichend schnell
funktioniert, um gegen etwas so Machtvolles wie das Gift bestehen
zu können. Jetzt, da sie das Herz und die Lungen unterstützte, gab
sie dem Körper die Zeit, die er brauchte.
Ich brauche nur noch herauszufinden, wie man
diesen natürlichen Strom der Magie unterstützen kann...
Aber noch während sie darüber nachdachte, stellte
sie fest, dass das nicht notwendig war. Das Herz des Magiers gewann
seine Stärke zurück und lehnte sich plötzlich gegen ihre Magie auf,
daher ließ sie es allein weiterpumpen. Die Lungen taten schon bald
das Gleiche.
Ich habe ihn gerettet, dachte sie, und eine
Woge der Erleichterung und des Triumphs schlug über ihr zusammen.
Dank seiner eigenen Fähigkeit, sich mit Magie selbst zu
heilen. Was bedeutete, dass sie niemals einen Nichtmagier vor
diesem Gift würde retten können.
Sie zog sich aus dem Körper des Magiers zurück und
öffnete die Augen. Der Mann schlief jetzt, und seine Atmung war
tief und gleichmäßig.
»Ich denke, es wird ihm bald wieder gut gehen«,
sagte sie.
»Ah!« Der König trat neben sie. »Seid Ihr Euch
sicher? Wird er sich erholen?«
»Ja. Zumindest soweit ich es beurteilen kann«,
fügte sie hinzu.
Der König nickte und klopfte ihr auf die Schulter.
»Ihr seid eine bemerkenswerte junge Frau, Meisterschülerin Tessia.
Wenn wir nach Imardin zurückkehren, müsst Ihr andere Eure Methoden
lehren.«
Sie lächelte. »Ich bin noch nicht ganz fertig. Da
ist noch ein...« Aber als sie sich zu dem anderen kranken Magier
umdrehte, schwand ihre Hoffnung. Sein Gesicht war totenbleich,
und seine Lippen waren blau. Dakon stand neben ihm. Dann bemerkte
sie den Schnitt auf dem Arm des Toten und die Klinge in Dakons
Hand, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Dakon hatte doch gewiss
nicht...?
Die Erkenntnis dämmerte ihr, sobald ihr wieder
einfiel, was Dakon sie zu Anfang ihrer Ausbildung gelehrt hatte.
Wenn der Magier gestorben und die Magie noch in seinem Körper
eingeschlossen gewesen wäre, hätte sie sich mit zerstörerischer
Gewalt Bahn gebrochen. Sie, der König und der Mann, den sie soeben
gerettet hatte, wären mit ihm gestorben.
Zumindest ist die Macht, die er in sich trug,
nicht verschwendet worden, ging es ihr durch den Kopf.
Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass Dakon allzu glücklich
darüber ist, Magie zu nehmen, die durch die Ermordung von Sklaven
gewonnen wurde.
»Bedauerlicherweise gibt es nur eine von Eurer
Art«, sagte der König mit bekümmerter Miene.
»In der Tat«, erwiderte sie. »Vielleicht sollte ich
früher damit beginnen, andere zu unterrichten. Um ehrlich zu sein,
ich dachte nicht, dass irgendjemand sich dafür interessieren
würde.«
»Interesse ist reichlich vorhanden«, erklärte er.
»Aber ich vermute, dass viele Magier aus naheliegenden Gründen
gezögert haben; sie waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt,
um Zeit erübrigen zu können, unsicher, ob sie besser warten
sollten, bis Ihr keine Meisterschülerin mehr seid und das Gesetz es
Euch erlaubt zu lehren. Außerdem fanden sie es gewiss eigenartig,
von einer jungen Frau zu lernen.« Der König hielt inne und
lächelte. »Nach dem, was ich soeben mit angesehen habe, fühle ich
mich versucht, Euch mit einer Garde nach Imardin zurückzuschicken,
um dafür zu sorgen, dass Euer Wissen sicher bewahrt wird, aber ich
befürchte, dass eine Rückkehr nach Hause Euch in größere Gefahr
bringen würde als ein weiterer Aufenthalt hier bei uns. Außerdem
brauche ich jeden Magier und jeden Meisterschüler hier bei mir.
»
»Und Ihr würdet mich niemals dazu überreden können,
Lord Dakon im Stich zu lassen«, entgegnete sie.
Der König lächelte. »Nicht einmal dann, wenn ich es
Euch befehlen würde?«
Sie wandte den Blick ab. »Ich nehme an, in diesem
Fall müsste ich gehen, aber ich wäre sehr ärgerlich auf
Euch.«
Er lachte. »Nun, ich kann nicht zulassen, das
Tessia, die magische Heilerin, ärgerlich auf mich ist. Wer weiß,
wann ich ihrer Dienste bedürfen könnte?«