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40
Zuerst war Tessia außerstande, Jayans Rat
zu beherzigen. Sobald die Magier sich auf den Weg gemacht hatten,
schloss die Menge sich ihnen an, und sie wurde von den Menschen
mitgerissen. Mikken entglitt ihrem Arm, und als er sich mit
ängstlicher Miene nach ihr umdrehte, winkte sie ihm zu, zum
Zeichen, dass es ihr gut ging. Wann immer sie konnte, vermied sie
es, nach links auf die Flussseite der Straße gedrängt zu werden,
und sie nutzte jede Gelegenheit, um sich nach rechts zu bewegen, wo
das Land zum Palast hin anstieg.
Schon bald gerieten die letzten Gebäude der Stadt
außer Sicht, und die Menge bewegte sich vorbei an den
Elendsvierteln und behelfsmäßigen Baracken der Armen und
Heimatlosen. In Richtung Stadt bemerkte Tessia eine Gruppe, die
besser gekleidet war als die Übrigen, dann setzte ihr Herz einen
Schlag aus, als sie sie erkannte.
Die Heiler, dachte sie. Und
Kendaria!
Ihre Freundin hatte sie entdeckt und winkte ihr zu.
Tessia winkte zurück und schlängelte sich zwischen den Zuschauern
hindurch zu den Heilern hinüber. Einige von ihnen nickten ihr
höflich zu, sagten jedoch nichts. Sie sah, dass einer von ihnen
sich zu einem anderen vorbeugte und ihm etwas zuflüsterte, und
beide Heiler starrten sie mit schmalen Augen an.
»Meisterschülerin Tessia!« Kendaria musste die
Stimme heben, um den Lärm zu übertönen. »Was geht hier vor? Warum
verlassen die Menschen die Stadt?«
»Wahrscheinlich, um die Schlacht zu verfolgen«,
rief Tessia zurück. »Was keine gute Idee ist. Sie sollten in
Imardin bleiben und Abstand wahren.«
Kendaria verzog das Gesicht. »Man kann Menschen
nicht daran hindern, neugierig zu sein. Von wo aus wollt Ihr
zusehen?«
Tessia lächelte. »Jayan hat mir empfohlen, irgendwo
dort hinaufzugehen.« Sie deutete hügelaufwärts. »In die Nähe des
Palastes. Kann ich von hier aus dorthin kommen?«
»Sicher, aber Ihr werdet die Abkürzung durch die
Elendsviertel nehmen müssen. Darf ich Euch begleiten?«
»Natürlich.« Kendaria sah zu den anderen Heilern
hinüber. Kendaria musterte sie flüchtig, dann zuckte sie die
Achseln.
»Keine Bange; es kümmert sie nicht, wohin ich
gehe.« Sie schob eine Hand unter Tessias Arm hindurch. »Geht
voran.«
Die behelfsmäßigen Baracken waren ein chaotisches,
verwirrendes Labyrinth, aber Tessia bewegte sich weiter
hügelaufwärts und ließ eine Kugel magischen Lichts über ihnen
schweben. Es überraschte sie zu sehen, wie viele Menschen hier
waren; sie wussten entweder nicht, dass ganz in der Nähe in Kürze
eine Schlacht stattfinden würde, die über ihre Zukunft entschied,
oder es interessierte sie nicht. Viele wirkten zu krank, um Anteil
zu nehmen. Einige waren betrunken, lagen auf dem Boden oder
taumelten umher, andere schliefen. Einmal stiegen sie über einen
Toten, der quer zwischen zwei Baracken lag. Mehrmals tauschte sie
einen Blick mit Kendaria, und jedes Mal sah sie, dass die Frau
ebenso entsetzt war wie sie selbst über das, was sie hier
erlebten.
Endlich wurden die Baracken weniger und der Hügel
steiler. Etwa zwanzig Schritte hinter der letzten, eingestürzten
Baracke drehte Kendaria sich um.
»Denkt Ihr... dies... wird genügen?«, stieß sie
hervor.
Sie waren nicht einmal annähernd in der Nähe des
Palastes. Tessia blieb stehen und blickte zurück. »Ich denke
schon.«
Vor ihnen breiteten sich die Elendsviertel, die
Straße und das Land vor der Stadt aus. Die Menge hatte sich in
einem breiten Bogen zu beiden Seiten der Straße verteilt. Rund um
das Stadttor hatte man Lampen verteilt. Davor stand die kyralische
Armee, kampfbereit in Gruppen von jeweils sieben Magiern, die sich
jetzt zu einer langen Front auseinanderzogen.
Ihnen gegenüber hatte sich in einiger Entfernung
die sachakanische Armee aufgestellt. Sie war um ein Drittel kleiner
als die kyralische. Für die meisten Beobachter sah es so aus, als
läge damit der Vorteil entschieden auf der kyralischen Seite. Aber
die Neuankömmlinge der sachakanischen Armee waren, ohne auf
Widerstand zu treffen, durch den Süden Kyralias gezogen und hatten
sich ungehindert stärken können. Wer wusste, wie stark sie geworden
waren?
Aber wir haben die Kraft all dieser
Menschen, rief sie sich ins Gedächtnis. Das wird gewiss
genügen.
Lichter schwebten über den beiden Armeen. Zwei
Gestalten bewegten sich von der kyralischen Seite auf den Feind zu.
Tessia erkannte in ihnen König Errik und Magier Sabin.
Von der gegenüberliegenden Seite trat eine einsame
Gestalt vor. Sie kniff die Augen zusammen, dann überlief sie ein
kalter Schauder, als sie Takado erkannte. Die Erinnerung daran, wie
er sie lüstern angegrinst hatte, blitzte in ihren Gedanken auf.
Angesichts der furchtbaren Dinge, die er seit diesem Augenblick
getan hatte, war ihr klar, dass sie großes Glück gehabt hatte.
Nicht nur weil sie in sich die Magie entdeckt hatte, um ihn
wegzustoßen, sondern weil er das Risiko nicht hatte eingehen
können, sie in diesem Augenblick zu töten.
Aber ich wünschte, ich hätte ihn getötet, statt
ihn nur quer durch den Raum zu schleudern. Ich hätte mich dafür
gehasst, da ich nicht gewusst hätte, dass er Kyralia zu überfallen
plante, aber es hätte uns so viel Schmerz und Tod
erspart.
Mit diesem Gedanken kam der Zorn, und einen Moment
lang stellte sie sich vor, wie sie selbst dort unten den letzten
Schlag gegen Takado führte. Den, der ihn zu Asche verbrannte oder
alle Knochen in seinem Körper zerschmetterte. Dann schauderte sie,
abgestoßen von ihrer eigenen Fantasie.
Wie kann ich daran denken, zu verwunden und zu
töten, wenn ich mir nichts mehr wünsche, als Menschen zu heilen und
Leben zu retten? Sie seufzte. Ich schätze, ich habe doch ein
wenig von einer Kämpferin in mir.
»Was meint Ihr, wird dort gesprochen?«, fragte
Kendaria.
Tessia zuckte die Achseln. »Sie heben ihre eigenen
Stärken
hervor und die Schwächen des anderen, beschimpfen einander.«
»Ich nehme an, sie tauschen Drohungen aus.«
»Ja. Irgendetwas in der Art. Vielleicht laden sie
die jeweils andere Seite ein, sich zu ergeben.«
Plötzlich schoss ein Lichtblitz von Takado auf
König Errik zu. Einen Moment später begann die Luft zu zucken und
zu vibrieren. Ein Geräusch wie Donner hallte über den Hügel und
bildete ein stetiges Grollen, während das letzte Krachen nie ganz
verstummte, bevor das nächste erklang. Durch die blendenden
Lichtstrahlen sah Tessia Errik und Sabin gelassen zurücktreten,
bevor sie sich wieder ihrer Gruppe anschlossen. Tessia erkannte
dort auch Dakon.
Plötzlich raste ihr Herz vor Furcht. Die
Meisterschüler hatten die beiden letzten Schlachten nicht mit
angesehen, sondern waren in sicherem Abstand geblieben. Sie war
voller Ungeduld und Frustration gewesen, weil sie nicht gewusst
hatte, was geschah. Aber jetzt trauerte sie dieser Unwissenheit
beinahe nach. Nun würde sie, falls Dakon oder Jayan starben, es mit
ansehen, und sie war sich nicht sicher, ob sie das wollte.
Jayan! Wo ist Jayan? Sie begann, nach ihm
Ausschau zu halten.
»Der Menge kommen offensichtlich Bedenken«,
bemerkte Kendaria.
»Was? Oh.« Tessia erkannte, dass die Zuschauer sich
hastig zurückzogen, wobei einige Menschen in ihrer Panik über
andere stolperten.
Doch nicht ein einziger Schlag drang über das
Schlachtfeld hinaus. Hatten die Kyralier die Stadt mit einem Schild
umgeben? Sie hatte keinen Angriff wahrgenommen, der über die Armee
hinauszielte.
Die Tötung der Bevölkerung und die Zerstörung
der Gebäude wird später kommen. Für den Augenblick wird es
wichtiger sein, all ihre Macht in den Kampf fließen zu lassen. Es
würde nicht als Sieg zählen, wenn sie einige Mauern sprengten, die
Armee jedoch nicht in die Knie zwangen.
»Es ist ziemlich umwerfend«, sagte Kendaria leise.
»Wäre
da nicht die Tatsache, dass sie versuchen, einander zu töten,
würde ich das Bild recht hübsch finden.«
Tessia sah ihre Freundin an. Ein Lichtblitz
erhellte für einen Augenblick ihr Gesicht und zeigte einen Ausdruck
von Ehrfurcht und Kummer.
»Oh... einen der Feinde hat es erwischt.«
Tessia schaute hinab und blickte forschend die
feindliche Linie entlang. Und tatsächlich, einer der Sachakaner war
gefallen. Ein Sklave versuchte, ihn wegzuziehen. Als sie über die
Feindeslinie hinausschaute, sah sie winzige Gestalten im Gras
liegen, die ab und zu den Kopf hoben, um die Schlacht zu
verfolgen.
Ihre Sklaven. Ob Hanara wohl unter ihnen
ist? Sie erinnerte sich an sein scheues, nervöses Lächeln.
Hat er uns wirklich verraten, indem er fortgegangen ist, um
Takado zu berichten, dass das Dorf ohne Schutz war? Ich dachte, er
sei glücklich oder zumindest erleichtert darüber, in Sicherheit und
frei zu sein. Wahrscheinlich habe ich ihn nie wirklich
verstanden.
»Oh, da fällt noch einer und noch einer«, murmelte
Kendaria. »Ist auf unserer Seite schon jemand gefallen?«
Tessia betrachtete die kyralische Linie. »Nein.«
Eine Gestalt am entgegengesetzten Ende der Linie erschien ihr
vertraut. Ihr Herz tat einen Satz, als sie ihn erkannte.
Jayan. Da ist er. Er lebt.
Er hatte eine Hand auf Lord Everrans Schulter
gelegt. Lady Avaria stand in derselben Gruppe. Andere Magier gaben
ihr Macht, wie Tessia bemerkte. Sie fragte sich, welcher der beiden
Eheleute die Schläge führte und welcher den Schutzschild
aufrechterhielt.
Als sie sich wieder der anderen Seite zuwandte,
erregte ein Sklave ihre Aufmerksamkeit, der vom Schlachtfeld floh.
Während Tessia ihn beobachtete, stolperte er und fiel mit dem
Gesicht nach unten zu Boden. Dann hoben sich seine Füße in die
Höhe, und er rutschte zu der sachakanischen Linie zurück, wobei er
sinnlos die Hände in die Erde krallte. Als er in Reichweite seines
Herrn kam, packte der Magier ihn am Arm. Eine Klinge blitzte auf.
Ein Augenblick der Stille verstrich. Dann
wandte der Sachakaner sich wieder der Schlacht zu, und der Sklave
blieb reglos hinter ihm liegen.
Tessia konnte den Blick nicht von dieser winzigen
Gestalt abwenden. Ich habe soeben etwas mit angesehen, von dem
ich so viele Male in Lektionen gehört habe, etwas, das in
gestellten Schlachten demonstriert wird. Ein Sachakaner tötet einen
Sklaven, um Macht zu gewinnen. Aber das bedeutet...
»Siegen wir?«, fragte Kendaria ein wenig atemlos
und schaute Tessia an. »Wir siegen doch, nicht wahr? Auf ihrer
Seite sind mehr Kämpfer gefallen.«
»Das lässt sich nur schwer sagen.«
Ein Sachakaner tötete einen Quellsklaven nur dann,
wenn ihm die Macht ausging. Wenn er verzweifelt war. Kurz darauf
beobachtete sie, wie der Sachakaner, der seinen Sklaven getötet
hatte, hinter einen anderen Magier trat. Er kämpfte nicht
länger.
Aber nicht alle Sachakaner suchten den Schutz ihrer
Verbündeten. Obwohl über die Hälfte von ihnen inzwischen tot war
oder den Schutz anderer Magier suchte, fuhr der Rest fort,
zuversichtlich zu kämpfen. Sie zwang sich, die kyralische Seite zu
betrachten, und ihr wurde leichter ums Herz.
Kein Kyralier war gefallen. Sie schaute genauer
hin. Nur eine Gruppe hatte den Schutz einer anderen gesucht. An den
Kleidern, die sie trugen, erkannte sie in ihnen die Elyner.
Ah! Die Elyner haben gewiss keine Magie von den
Kyraliern genommen. Es wäre zu anmaßend gewesen, Magie von Menschen
anzunehmen, die nicht ihre eigenen Landsleute sind. Und die
Kyralier hätten sich vielleicht auch nicht erboten, Fremden Magie
zu übertragen. Nicht einmal Fremden, die gekommen sind, um uns zu
helfen.
Eine Woge der Erregung stieg in ihr auf. »Es sieht
allerdings vielversprechend aus«, bemerkte sie.
Kendaria lachte leise. »Das tut es, nicht
wahr?«
Kein Getreide verbarg Hanara vor den Blicken der
Kyralier oder gönnte ihm eine Illusion von Schutz vor der Magie,
die auf ihn zu schoss. Wann immer ein Schlag in seine Richtung
zuckte, duckte er sich, aber jedes Mal prallte der Schlag an
Takados Schild ab.
Nur ein Dutzend Schritte entfernt ging ein
sachakanischer Magier explosionsartig in Flammen auf. Jene, die
hinter ihm Zuflucht gesucht hatten, sprangen hastig beiseite. Einer
stolperte über einige Sklaven, die die Hände nach ihrem toten Herrn
ausstreckten. Er drehte sich um und verfluchte die Männer, dann
legte sich ein nachdenklicher, berechnender Ausdruck über seine
Züge. Einen Moment später trat er vor, packte den Arm eines Sklaven
und zog mit einer einzigen fließenden Bewegung sein Messer hervor.
Das Protestheulen des Sklaven endete abrupt, als der Mann begann,
ihm Macht zu entziehen.
Die anderen Sklaven erhoben sich und flohen. Als
der Magier fertig war, hatten sie sich zwischen den Sklaven
verschanzt, die die Pferde hielten. Der Magier runzelte die Stirn
und zog sich unter den Schutz eines Schildes zurück. Hanara sah,
dass die Augen des toten Sklaven offen standen und zu seinem toten
Herrn hinüberstarrten. Er schauderte.
Dann blickte er zu Takado auf. Ist er stark
genug? Kann er es mit Nomakos Verstärkungstruppen aufnehmen, oder
wird er gezwungen sein, hinter den Kämpfern des Kaisers Zuflucht zu
suchen?
Nach der letzten Schlacht waren Takado und seine
Verbündeten die Straße entlanggeritten, hatten in jeder Stadt und
jedem Dorf Halt gemacht, die Gegend durchstreift und so viele
Menschen, wie sie finden konnten, gejagt und getötet. Sie mussten
Hunderte getötet haben.
Aber später an jenem Tag waren sie auf eine andere
Gruppe von zwanzig Sachakanern gestoßen, die behaupteten, sie seien
gekommen, um sich Takado anzuschließen. Doch obwohl er diese
Neuankömmlinge willkommen geheißen hatte, hatte er Asara und
Dachido später erzählt, dass er einige der Kämpfer erkannt
habe.
»Sie sind Nomakos Verbündete«, hatte er gesagt.
»Ist euch aufgefallen, wie freundlich einige von ihnen zu der
letzten Gruppe sind, die sich uns angeschlossen hat? Die zufällig
ebenfalls aus zwanzig Magiern bestand?«
»Der Zeitpunkt ihres Erscheinens bereitet mir
ebenso Kopfzerbrechen
wie Freude«, hatte Dachido zugegeben. »Denkst du, Nomako hat sie
nach Süden geschickt?«
Takado hatte genickt. »Um sich uns genau in dem
Moment anzuschließen, als wir in vorangegangenen Schlachten zu viel
von unserer Stärke verausgabt haben.«
Asara hatte die Stirn gerunzelt. »Sie haben vor,
uns unseren Sieg zu stehlen.«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, hatte Takado
geknurrt.
Also hatten die drei die Reise nach Imardin um
einige weitere Stunden verzögert, sodass sie nach zusätzlicher
Stärke jagen konnten. Sie hatten Menschen und Tiere getötet. Alles,
was ihnen auch nur den geringsten Funken zusätzlicher Magie geben
konnte.
Aber es hat ihnen nichts genutzt, dachte
Hanara. Als er an Takado vorbeiblickte, konnte er erkennen, dass
bisher kein Kyralier gefallen war. Sie ermüdeten nicht, und sie
suchten auch nicht den Schutz ihrer Nachbarn. Ihr Angriff ließ
nicht nach.
Während der nächsten drei Atemzüge fielen zwei
weitere Sachakaner.
»Jochara!«
Einige Schritte entfernt stand der junge Sklave auf
und eilte an Takados Seite. Er machte Anstalten, sich zu Boden zu
werfen, aber Takados Hand schoss vor, und er packte ihn am Arm.
Hanara sah das Aufblitzen einer Klinge, und Entsetzen durchlief
ihn. Jochara starrte Takado überrascht an - und starrte weiter und
starrte noch immer, als er leblos zu Boden sackte.
»Chinka!«
Hanara blickte auf. Die Sklavin ging, die Schultern
durchgedrückt, das Gesicht grimmig, auf ihren Herrn zu. Sie kniete
nieder und streckte ihm das Handgelenk hin. Takado zögerte nur
kurz. Dann berührte sein Messer ihre Haut. Sie schloss die Augen
und starb mit einem Ausdruck der Erleichterung auf dem
Gesicht.
Genauso sollte ich ebenfalls sterben, schoss
es Hanara durch den Kopf. Duldsam. In dem Wissen, dass ich
meinem Herrn gut gedient habe. Warum schlägt mein Herz also so
schnell?
»Dokko!«
Links von Hanara erklang ein wortloser Protest. Als
er sich umdrehte, sah er, wie der hochgewachsene Mann sich
aufrappelte und losrannte. Aber er kam nicht weit. Eine unsichtbare
Macht zog ihn rückwärts. Er stürzte und schrie gellend, während er
über den Boden rutschte. Takados Gesicht war eine Maske des
Zorns.
Er ist verärgert darüber, dass er Macht
vergeuden musste.
Die Schreie des Sklaven brachen ab. Takado wandte
sich ab, um den Blick über das Schlachtfeld wandern zu
lassen.
»Hanara!«
Etwas Warmes breitete sich in Hanaras Schoß aus. Er
schaute an sich hinab, entsetzt darüber, dass er die Kontrolle
verloren hatte. Entsetzt über seine Unfähigkeit, seine Angst
beiseitezuschieben und sein Schicksal zu akzeptieren. Er versuchte,
seine zitternden Arme dazu zu zwingen, seinen Körper
hochzuhieven.
»Hanara! Hol das Pferd!«
Süße Erleichterung durchflutete ihn. Seine Kraft
kehrte zurück. Er stand auf und rannte zu den Sklaven hinüber, die
die Pferde hielten. Die Nachricht, dass er nicht sterben würde,
hatte seine Hände noch nicht erreicht und sie zitterten, als er
nach den Zügeln des Pferdes griff. Glücklicherweise machte das Tier
ihm keine Schwierigkeiten, obwohl der Lärm und die Vibrationen der
magischen Schlacht es zu verstören schienen. Er bemerkte, dass
andere Sklaven ebenfalls Pferde holten. Jene Magier, denen das
Gleiche aufgefallen war, sahen Takado an, die Gesichter starr von
entsetztem Begreifen, Panik und Zorn.
»Herr«, rief er, als er näher kam.
»Warte«, befahl Takado.
Im nächsten Moment sah Hanara, dass mehrere Magier
der kyralischen Armee einen Schritt vortraten.
Vielleicht war es ein gemeinschaftlicher Reflex
gewesen. Vielleicht war es eine neue Angriffsformation. Aber die
Wirkung war wie ein Windstoß. Plötzlich brach die sachakanische
Linie auseinander. Magier rannten. Sklaven flohen. Alle
starben.
Von der Stadt kam ein gewaltiges Tosen. Die
Kyralier jubelten. Der Lärm war ohrenbetäubend. Takado drehte sich
um und schritt auf Hanara zu. Er ergriff die Zügel des Pferdes und
schwang sich in den Sattel. Dann hielt er inne und blickte auf
Hanara hinab.
»Mach schon.«
Hanara kletterte hinter seinen Herrn, wobei er sich
der Feuchtigkeit seiner Hose, die Takados Rücken berührte, nur
allzu bewusst war. Er spürte, wie Takado sich versteifte, dann
hörte er ihn schnuppern.
»Wenn ich keinen Quellsklaven brauchte, Hanara...«,
sagte Takado. Er brachte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen
schüttelte er den Kopf, dann trat er dem Pferd in die Flanken, bis
es zu galoppieren begann, und danach konnte Hanara sich nur noch
festklammern und hoffen, dass die Kraft seines Herrn lange genug
vorhielt, um sie aus der Reichweite der Feinde zu bringen.
Als das Geräusch unzähliger Stimmen den Hang
hinaufgrollte, begriff Tessia, dass die Menschen von Kyralia
jubelten. Kendaria stieß einen Freudenschrei aus. Grinsend tat
Tessia es ihr nach. Sie sahen einander an, und beide lachten sie.
Dann hüpften sie beide auf und ab, schlangen die Arme umeinander
und brüllten vor hemmungsloser Erleichterung.
»Wir haben sie geschlagen! Wir haben sie
geschlagen!«, sang Kendaria. Etwas in Tessia entspannte sich, wie
ein Knoten, der gelockert wurde, und sie spürte, wie die Furcht der
vergangenen Monate von ihr abfiel. Sie hatten gesiegt. Sie hatten
die Sachakaner endlich überwältigt. Kyralia war gerettet.
Als ihr langsam der Atem knapp wurde, verstummte
Tessia. Schließlich überwog die Erschöpfung ihren Jubel, und ein
Gefühl der Traurigkeit kehrte zurück. Ja, wir haben sie
geschlagen. Aber wir haben so viel verloren. So viel Tod und
Verderben.
»Sie verfolgen sie«, sagte Kendaria.
Tessia blickte den Hügel hinunter und sah Diener
mit Pferden für die Magier herbeieilen.
Die Heilerin war ernst geworden. »Ich hoffe, sie
finden sie
schnell. Wir wollen nicht, dass sie das Land durchstreifen und der
Bevölkerung auflauern.«
»Es ist kaum noch jemand da, dem sie auflauern
könnten«, erwiderte Tessia. Aber sie wusste, dass das nicht wahr
sein konnte. Etliche Menschen waren den Sachakanern ausgewichen und
zurückgeblieben, um ihr Eigentum vor Plünderern zu schützen oder
sich um geliebte Menschen zu kümmern, die krank waren und nicht
reisen konnten.
»Lass uns hinuntergehen und mit den anderen
feiern.«
Tessia grinste und schloss sich ihrer Freundin an.
»Ja. Ich nehme an, die meisten Kyralier werden morgen früh einen
sehr üblen Kater haben.«
»Darauf könnt Ihr Euch verlassen«, sagte Kendaria.
»Ich hoffe, Ihr habt noch einige Schmerzmittel in der Tasche Eures
Vaters.«
Tessia zuckte zusammen, als ein vertrauter Schmerz
wieder an die Oberfläche kam. »Ich musste sie nach der letzten
Schlacht zurücklassen.«
Ihre Freundin sah sie an und verzog mitfühlend das
Gesicht. »Es tut mir leid, das zu hören.«
»Es spielt im Grunde keine Rolle.« Tessia zwang
sich zu einem Achselzucken. »Ich kann mir jederzeit eine neue
Tasche kaufen, neue Instrumente und weitere Heilmittel. Das
Wichtigste ist das, was mein Vater mich gelehrt hat.« Sie tippte
sich an die Stirn. »Das ist für andere von Wert, die Tasche
bedeutete nur mir etwas.«
Kendaria sah sie von der Seite an. »Und ich nehme
an, Ihr werdet in Bälde keine Instrumente oder Heilmittel mehr
benötigen, wenn Ihr herausfindet, wie Ihr mit Magie heilen
könnt.«
Tessia brachte ein Lächeln zustande. »Aber das wird
eine Weile dauern. Falls es mir überhaupt gelingt. Bis dahin sollte
ich die Dinge wohl besser weiter auf die altmodische Weise
tun.«