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Obwohl die meisten Menschen behaupten, das
Gesetz gestatte es Magiern zu tun, was immer sie wollen,
unterliegen wir in Wahrheit doch gewissen Einschränkungen«, sagte
Lord Dakon.
Tessia beobachtete ihn, während er in der
Bibliothek auf und ab ging, wie er es für gewöhnlich während des
Unterrichts tat. In den letzten Wochen hatte sie im Unterricht
immer wieder für kurze Zeit versucht, Kontrolle über ihre Magie zu
gewinnen, ähnlich wie in ihrer ersten Lektion. Außerdem hatte sie
längere Lektionen erhalten, in denen er sie über die Gesetze
Kyralias belehrte, oder über die Geschichte des Landes. Diese Dinge
hatte sie bereits bei ihrem Vater gelernt, aber es war interessant,
sie aus der Perspektive eines Magiers zu hören. Außerdem hatte Lord
Dakon ihr erklärt, wie ihr Unterricht im Laufe der nächsten Jahre
aussehen würde. Er kam häufig vom Thema ab und sprach über
sachakanische Kultur und Politik oder über seine Handelsgeschäfte
mit anderen Grundbesitzern auf dem Land oder in der Stadt. Auch
erfuhr sie von ihm mehr über die verwickelten Beziehungen der
meisten mächtigen Familien Kyralias.
»Die erste Einschränkung liegt darin, dass nichts,
was wir tun, Kyralia schaden darf«, fuhr er fort. »Nun, was schadet
oder nicht, kann subjektiv sein. Die Errichtung eines Staudamms
kann stromabwärts Hochwasserschäden vermeiden, aber unweigerlich
wird dadurch auch das Land unmittelbar oberhalb des Damms in den
Fluten des neuen Stausees versinken. Eine Mine, ein Brennofen oder
eine Schmiede stromaufwärts können Wohlstand bringen, aber sie
können auch stromabwärts das Wasser verunreinigen und Fische,
Ernten, Vieh und Menschen vergiften.« Dakon blieb stehen, um sie
anzusehen.
»Unterm Strich entscheidet der König, was schädlich
ist und was nicht. Aber bevor eine Angelegenheit ihm zur Kenntnis
gebracht werden kann, bedarf es eines langen und formellen
Prozesses und etlicher Versuche einer Einigung zwischen dem Kläger
und dem Angeklagten. Ohne diesen Prozess stünde der König einer
nicht zu bewältigenden Zahl von Fällen gegenüber, in denen er eine
Entscheidung treffen müsste.« Er verzog das Gesicht. »Ich werde im
Augenblick nicht genauer auf den Prozess selbst eingehen, sonst
müssten wir uns für den Rest des Nachmittags mit diesem Thema
beschäftigen. Hast du irgendwelche Fragen?«
Tessia war auf diese Bitte vorbereitet. Wenn sie
keine Fragen stellte, belehrte Dakon sie über die Notwendigkeit,
dies zu tun. Keine Frage war zu dumm oder zu unwichtig, hatte er
ihr versichert.
Aber Meisterschüler Jayan war offenkundig anderer
Meinung. Wann immer sie am Nachmittag Unterricht hatte, um die
Stunden wettzumachen, die sie ihrem Vater am Morgen hatte helfen
müssen - was glücklicherweise bisher nur dreimal vorgekommen war -,
kehrte sie wohlgelaunt zurück, nur um einen unbehaglichen
Nachmittag zu verleben; in diesen Stunden war sie sich Jayans nur
halb verhohlenen Spottes bewusst, ebenso wie seiner Seufzer und
seiner verächtlichen Blicke.
Dies weckte in ihr ein Widerstreben, Fragen zu
stellen, und sie war dann entschlossen, nur solche Fragen zu
stellen, die nicht töricht klangen.
»Der König ist ein Magier«, sagte sie. »Gelten für
ihn dieselben
Einschränkungen? Wer entscheidet darüber, ob das, was er tut,
schädlich ist oder nicht?«
Dakon lächelte. »Er ist in der Tat ein Magier, und
für ihn gelten durchaus dieselben Einschränkungen. Sollte er jemals
bezichtigt werden, Kyralia Schaden zuzufügen, müssen die Lords von
Kyralia entscheiden, ob die Anklage zu Recht erhoben wurde - und
falls etwas dagegen unternommen werden soll, müssen wir uns in
diesem Punkt alle einig sein.«
»Was könnte man denn dagegen unternehmen?«
»Was immer dem Verbrechen angemessen ist, nehme ich
an. Das Gesetz legt keine bestimmte Vorgehensweise oder Strafe
fest.«
»Der König ist kein starker Magier, nicht
wahr?«
Sie hörte ein Schnauben aus der Ecke, in der Jayan
saß, widerstand aber der Versuchung, sich zu ihm umzudrehen.
»Das ist ein Gerücht, und es ist unzutreffend«,
erwiderte Dakon. »Die natürliche Fähigkeit eines Magiers mag klein
oder groß sein, aber das spielt keine Rolle mehr, sobald jemand
höhere Magie erlernt hat. Dann gründet sich seine oder ihre Kraft
ausschließlich darauf, wie viel Magie ein Meisterschüler ihm oder
ihr gegeben hat. Natürlich kann ein Magier sich dafür entscheiden,
keinen Meisterschüler anzunehmen und sich ausschließlich auf seine
natürliche Kraft zu verlassen. Nicht jeder Magier hat die Zeit oder
die Neigung, Meisterschüler zu unterrichten. Der König zum Beispiel
hat keine Zeit dafür, denn seine erste Verantwortung gilt dem Wohl
des Landes. Es ist ihm gestattet, Magie von anderen Magiern zu
empfangen, im Allgemeinen von einer kleinen Gruppe ergebener
Freunde, manchmal als Bezahlung für eine Schuld oder eine
Gefälligkeit.«
Tessia dachte schweigend darüber nach. Manchmal
klang es so, als sei die Stadt eine ganz andere Welt und nicht
einfach nur die Hauptstadt ihres Landes.
Ein leises Hüsteln von Jayan zog Dakons
Aufmerksamkeit auf sich. Er lächelte schief. »Ich werde dir ein
andermal mehr darüber erzählen. Jetzt denke ich, dass wir genug
über Gesetz und Geschichte gesprochen haben. Es wird Zeit, dass wir
noch einmal deine Kontrolle prüfen. Nein, nein! Bleib, wo du
bist.«
Sie hatte sich bereits halb von ihrem Platz
erhoben, hielt jetzt jedoch inne.
»Wir gehen nicht hinaus auf die Felder?«
Er nickte. »Ich denke, du hast das gefährlichste
Stadium hinter dir. Kannst du dich daran erinnern, während der
letzten Woche überhaupt einmal unbeabsichtigt Magie benutzt zu
haben?«
Sie dachte zurück, dann schüttelte sie den
Kopf.
»Gut. Dann wollen wir es uns jetzt ein wenig
bequemer machen.«
Dies bedeutete im Wesentlichen, dass er sich auf
einen Stuhl neben sie setzte und sie beide ihre Stühle so drehten,
dass sie einander gegenübersaßen. Jetzt konnte sie auch Jayan
sehen, der in einer Ecke des Raumes saß. Er beobachtete sie, eine
schwache Falte zwischen den Brauen.
Sie hielt Lord Dakon die Hände hin. Als der Magier
sie sanft umfasste, schloss sie die Augen. Dann öffnete sie sie
wieder, schaute zu Jayan hinüber und bemerkte, dass er unverhohlen
die Lippen verzog - ein höhnisches Grinsen, das Verachtung oder
Missvergnügen zeigte und schnell unterdrückt wurde. Ein Stich der
Kränkung durchzuckte sie, gefolgt von Neugier.
Er mag mich wirklich nicht, dachte sie.
Ich wüsste gern, warum.
Mögliche Gründe gingen ihr durch den Sinn und
beeinträchtigten ihre Fähigkeit, ihren Geist zu beruhigen und sich
zu konzentrieren. War es ihre bescheidenere Herkunft? Lag es daran,
dass sie eine Frau war? Hatte sie irgendeine Angewohnheit, die ihn
anwiderte oder ärgerte?
Oder, überlegte sie plötzlich, war es Groll? Hatte
er etwas verloren, als sie Dakons Meisterschülerin geworden war?
Ansehen? Nein, ihre Anwesenheit hier würde ihn nicht daran hindern,
ein Magier zu werden oder den Einfluss, den er über eigene
Beziehungen oder die seiner Familie geltend machen konnte, in
irgendeiner Weise gefährden.
Was immer es war, es musste von Dakon ausgehen. Der
Magier war in Mandryn die einzige Person, die etwas hatte, das
Jayan wollte. Dann dämmerte ihr schließlich die Antwort. Dakon
hatte keine Kinder. Falls er keine mehr bekam, so hatte sie
angenommen, würde das Lehen einem anderen Verwandten zufallen, so
wie es bei Narvelans Vorgänger, Lord Gempel, gewesen war. Aber
vielleicht konnten Meisterschüler Lehen erben.
Trotzdem würde Jayan, der älter war und von guten
Blutlinien abstammte, ihr gewiss vorgezogen werden. Die
Möglichkeit, dass sie ein Lehen erben könnte, war so eigenartig und
lächerlich, dass sie um ein Haar laut aufgelacht hätte. Das kann
es nicht sein, dachte sie. Es muss etwas anderes
sein.
Sie würde später darüber nachdenken müssen. Im
Augenblick konnte sie nichts anderes tun, als ihn zu ignorieren.
Obwohl auch das nicht möglich war, sollte er ihr mit unverhohlener
Bosheit entgegentreten, befand sie. Dann würde sie ihm die Stirn
bieten. Schließlich hatte sie es schon mit einem sachakanischen
Magier aufgenommen. Kein kyralischer Adept der Magie würde sie
einschüchtern.
Nachdem sie diesen Entschluss getroffen hatte,
gelang es ihr, ihren Geist zu reinigen und sich auf Dakons
Kontrolllektion zu konzentrieren. Wie immer stellte sie sich eine
Schatulle vor und öffnete sie nervös. Darin lag ihre Macht, ein
kreiselnder, leuchtender Ball aus Licht. Sie berührte ihn, hielt
ihn in der Hand, drückte ihn sogar ein wenig, dann legte sie ihn
zurück und schloss den Deckel.
Als sie die Augen wieder öffnete, lehnte Dakon sich
zurück und lächelte sie an. Dann stand er auf, trat vor ein Regal
und nahm eine schwere, steinerne Schale heraus, die eingekeilt
zwischen zwei Bücherreihen gestanden hatte. Er stellte sie vor sie
auf den Boden, riss ein Stück Papier ab und warf es in die
Schale.
»Schau auf das Papier«, wies er sie an. »Ich
möchte, dass du dich daran erinnerst, was für ein Gefühl es war,
deine Macht in Händen zu halten. Dann möchte ich, dass du ein
winziges Stück davon, nur gerade eine Prise, nimmst und sie auf das
Papier richtest. Gleichzeitig sollst du an Hitze denken. Denk an
Feuer.«
Dies war ganz anders als die Lektionen, die sie
bisher erlebt
hatte. Sie sah ihn fragend an, aber er deutete nur auf die
Schale.
Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, beugte
sie sich vor und starrte auf das Papier. Sie rief sich ins
Gedächtnis, wie es sich angefühlt hatte, ihre Magie in ihren Händen
zu halten. Das Gefühl war noch immer da, obwohl sie die Augen offen
hatte.
Es war nicht unähnlich dem Gefühl, das sie erfahren
hatte, als ihre Magie entfesselt worden war, ohne dass sie es
beabsichtigt hatte, aber dieses Gefühl war... nicht genauso
schlüpfrig.
Sie wagte es nicht zu blinzeln.
Den Blick immer noch auf das steinerne Gefäß
gerichtet, zupfte sie an ihrer Magie und spürte, wie sie reagierte.
Sie hatte Angst, dass ihr dieses Fetzchen Magie, sollte sie zu
lange warten, entgleiten würde, daher richtete sie es auf den
Papierschnipsel.
Ihre Stirn brannte, als die Luft vor ihr plötzlich
heiß wurde. Das Gefäß glitt einige Schritte von ihr weg, dann
begannen Flammen darin zu züngeln.
»Du hast es geschafft!«, rief Dakon. Sein Tonfall
war halb überrascht, halb erfreut. »Ich dachte mir doch, dass du
schon so weit bist.«
»Dass ist sie allerdings.« Tessia zuckte zusammen,
als ihr bewusst wurde, dass Jayan neben ihrem Stuhl stand und über
ihre Schulter auf das brennende Papier blickte. Der Geruch des
Rauches biss ihr in die Nase. Jayan verzog das Gesicht und machte
eine kleine Bewegung mit einem Finger.
Als sie wieder zu der Schale hinüberschaute, sah
sie, dass der Rauch darin jetzt von einem unsichtbaren Schild
festgehalten wurde. Nach einigen Augenblicken schrumpften die
Flammen und verschwanden. Eine vage Enttäuschung stieg in ihr auf,
als das Ergebnis ihrer ersten kontrollierten Benutzung von Magie
erlosch.
Dakon sah, wie sie bemerkte, Jayan mit
nachdenklicher Miene an. Der junge Meisterschüler zuckte die
Achseln, ging zurück zu seinem Platz und griff nach dem Buch, das
er gelesen
hatte. Dakon sagte nichts und wandte sich wieder Tessia zu.
»Also, ich bin mir jetzt sicher, dass du die
Kontrolle über deine Macht gewonnen hast, Tessia«, erklärte er.
»Wir brauchen nicht mehr zu befürchten, dass weitere Räume neu
eingerichtet werden müssen, obwohl ich sagen muss, dass dieses
Gästezimmer jetzt erheblich besser aussieht als früher.«
Sie spürte, wie ihr Gesicht warm wurde, und wandte
den Blick ab. »Was geschieht jetzt?«
»Wir feiern«, antwortete er. Auf der anderen Seite
des Raumes läutete ein kleiner, in eine Nische in der Wand
eingelassener Gong. »Schließlich habe ich noch nie von einem Magier
gehört, der in nur zwei Wochen die Kontrolle über sein Talent
gewonnen hätte. Ich habe drei gebraucht. Bei Jayan waren es
vier.«
»Dreieinhalb«, korrigierte Jayan ihn, ohne von
seinem Buch aufzublicken. »Und wir haben drei Tage verloren, als
Lord Gempel auf ein Plauderstündchen vorbeikam und dann beschloss,
länger zu bleiben und Euren Weinvorrat zu plündern.«
Dakon lachte leise. »Er war alt. Wie konnte ich ihm
eine Ruhepause und ein wenig Gesellschaft verweigern?«
Jayan antwortete nicht. Es klopfte an der Tür, und
Dakon drehte sich um. Tessia bemerkte, wie sein Blick schärfer
wurde, als er Magie benutzte. Die Tür schwang auf. Cannia trat
ein.
»Bring uns eine Flasche Wein, Cannia. Und zwar eine
gute. Jetzt, da Tessias Kontrolllektionen vorüber sind, sollte sie
am besten anfangen, etwas zu lernen, das alle angesehenen Kyralier
wissen müssen: Welche kyralischen Weine besser sind als
andere.«
Als die Dienerin lächelte und den Raum verließ,
richtete Tessia ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre eigene Magie.
Dieses neue Bewusstsein, dass sie etwas in sich trug - entdeckt
während ihrer ersten Lektionen und bekräftigt durch zahlreiche
Übungen -, erinnerte sie an etwas. Dann fiel es ihr wieder ein:
Nachdem ihr Vater ihr Zeichnungen des Herzens und der Lunge gezeigt
und begonnen hatte, sie darüber zu belehren,
war sie sich der Position und der Rhythmen dieser beiden Organe
auf eine intensive Weise bewusst geworden.
Aber ihre Magie war etwas anderes. Sie brauchte
keine Kontrolle über ihr Herz und ihre Lungen zu haben. Sie könnte
sie vergessen und darauf vertrauen, dass die weiterarbeiteten.
Obwohl Dakon ihr versichert hatte, dass sie irgendwann nicht mehr
bemerken würde, dass sie Kontrolle über ihre Macht ausübte, durfte
sie diese Kontrolle doch nie verlieren.
Jetzt machte ihr diese Aussicht zum ersten Mal
keine Angst mehr.
Jayan gähnte, als er durch den Innenhof zu den
Ställen hinüberging. Das Gras auf den umliegenden Feldern war weiß
vom Frost, und sein Atem zeichnete sich als Nebel vor seinem
Gesicht ab. Als die Kälte seine Kleider durchdrang, umgab er sich
mit einem Schild und wärmte die Luft darin auf.
Magie konnte etwas gegen die Kälte ausrichten, aber
gegen die frühe Stunde war sie machtlos. Warum hatte Dakon nach ihm
geschickt: Malia hatte ihm nichts anderes sagen können oder wollen,
als dass er Dakon bei den Ställen finden würde.
Ein Mann und ein stichelhaariges Pferd traten aus
der Dunkelheit hinter der offenen Stalltür, und Jayans Stimmung
verdüsterte sich noch mehr. Dakon hatte Hanara eine Arbeit in den
Ställen zugewiesen, was, wie Jayan zugeben musste, ein weiser Zug
gewesen war. Auf diese Weise war der ehemalige Sklave aus dem Haus,
aber nicht außer Sicht. Allerdings bedeutete es, dass Jayan mit dem
Mann zu tun hatte, wann immer er ausreiten wollte oder
musste.
Hanara hielt den Blick zu Boden gesenkt und zog die
Schultern ein. Diese scheinbare Unterwürfigkeit vergrößerte Jayans
Unbehagen noch.
»Für Euch, Meister«, sagte der Mann.
Jayan verkniff sich die Erwiderung, dass der Titel
nicht geziemend sei. Er würde erst »Meister« genannt werden, wenn
er ein Magier war. Und dann auch nur von seinem eigenen
Meisterschüler. Als er einmal versucht hatte, Hanara dies zu
erklären, hatte der ehemalige Sklave nur zu Boden gestarrt
und geschwiegen und später den gleichen Ausdruck wieder
benutzt.
Hanara drehte das Pferd, damit Jayan aufsitzen
konnte, dann stellte er sich vor den Kopf der Stute. Jayan hielt
kurz inne, bevor er dem Mann die Zügel abnahm und sie festhielt,
während er sich auf den Rücken des Tieres schwang. Hufschläge zu
seiner Rechten verrieten, dass Dakon mit Sleet, seinem
Lieblingswallach, aus dem Stall kam.
»Guten Morgen, Meisterschüler Jayan«, sagte Dakon.
»Hast du Lust auf einen Ausritt?«
»Habe ich eine Wahl? Kann ich wieder absteigen und
ins Arbeitszimmer zurückkehren?«, fragte Jayan eine Spur gereizter,
als er beabsichtigt hatte.
Dakons Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Aber das
wäre ein solcher Jammer, nachdem Hanara gerade so viel Zeit darauf
verwandt hat, dir Ember fertig zu machen.«
»Ja, das wäre es wohl«, erwiderte Jayan
sarkastisch. »Also, wohin reiten wir so früh am Morgen?«
»Die übliche Runde durch das Dorf«, sagte Dakon,
bevor er einen Fuß in Sleets Steigbügel stellte. Er schwang sich
auf den Rücken des grauen Pferdes, ließ sich im Sattel nieder und
trieb das Pferd an. Jayan seufzte und drängte seine Stute, Sleet zu
folgen.
Als sie durch die Tore des Herrenhauses kamen, sah
Jayan, dass einige Dorfbewohner bereits unterwegs waren. Der Bäcker
lieferte natürlich bereits seine Waren aus. Einige Jungen trugen
Feuerholzbündel von einem Karren zu den Türen der Häuser und ließen
sie neben der Türschwelle liegen.
Dakon und Jayan brauchten nicht lange, um das Ende
des Dorfes zu erreichen. Sie überquerten die Brücke und machten
sich auf den Weg in Richtung Süden.
»Du vertraust Hanara nicht, oder?«, fragte
Dakon.
Jayan schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich denke,
Ihr solltet es ebenfalls nicht tun.«
»Ich vertraue ihm auch nicht, aber mein Misstrauen
ist vielleicht nicht so groß wie das deine.« Er drehte sich zu
Jayan um. »Ich erwarte zwar keine Loyalität von ihm und würde ihm
auch keine geheimen Informationen anvertrauen - nicht dass ich
welche hätte -, aber ich traue ihm zu, den Kopf meines Pferdes zu
halten, wenn ich aufsitze. Es wäre schäbig und dumm von ihm, wenn
er versuchte, ein Pferd zu verzaubern, das wir reiten wollen. Er
weiß, ich würde ihn aus dem Dorf werfen, wenn ich glaubte, er habe
es vorsätzlich getan.«
»Und wenn Ihr Euch nicht sicher wäret?«, fragte
Jayan.
»Dann würde ich ihm noch eine Chance geben. Und
wahrscheinlich noch eine. Einmal ist ein Fehler, zweimal ist Pech
oder Zufall, dreimal ist entweder Vorsatz oder eine schlechte
Angewohnheit und würde zumindest beweisen, dass er der Aufgabe, die
ich ihm zugewiesen habe, nicht gewachsen ist.«
»Selbst wenn jemand verletzt würde?«
»Das würde mich dazu zwingen, seine Gedanken zu
lesen.«
Jayan runzelte die Stirn. »Ihr habt es nicht
bereits getan?« »Nein. Ich bin kein sachakanischer Ashaki.« Dakon
zog eine Augenbraue hoch. »Habt Ihr Mitleid mit dem Mann?«
Jayan wandte den Blick ab und stieß einen Seufzer
aus. »Ein wenig. Nun, ich nehme an, mehr als ein wenig. Aber das
heißt nicht, dass ich ihm vertraue. Wenn Takado auftauchen würde,
dessen bin ich mir sicher, würde Hanara ohne jedes Zögern zu seinem
Herrn zurückkehren.«
»Meinst du? Er ist jetzt ein freier Mann. Takado
sagte, ich könne mit ihm machen, was ich will. Hanara weiß das.
Würde er freiwillig zu einem Leben als Sklave zurückkehren?«
»Wenn er nichts anderes gekannt hat. Wenn er Angst
davor hätte, etwas anderes zu sein.«
»Niemand zwingt ihn zu bleiben. Er hätte nach
Sachaka zurückkehren können, wenn er gewollt hätte.« Dakon
lächelte. »Er probiert jetzt ein anderes Leben aus«, bemerkte
Dakon. »Je länger er seine Freiheit hat, umso mehr wird sie ihm
gefallen. Und sie wird ihm noch mehr gefallen, wenn nicht jeder
Kyralier, dem er begegnet, ihn mit Misstrauen behandelt.«
Jayan nickte widerstrebend. »Aber das gilt nichts,
wenn er Euch nicht respektiert«, stellte er fest. »Sollte Hanara
noch einmal Takado gegenüberstehen, wird seine Reaktion davon
abhängen,
wen er mehr fürchtet und respektiert, Euch oder Takado.«
»Das ist wahr.«
»Und er wird einen Mann, den er nicht fürchtet,
vielleicht niemals respektieren, wenn das die einzige Art und Weise
für ihn ist, zu ermitteln, wen er respektieren muss. Furcht und
Respekt bedeuten ihm vielleicht erheblich mehr als
Vertrauen.«
Dakon runzelte die Stirn und verfiel in
nachdenkliches Schweigen. Sie bogen von der Straße auf einen
Viehweg ab, der stetig in die Höhe führte und entlang eines
Hügelkamms mit Blick auf das Dorf verlief. Jayan blickte auf die
doppelte Reihe von Häusern hinab, die sich vom Fluss bis zum Ende
des kleinen Tales erstreckten. Dakons Haus war ein Stockwerk höher
und um ein Mehrfaches größer als die übrigen Gebäude. Wann immer
Jayan das Dorf aus dieser Perspektive betrachtete, fragte er sich,
wie es den Dorfbewohnern gelang, in ihren winzigen Häusern zu leben
und zu arbeiten.
»Dein Misstrauen Hanara gegenüber ist vernünftig«,
fuhr Dakon fort. Jayan widerstand dem Drang, einen verärgerten
Seufzer auszustoßen. Ist er mit diesem Thema immer noch nicht
fertig? dachte er ungeduldig. »Aber das Problem, das du mit
Tessia hast, verstehe ich nicht ganz.«
Jayans Magen schlingerte beunruhigend. »Tessia? Ich
habe kein Problem mit ihr.«
Dakon lachte leise. »Oh, es ist offenkundig, dass
du eines hast. Deine Abneigung gegen sie ist ebenso unübersehbar
wie dein Misstrauen Hanara gegenüber. Ich fürchte, du verstehst
dich nicht gut genug darauf, deine Gefühle zu verbergen,
Jayan.«
Ich sollte mich umdrehen, ihm in die Augen sehen
und erklären, wie glücklich ich wäre, dass Tessia sich uns
angeschlossen hat, und dass ich mich auf viele Jahre ihrer
Gesellschaft freue, dachte Jayan. Aber er würde es nicht sofort
tun. Nur noch einen Moment. Er war noch nicht bereit. Dakon hatte
ihn überrascht.
»Wenn ich mich so schlecht darauf verstehe, meine
Gefühle zu verbergen, sollte es dann nicht offenkundig sein, worin
mein Problem besteht?«, konterte er. »Vielleicht versteht
Ihr es nicht, weil es nichts zu verstehen gibt.«
»Dann erkläre mir einige Dinge. Warum reagierst du
auf die Hälfte ihrer Fragen mit einem Seufzer oder einem finsteren
Blick? Warum lauscht du ihren Lektionen, wenn du behauptest, lesen
zu wollen? Und warum ignorierst du sie, wenn sie dich nicht gerade
direkt anspricht, und gibst ihr dann die kürzeste und häufig am
wenigsten hilfreiche Antwort?« Dakon kicherte. »Wenn sie anwesend
ist, würde jeder aus deinem Gesichtsausdruck schließen, dass sie
dir Bauchschmerzen bereitet.«
Jayan sah Dakon an, dann wandte er den Blick wieder
ab und dachte angestrengt nach. Welche Erklärung konnte er geben?
Gewiss konnte er Dakon nicht erzählen, dass er Tessia jeden
Augenblick verübelte, der seiner Ausbildung durch ihren Unterricht
verloren ging.
»Sie ist einfach so... unwissend«, sagte er. »So
langsam. Ich weiß, sie lernt schnell, aber so kommt es mir nicht
vor.« Er verzog das Gesicht, davon überzeugt, dass seine Antwort
nicht klug oder ausweichend genug war. Formuliere es so, dass du
den Eindruck erweckst, als wolltest du sie aus irgendeinem Grund in
der
Nähe haben. »Es wird lange dauern, bevor wir
beide ein Gespräch über Magie führen können, bevor wir beide
zusammen üben oder ein Spiel spielen können, oder... irgendetwas.«
Jetzt sieh ihn an. Er drehte sich zu Dakon um, blickte dem
Magier in die Augen und zuckte hilflos die Achseln.
Dakon lächelte und blickte wieder auf den Weg vor
ihnen, der zu einem Zaun und einem Tor führte.
»Wenn du sie beobachtest, muss dich das an deine
eigenen Anfänge erinnern, an die verlegenen Fragen und die
gescheiterten Versuche, Magie zu benutzen. An Schwierigkeiten und
Fehler. Weißt du«, er sah Jayan wieder an, »sie würde sich sicher
über deine Hilfe freuen. Du hast sie ein wenig nervös gemacht, aber
ich bin davon überzeugt, dass es sie beruhigen würde, wenn du ihr
ab und zu ein wenig helfen würdest. Nicht dass du versuchen
solltest, ihr ganz allein etwas vollkommen Neues beizubringen.«
Dakons Miene wurde ernst.
»Meisterschüler sollen nicht unterrichten. Man betrachtet das als
einen Missbrauch der wechselseitigen Verpflichtungen von Magier und
Meisterschüler.«
Jayan nickte und hoffte, dass diese Geste wie eine
Zustimmung aussah und nicht wie eine Verpflichtung. Während sie
durch das Tor ritten, brach ihr Gespräch ab. Als sie ihren Weg dann
fortsetzten, sah Dakon Jayan erwartungsvoll an.
»Versprich mir, netter zu Tessia zu sein.«
Jayan unterdrückte den Drang, einen Seufzer der
Erleichterung auszustoßen. Es hätte schlimmer kommen können. Dakon
hätte ihn bitten können, einen Teil seiner Zeit zu opfern, um
Tessia beizustehen.
»Ich verspreche es«, sagte er. »Ich werde netter zu
ihr sein. Und versuchen, sie nicht ›nervös‹ zu machen, wie Ihr
sagt.«
»Gut.« Anscheinend zufrieden mit dieser Zusage, gab
Dakon Sleet die Sporen und trieb ihn zu einem Trab an. Während
Jayan seinem Meister hinterherblickte, ließ er sich den Seufzer
doch noch entschlüpfen. Dann verzog er das Gesicht und drängte
Ember, Dakon zu folgen.
Wenn ich so durchschaubar bin, dann muss ich
daran arbeiten, dies zu ändern. Vielleicht sollte ich Tessia als
eine Gelegenheit ansehen, auf diesem Gebiet ein wenig Erfahrung zu
sammeln. Schließlich könnte das, was hier in Mandry ein
geringfügiger Fehler ist, in Imardin eine fatale Schwäche
sein.
Er konnte ebenso gut versuchen, der Situation einen
Vorteil abzugewinnen. Es sah nicht so aus, als würde Dakon sie zu
einem anderen Magier schicken. Tessia würde bleiben, und er würde
sich einfach daran gewöhnen müssen.