![019](/epubstore/L/T-C-Link/Magie/OEBPS/cana_9783641027582_oeb_019_r1.jpg)
16
Von seiner Pritsche auf dem Heuboden des
Stalls aus konnte Hanara das Signallicht sehen. Es war während der
letzten drei Nächte immer wieder erschienen und hatte bald heller,
bald dunkler geflackert - in einem Muster, das zu lesen man alle
Sklaven lehrte. Es kam jedes Mal aus einer anderen Richtung, und
falls irgendjemand im Dorf etwas bemerkte und in der folgenden
Nacht an derselben Stelle nach dem Licht Ausschau hielt, würde er
es nicht sehen. Jedes Mal sandte es dieselbe Botschaft.
Berichte. Berichte.
Seit er das Licht zum ersten Mal gesehen hatte, war
Hanara in jedem wachen Augenblick krank vor Angst gewesen; er hatte
bei weitem zu viele wache Augenblicke gehabt und nicht annähernd
genug Schlaf. Es gab nur eine einzige Person im Dorf, für die diese
Nachricht bestimmt sein konnte: für ihn selbst. Und nur eine
einzige Person, die einen Bericht von ihm erwarten würde:
Takado.
Bisher hatte Hanara nicht gehorcht. Drei Nächte
lang hatte er sich auf der Pritsche zusammengerollt, außerstande zu
schlafen, bis die Erschöpfung ihn übermannte. Er hatte versucht, so
zu tun, als habe er das Signal nicht gesehen oder wisse nicht, was
er davon halten sollte.
Aber ich habe es gesehen, und ich
weiß, was es bedeutet. Wenn Takado meine Gedanken liest, wird er
erfahren, dass ich ihm den Gehorsam verweigert habe.
Takado hatte kein Recht mehr, ihn
herumzukommandieren, rief er sich ins Gedächtnis. Er war ein freier
Mann. Er diente jetzt Lord Dakon.
Aber Lord Dakon ist nicht hier. Er kann Takado
nicht daran hindern, mich zu holen.
Es war möglich, dass Takado das Ausbleiben einer
Antwort auf sein Signal dahingehend deuten würde, dass Hanara
tatsächlich befreit worden war. Oder das Dorf verlassen hatte. Er
würde vielleicht aufgeben und fortgehen.
Hanara hätte um ein Haar laut aufgelacht.
Was wird er dann tun? fragte er sich.
Takado schätzte es nicht, Magie zu vergeuden, daher
würde er versuchen, einen Konflikt zu vermeiden. Er würde mit der
Absicht, Lord Dakon zu bitten, ihm Hanara zurückzugeben, ins Dorf
kommen.
Lord Dakon würde sagen, dass es an Hanara sei,
diese Entscheidung zu treffen. Es war nur allzu leicht, sich diesen
Augenblick vorzustellen. Takado würde Hanara ansehen. Lord Dakon
würde das Gleiche tun. Genau wie alle anderen im Dorf. Sie würden
alle wissen, dass eine Weigerung Hanaras schreckliche Konsequenzen
nach sich ziehen musste. Wenn Takado das Dorf angriff und
irgendjemand dabei starb, würden alle Hanara die Schuld
geben.
Aber Lord Dakon war nicht im Dorf. Er würde nicht
erscheinen, um Takado entgegenzutreten. Wenn Takado begriff, dass
kein Magier da war, der Mandryn schützte, was würde er tun?
Er wird mich töten, weil ich ihm nicht gehorcht
habe.
Würde er dann fortgehen? Oder würde er, nachdem er
bereits einen von Lord Dakons Leuten getötet hatte, auch die
Dorfbewohner angreifen? Es war möglich, dass die Dorfbewohner trotz
ihrer Abneigung gegen Hanara versuchen würden, ihn um Lord Dakons
willen zu schützen. Wenn sie es taten, würden sie sterben.
Ich habe nur eine einzige Alternative: Ich muss
zu Takado gehen.
Dann würde Takado seine Gedanken lesen und
erfahren, dass Lord Dakon fort war. Würde er das Dorf trotzdem
angreifen? Nicht, wenn er einen Konflikt vermeiden wollte.
Außerdem wird er aus meinen Gedanken auch
erfahren, dass ein anderer Magier in der Nähe ist und bereit,
Mandryn falls nötig zu verteidigen.
Hanara brachte ein Lächeln zustande, das jedoch
schnell verblasste. Das Problem war, dass Takado dies nur erfahren
würde, wenn er Hanaras Gedanken las. Die einzige Information, die
Takado davon abbringen konnte, ins Dorf zu kommen, um Hanara
zurückzuholen, war auch die einzige Information, die er nur von
Hanara erhalten konnte.
Das stimmt nicht ganz. Er könnte es von anderen
Dorfbewohnern erfahren, falls er Grund hätte, mit ihnen zu reden
oder ihre Gedanken zu lesen.
Aber Takado würde sich niemals dazu herablassen,
mit Vertretern des gemeinen Volkes zu reden, und sollte er die
Gedanken eines der Menschen hier lesen, würde man das als
kriegerischen Akt ansehen. Das würde er nur dann tun, wenn er
beschlossen hatte, das Dorf anzugreifen, und in diesem Fall würde
er schnell handeln und keine Zeit mit dem Lesen von Gedanken
verschwenden. Hanara seufzte und widerstand dem Drang, sich
aufzurichten und durch das Fenster des Heubodens zu schauen, um
festzustellen, ob das Signal noch immer in der Ferne blinkte.
Hat außer mir noch jemand etwas
bemerkt?
Er hatte weder die Männer in den Ställen noch die
Leute im Dorf darüber sprechen hören. Wenn sie das Signal gesehen
hätten, wäre irgendjemand der Sache gewiss nachgegangen. Sie würden
Takado nur dann finden, wenn er gefunden werden wollte. Wenn sie
nichts entdeckten, würden sie diesem anderen Magier, der Mandryn
schützen sollte, dann überhaupt eine Warnung schicken? Wo ist
dieser andere Magier überhaupt? Das Signal kam von den Hügeln rund
um das Dorf. Nach dem, was Hanara während Takados Reisen
gelernt hatte, waren Dörfern in den äußeren Lehen für gewöhnlich
eine Tagesreise
voneinander entfernt. Abgesehen von den Dörfern gab es nur hie und
da kleine Bauernhäuser und Hütten.
Er bezweifelte, dass dieser andere Magier in einem
Bauernhaus lebte. Wo lebte er dann? Und falls Mandryn angegriffen
wurde, wie lange würde es dauern, bis er eintraf?
Es musste eine Möglichkeit geben, das
herauszufinden. Er ging zum Rand des Heubodens und blickte in die
Ställe hinab. Eine Lampe stand auf einem Tisch, an dem die Diener
gespielt hatten. Die Männer waren fort, und ihr Spiel war
unvollendet geblieben.
Irgendwo hinter den Ställen konnte er leise Stimmen
hören.
»Hanar!«
Er zuckte zusammen und schaute zu den Stalltüren,
in denen der Stallmeister stand.
»Komm herunter«, befahl Ravern.
Hanara holte tief Luft, um sich zu beruhigen, dann
stand er auf, klopfte sich Stroh von den Kleidern und kletterte die
Leiter zum Stall hinunter. Er folgte dem Stallmeister ins Freie.
Ravern führte ihn hinter das Gebäude, wo drei vertraute Gestalten
standen, die beiden Stalljungen und Keron, der Dienstbotenmeister.
Ihre Aufmerksamkeit war auf etwas jenseits der Ställe
gerichtet.
Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm klar
wurde, dass sie das Signal betrachteten.
Keron drehte sich zu ihm um. Es war zu dunkel, als
dass Hanara den Gesichtsausdruck des Mannes hätte erkennen können.
Er hob einen Arm und deutete mit dem Finger auf das Signal.
»Was denkst du, Hanar? Weißt du, was das
ist?«
Der Tonfall des Dienstbotenmeisters war freundlich,
aber es lag ein Anflug von Sorge darin.
Hanara drehte sich um, um das Signal zu
betrachten.
Berichte. Berichte.
Wenn er ihnen sagte, was es bedeutete, würden sie
nach dem anderen Magier schicken. Aber wenn sie das Signal auch in
den anderen Nächten gesehen hatten, würden sie sich vielleicht
fragen, warum er es ihnen nicht früher erzählt hatte. Sie würden
vielleicht wütend werden und ihn aus dem Dorf jagen.
Sie waren bereits besorgt. Wenn man sie ein wenig
ermunterte, würden sie vielleicht trotzdem nach dem Magier
schicken.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ist das nicht
normal?«
Stille folgte, dann seufzte Keron. »Nein. Nicht
normal.« An die anderen gewandt sagte er: »Jemand sollte
nachsehen.«
Ein längeres Schweigen. Hanara konnte genug
erkennen, um zu sehen, dass die beiden Jungen einen Blick
tauschten. Der Stallmeister seufzte abermals. »Dann morgen
früh.«
Narren, dachte Hanara. Feiglinge. Sie
haben zu große Angst, um etwas zu unternehmen. Sie werden so tun,
als gäbe es das Licht nicht, und hoffen, dass es
verschwindet.
Sie würden den anderen Magier nicht herholen, wenn
sie sich nicht sicher waren, dass sie es tun mussten. Das Problem
war, sobald sie wussten, dass Takado hier war und eine Gefahr
darstellte, würde nur wenig Zeit bleiben, um den anderen Magier um
Hilfe zu bitten. Gab es eine Möglichkeit, wie er sie davon
überzeugen konnte, Hilfe zu suchen, ohne dass sie über Takado
stolperten? Vielleicht gab es tatsächlich eine solche
Möglichkeit.
»Besteht Gefahr?«, fragte er den Stallmeister mit
leiser Stimme.
»Ich weiß es nicht«, gab der Mann zu.
»Du hast gesagt, ein anderer Magier würde herkommen
und uns schützen. Würde er wissen, ob es sich um etwas Schlimmes
handelt?«
Der Mann sah ihn an, dann nickte er kurz. »Ja. Mach
dir deswegen keine Sorgen. Geh und sieh zu, dass du ein wenig
Schlaf bekommst.«
Als er davonging, fing er Bruchstücke eines
Gesprächs auf. Einer der jungen Arbeiter protestierte. Hanara stieg
wieder auf den Heuboden und lauschte aufmerksam. Und tatsächlich,
als der Mann zurückkehrte, wurde ein Pferd herbeigebracht und
gesattelt.
»Es ist dunkel, also reite nicht zu schnell, aber
der Mond wird bald aufgehen, und dann kannst du an Tempo zulegen«,
riet der Stallmeister. Ȇberbringe die Nachricht und komm sofort
zurück. Lord Narvelan wird dir ein frisches Pferd geben. Ich
erwarte dich morgen Abend zurück.«
Hanaras Herz erstarrte. Morgen Abend? Der andere
Magier musste einen vollen Tagesritt entfernt von Mandryn
leben!
Takado war viel näher. Sehr viel näher.
Als das Hufgeklapper des galoppierenden Pferdes in
der Ferne verklang, rollte Hanara sich auf den Rücken. Sein Herz
raste. Dies ändert alles! Wusste Takado, dass der einzige
andere Magier in der Nähe einen vollen Tagesritt entfernt lebte?
Wahrscheinlich weiß er es, dachte Hanara, während seiner
Reise hierher hat er auf solche Einzelheiten geachtet.
Wahrscheinlich hat er sich genau eingeprägt, wo alle kyralischen
Magier leben.
Also war das Einzige, das ihn davon abhielt, nach
Mandryn zu kommen und Hanara zu töten oder zurückzuholen, die
Annahme, dass Lord Dakon hier war.
Irgendwann würde er begreifen, dass dies nicht
zutraf. Hanara konnte nur hoffen, dass es nicht geschah, bevor der
andere Magier eintraf oder Lord Dakon zurückkehrte. Oder er konnte
das Haus verlassen und zu Takado gehen. Wenn er freiwillig kam,
würde Takado ihn vielleicht nicht töten.
Und doch konnte Hanara sich nicht dazu überwinden,
diesen Schritt zu tun. Noch konnte er die Hoffnung nicht aufgeben,
dass er, wenn er noch ein Weilchen wartete, Takado vielleicht nicht
gegenübertreten musste. Schließlich bestand immer noch die Gefahr,
dass Takado ihn in jedem Fall töten würde, weil er sein Signal so
lange ignoriert hatte.
Ein Geräusch unter ihm erregte seine
Aufmerksamkeit. Er rollt sich auf die Seite und blickte nach unten.
Ravern stand, die Arme vor der Brust verschränkt, da. Der andere
junge Stalldiener kam aus einer leeren Box. Beide Männer starrten
ein heftig schwitzendes Pferd an, das vor dem Gebäude auf und ab
lief. Das Pferd, das der Bote geritten hatte, war zurückgekehrt.
Ohne Reiter.
Entsetzen bemächtigte sich Hanara, und er keuchte.
Er ist
hier. Takado ist hier. Und jetzt weiß er alles! Er hörte kaum,
dass der Stallmeister befahl, zwei weitere Pferde zu satteln, wobei
er fluchte und vor sich hin brummte, dass der Bote wahrscheinlich
einfach vom Pferd gefallen sei. Er konnte sich nicht dazu
überwinden, die Männer zu beobachten, wie sie sich mit nutzlosen
Waffen ausrüsteten und aufbrachen.
Aber sobald sie fort waren, kletterte er zitternd
die Leiter hinunter und schlüpfte in die Nacht hinaus. Er sagte
sich, dass er fortging, um das Dorf zu retten, aber er wusste mit
vertrauter Gewissheit, dass er nur fortging, um sich selbst zu
retten.
Es hatte Tessia überrascht und beeindruckt zu
hören, dass Everran und Avaria zwei Wagen besaßen, einen für
alltägliche Zwecke und einen eigens für Besuche im Königspalast. Da
der Weg zum Palast nicht weit war, schien es ihr verschwenderisch,
eigens dafür einen Wagen zu halten.
Aber sie musste zugeben, dass der Palastwagen
aufsehenerregend war, und wenn man ihn für gewöhnliche Fahrten
benutzt hätte, bei denen man mit anderen Wagen zusammenstieß,
würden ständige Reparaturen notwendig werden. Das auf Hochglanz
polierte Holz mit goldenen Beschlägen und eine Plane aus feinem
Leder, in die das Familienwappen eingeprägt war - eine
wiederbelebte, heraldische Mode aus Zeiten vor der sachakanischen
Invasion -, verkündeten allen Betrachtern, dass die Besitzer reich
und mächtig waren. Die vier uniformierten Wachen mit ihren
Peitschen machten ebenfalls klar, dass ein solcher Wagen nicht
aufgehalten werden sollte.
Im Wageninneren hielt ein winziges Kugellicht die
Kühle der Nachtluft fern und bot außerdem Beleuchtung. Everran und
Avaria saßen Dakon, Jayan und Tessia gegenüber. Sie alle trugen
prächtige Kleider nach der neuesten Mode: Everran ein langes
Übergewand im selben Stil, wie ihn Jayan und Dakon getragen hatten,
als Tessia mit ihrer Familie zum Abendessen ins Herrenhaus gekommen
war, angefertigt aus dem roten Tuch, das Avaria in der Straße der
Eitelkeit gekauft hatte. Avaria selbst trug ein purpurnes, in der
Taille gerafftes Kleid mit einem schmalen, tiefen Ausschnitt unter
dem geknöpften
Kragen, der skandalös freizügig gewesen wäre, wenn daraus nicht
statt nackten Fleisches sorgfältig drapiertes rotes Tuch
hervorgelugt hätte. Der Rock war außerdem an den Seiten geschlitzt
und enthüllte noch mehr von dem roten Tuch des Unterrocks.
Tessia trug ein gleichermaßen eng anliegendes Kleid
aus dem grünen Stoff, den ihre Gastgeberin für sie einige Tage
zuvor gekauft hatte. Zu ihrer Erleichterung war es vorne ganz
schlicht, und obwohl der Rock und die Ärmel durchaus Schlitze
aufwiesen, war das Tuch darunter von einem züchtigen Schwarz.
Dakon und Jayan trugen Übergewänder wie Everran,
aber in Schwarz und Dunkelblau. Daheim im Dorf war ihr diese Mode
extravagant und ein wenig töricht erschienen, aber jetzt wirkte sie
würdevoll und angemessen. Sie stand beiden Männern gut zu Gesicht,
befand sie, dann fragte sie sich, ob das bedeutete, dass sie für
das Leben in der Stadt besser geeignet waren als für das Leben in
Mandryn.
Das mag vielleicht für Jayan gelten, dachte
sie. Aber nicht für Dakon. Ihr Meister wirkte nicht
besonders entspannt. Die schwarze Kleidung und die Falte zwischen
seinen Brauen vermittelten den Eindruck geistesabwesender
Verstimmtheit. In Stadtkleidern wirkte Jayan selbstbewusster, und
sie konnte sogar erkennen, warum Avaria und ihre Freunde ihn für
gut aussehend hielten.
Als er ihren Blick spürte, wandte er sich zu ihr
um.
Nur weil ich zugeben kann, dass er gut aussieht,
bedeutet das nicht, dass er nicht auch aufreizend und arrogant
ist, rief sie sich ins Gedächtnis, hielt seinem Blick kühl
stand und schaute dann wieder weg.
Der Wagen verlangsamte das Tempo und blieb stehen.
Einer der Wachmänner öffnete den Wagenschlag.
»Lord Everran und Lady Avaria aus dem Geschlecht
Korin«, rief er.
Everran erhob sich von seinem Platz und stieg aus
dem Wagen. Avaria folgte ihm, wobei sie den Rock ihres Kleides
sorgfältig raffte, damit er sich nicht an irgendetwas verfing, ihre
Knöchel aber verborgen blieben. Als sein Name genannt
wurde, stand Dakon auf, gefolgt von Jayan. Tessia stieg als Letzte
aus. Da sie nicht an das Kleid gewöhnt war, ergriff sie dankbar
Dakons dargebotene Hand und brachte es fertig auszusteigen, ohne
allzu viel von ihren Knöcheln zu entblößen - zumindest hoffte sie
es. Anscheinend war es unzüchtig, die nackte Haut von Füßen oder
Beinen zu zeigen.
Als sie zu Avaria aufblickte, sah sie voller
Erleichterung, dass die Frau beifällig nickte. Dann drehte Tessia
sich um, um den Königspalast zu betrachten, und ihr blieb beinahe
die Luft weg.
Sie hatte schon früher hie und da einen Blick auf
den Palast erhascht, aber aus solcher Nähe hatte sie ihn noch nie
gesehen. Vor ihnen hing an gewaltigen Ketten ein riesiges Tor über
den Männern und Frauen, die in den Palast schlenderten. Zu beiden
Seiten des Tores erhoben sich zwei hohe Türme. In den schmalen
Fenstern und zwischen den Zinnen auf ihrem Dach brannten Lampen -
ebenso wie entlang der Mauern, die sich zu beiden Seiten
erstreckten.
Everran und Avaria schritten als Erste unter dem
hängenden Tor hindurch und über eine Brücke, die einen
wassergefüllten Graben zwischen der äußeren und einer inneren Mauer
überspannte. Auf dem Wasser spiegelten sich die vielen Lichter
wider. Durch die innere Mauer führte ein weiterer Durchgang, dessen
schwere Eisentore König Erriks Familienname und Wappen zierten. Sie
standen zu ihrem Empfang weit offen.
Durch diese Eisentore gelangten sie in die
Empfangshalle des Palastes, die der in Dakons Herrenhaus entsprach,
aber größer und prächtiger war. Diener empfingen die Besucher und
geleiteten sie durch einen überwölbten Durchgang zwischen den
Treppen zu beiden Seiten hindurch. Tessia bemerkte, dass diese
Treppen von frei stehenden Stellschirmen versperrt wurden, neben
denen je zwei Wachen standen.
Vor dem Torbogen nannte Everran dem Diener, der sie
begrüßte und anschließend hindurchwinkte, ihrer aller Namen. Als
sie in den Saal dahinter trat, setzte Tessias Herz einen Schlag
aus.
Sie hatte noch nie einen so großen Raum gesehen.
Darin
hätte das gesamte Herrenhaus Platz gefunden, vermutete sie.
Vielleicht zwei Herrenhäuser. Schlanke Steinsäulen in zwei Reihen
stützten die aus vielen Gewölben bestehende Decke. Anstelle von
Lampen erhellten schwebende magische Lichtkugeln den Saal.
Die Wände waren bedeckt mit gewaltigen Gemälden und
Wandbehängen, aber es waren die Menschen, die als Nächstes Tessias
Aufmerksamkeit erregten. Hunderte von Männern, Frauen und sogar
einige Kinder schlenderten umher, paarweise, in kleinen und
größeren Gruppen. Alle trugen modische, teure und in manchen Fällen
extravagante Kleidung. Juwelen glitzerten unter den Kugellichtern.
Sie folgte den anderen in den Saal. Es ist wie eine Landschaft
aus Menschen, dachte sie. Wenn man sich bewegt, ändert sich
die Perspektive und bietet ständig einen anderen Blick auf etwas,
das man zuvor noch nicht gesehen hat.
Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf
ging, änderte das Bild sich abermals, und ein gut gekleideter Mann
in Jayans Alter erschien, umringt von einem Halbkreis anderer
Männer. Ihre Begleiter blieben stehen, und sie stellte fest, dass
sie alle diese Gruppe anschauten.
»Das ist König Errik aus dem Geschlecht Kyran«,
murmelte Jayan ihr ins Ohr.
Sie nickte. Im nächsten Moment schaute der junge
Mann in ihre Richtung, ließ den Blick flüchtig über ihre Gesichter
gleiten und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die
Männer vor ihm.
»Nun, er hat uns gesehen«, bemerkte Everran, bevor
er sich an Dakon wandte. »Wenn er mit uns reden will, wird er uns
rufen lassen. In der Zwischenzeit sollten wir beide mit Lord
Olleran sprechen.«
Dakon nickte. Als er und Everran davongingen und
Jayan ihnen folgte, hakte Avaria sich bei Tessia unter.
»Sollen sie doch allein über Politik und Handel
reden«, flüsterte sie. »Ich habe gerade Kendaria entdeckt. Kommt
mit. Hier entlang.«
Tessia schluckte ihren Ärger und ihre Enttäuschung
hinunter.
Sie würde abermals von Dakons Angelegenheiten, worin immer diese
bestehen mochten, ausgeschlossen bleiben. Gewiss handelte es sich
um etwas, das für einen Magier wichtig und das sie daher wissen
sollte, wie langweilig es auch sein mochte. Außerdem würde Tessia
Dinge, die Avaria langweilten, vielleicht interessant finden. Oder
umgekehrt.
Kendaria beobachtete einen Akrobaten, der anmutige,
beeindruckende Verrenkungen vollführte. Der junge Mann trug lose
Hosen, die an der Taille und an den Knöcheln gerafft waren, aber
seine Brust war nackt und muskulös. Seine Darbietung erregte eine
Menge weiblicher Aufmerksamkeit, wie Tessia bemerkte. Kendaria
zwinkerte ihr zu.
»Ich hätte nichts dagegen, diesen Körper zu
sezieren«, murmelte sie. »Ich frage mich, ob seine Gelenke anders
wären als die einer gewöhnlichen Leiche. Sie sind so
biegsam.«
»Kendaria!«, schalt Avaria. »Sei nicht so
makaber!«
Aber Tessia konnte nicht umhin, den Akrobaten mit
anderen Augen zu sehen. Sie beobachtete, wie die Rippen sich gegen
die Haut des Mannes drückten, und sie fühlte sich daran erinnert,
wie das Innere einer Brusthöhle aussah - wo das Herz lag und wo die
schwammartige Masse der Lunge. Sie hatte so viel gelernt und
hoffte, dass Kendaria sie zu weiteren Obduktionen mitnehmen würde,
bevor Dakon Imardin verließ.
Aber Avaria war fest entschlossen, weitere makabere
Gespräche zu unterbinden, und schon bald gesellten sich Darya und
Zakia zu ihnen, und der übliche Klatsch folgte. Die Zeit verging
langsam. Während Tessia höflich zuhörte, bemerkte sie, dass der
gewaltige Saal sich weiter mit Menschen füllte. Der Lärm der
Stimmen nahm entsprechend zu, da die Menschen lauter sprechen
mussten, um sich über dem Getöse Gehör zu verschaffen. Der Akrobat
verschwand, und in der Nähe begann eine Frau zu singen, begleitet
von einem Mann, der die Saiten eines seltsamen, kastenförmigen
Instruments zupfte, das auf einem seiner Knie lag. Avarias
Freundinnen begannen mit einer genauen Erörterung der Kleidung, des
Schmucks und der romantischen Verwicklungen anderer Frauen. Tessia
lauschte einem Gespräch einiger Männer in der Nähe.
»... Heiler hat ihm gesagt, er solle aufhören, aber
er trinkt weiter, und das wird nur dazu führen, dass er...«
»... Sarin sagte, wir sollten unsere Preise
erhöhen, aber ich fürchte, das wird...«
»... Mandryn, denke ich, aber...«
Der Name ihres Dorfes erweckte ihre Aufmerksamkeit,
aber die folgende Bemerkung ging im Gelächter ihrer Gefährtinnen
unter. Sie rückte ein wenig weiter nach rechts, näher an den
Sprecher und seine Zuhörer heran.
»... tut mir leid um... Lehen an der Grenze. Würde
selbst nicht dort leben wollen.«
Die Antwort war unhörbar.
»Oh, natürlich. Irgendjemand muss es tun.
Anderenfalls würden diese blutdurstigen Sachakaner uns noch näher
kommen, nicht wahr? Trotzdem, vielleicht werden sie das bald tun,
wenn sich das, was wir gehört haben, als richtig erweist...«
Plötzlich wurde die Stimme des Mannes leiser,
sodass sie ihn nicht länger verstehen konnte. Dann bemerkte Tessia,
dass Bewegung in die Menge um sie herum gekommen war. Köpfe hatten
sich in eine bestimmte Richtung gedreht. Auf der Suche nach dem
Ursprung des Geschehens spähte sie über Avarias Schulter
hinweg.
Der König kam auf sie zu. Er blieb stehen, um mit
jemandem zu sprechen, dann lächelte er und ging weiter, den Blick
auf Avaria und die anderen Frauen geheftet.
Tessia beugte sich zu ihrer Gastgeberin vor.
»Lady Avaria«, murmelte sie. »Schaut einmal nach
links.«
Die Frau blickte müßig in diese Richtung, dann
drehte sie sich wieder zu Tessia um. »Der König?«
»Ja. Er kommt in unsere Richtung.«
»Das musste er irgendwann tun«, meinte Avaria
achselzuckend. »Wo wir doch eine attraktive junge Meisterschülerin
bei uns haben, die darauf wartet, ihn kennenzulernen.«
Tessias Herz machte einen Satz. »Ich bin nicht...«,
begann sie, brach dann jedoch wieder ab. Der König war jetzt so
nahe, dass er sie hören konnte. Er würde nicht meinetwegen
herkommen, sagte sie sich. Avaria macht sich über mich
lustig.
Er trat in den Kreis der Frauen. Für jede von ihnen
hatte er eine Frage, und häufig erkundigte er sich nach der
Gesundheit oder den Handelsgeschäften eines Verwandten. Als er
Tessia erreichte, wurde sein Lächeln breiter.
»Und Ihr müsst Meisterschülerin Tessia sein, Lord
Dakons neuer Schützling.«
»Ja, Euer Majestät«, antwortete sie, wobei sie sich
des Umstands bewusst war, dass die anderen Frauen sich abgewandt
hatten und zu zweit oder zu dritt davongingen. Selbst Avaria. Hatte
der König irgendein Zeichen gegeben, dass er unter vier Augen mit
ihr sprechen wollte?
Er beobachtete sie mit wachem Blick. Ich hoffe,
ich sage nichts Falsches oder tue irgendetwas, das gegen das
Protokoll verstößt. »Ihr seid ein Naturtalent, ist das
richtig?«
Sie nickte. »Ja.«
»Es muss ein wenig beängstigend sein und Euch
vielleicht unglücklich erscheinen, Eure Gabe zu einer solchen Zeit
und an einem solchen Ort zu entdecken.«
Tessia runzelte die Stirn. Nahm er Bezug auf ihren
Wunsch, Heilerin zu werden? Gewiss hatte er nichts von dem
Zwischenfall mit Takado gehört... nein, das hätte Dakon ihm nicht
erzählt.
»Nein«, sagte sie langsam. »Nun, es war durchaus
erschreckend, als es geschehen ist. Ich wusste nicht, was ich getan
hatte. Aber später war es... aufregend, das muss ich
zugeben.«
Er hielt inne, und eine Falte erschien zwischen
seinen Brauen, die wieder verschwand, als er abermals lächelte.
»Ihr sprecht von dem ersten Mal, da Ihr Eure Macht benutzt habt,
nicht davon, dass Ihr so nahe bei der Grenze lebt?«
»Ja... aber ich nehme an, es war immer ein wenig...
beunruhigend, in der Nähe der Grenze zu leben. Es sei denn...« Ihr
Herz setzte einen Schlag aus. »Gibt es einen besonderen Grund,
warum wir gerade jetzt besorgt sein sollten, Euer Majestät?«
Er blinzelte, dann trat ein Ausdruck des Begreifens
in seine Züge. »Ah. Ich muss mich entschuldigen. Ich hatte nicht
vor, etwas Derartiges anzudeuten. Für jene von uns, die in der
Stadt wohnen, wirkt die Vorstellung, an der Grenze zu Sachaka zu
leben, immer beängstigend, aber Ihr müsst daran gewöhnt
sein.«
Sein Tonfall war besänftigend, und sie wusste
plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass er etwas verbarg.
»Ist es wahrscheinlich, dass Sachaka uns angreifen
wird?«, fragte sie unumwunden. Und bedauerte es sofort, da er
bestürzt wirkte. Sie begann, sich zu entschuldigen.
»Nicht«, fiel er ihr ins Wort. »Ich bin derjenige,
der sich bei Euch entschuldigen sollte. Ich hätte besser achtgeben
sollen, Euch nicht zu beunruhigen.« Er trat neben sie, griff nach
ihrem Arm und führte sie langsam durch den Raum. »Es hat Gerüchte
gegeben«, erklärte er leise. »Eine mögliche Bedrohung betreffend.
Zweifellos werdet Ihr davon hören, ob ich es Euch erzähle oder
nicht; es ist kaum ein Geheimnis hier. Aber habt keine Furcht. Auf
der anderen Seite der Grenze stehen keine großen Armeen bereit. Die
Befürchtung ist die, dass einige missgestimmte sachakanische Magier
beschließen könnten, dem Kaiser Ärger zu machen.«
»Oh«, sagte sie und blickte ihn an. Selbst einige
wenige sachakanische Magier konnten in einem Dorf wie Mandryn
großen Schaden anrichten - vor allem jetzt, da Dakon nicht dort
war. »Ist mein Dorf sicher? Meine Familie?«
Er sah ihr in die Augen, und sein eigener
Gesichtsausdruck war wachsam und suchend. Dann wurde seine Miene
weicher, und er lächelte.
»Es droht keine Gefahr. Das versichere ich
Euch.«
Sie holte tief Luft und stieß den Atem langsam
wieder aus, während sie ihrem Herzen den Befehl gab, nicht länger
zu rasen.
»Das ist eine Erleichterung, Euer Majestät«, sagte
sie.
Er lachte leise. »Ja, das ist es. Es tut mir leid,
dass ich Euch mit all diesem Tratsch erschreckt habe. Ich fürchte,
jene von uns, die zu viel Zeit in der Stadt verbringen, neigen
dazu, zu viel zu tratschen, ohne an die Konsequenzen zu denken, und
selbst ich erliege dieser Angewohnheit von Zeit zu Zeit.«
Sie lächelte über sein Eingeständnis. »Lady Avaria
hat mich gewarnt, dass ich den städtischen Klatsch nicht zu ernst
nehmen solle, aber Klatsch und Gerüchte sind verschiedene
Dinge.«
Er lachte und drehte sich zu ihr um. »Das sind sie
in der Tat. Und nun möchte ich Euch bitten, Lord Dakon etwas von
mir auszurichten.« Seine Miene wurde ernst. »Sagt ihm, er solle
sich morgen eine Stunde nach Mittag zu einem Treffen auf dem
Übungsplatz einfinden.«
Sie nickte. »Übungsplatz. Eine Stunde nach Mittag«,
wiederholte sie.
Er verneigte sich, und sie reagierte verspätet mit
dem weiblichen Knicks, den Avaria sie gelehrt hatte, eine Hand
bescheiden auf die Brust gedrückt. »Es war mir ein Vergnügen, Euch
kennenzulernen, Meisterschülerin Tessia. Ich hoffe, es wird nicht
lange dauern, bis Ihr Imardin wieder einmal besucht.«
»Es ist mir eine Ehre und eine Freude, Euch
kennengelernt zu haben, Euer Majestät«, erwiderte sie.
Er lächelte, dann wandte er sich ab. Während er
durch den Raum ging, kam ein uniformierter Mann auf ihn zu.
»Wie ist es gelaufen?«, erklang eine vertraute,
atemlose Stimme neben ihr.
Tessia drehte sich zu Avaria um. »Gut. Denke ich.
Vielleicht. Ich habe eine Nachricht für Lord Dakon.«
Die Frau nickte und lächelte. »Dann sollten wir sie
ihm besser überbringen... diskret, wenn es sich einrichten
lässt.«