019
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Von seiner Pritsche auf dem Heuboden des Stalls aus konnte Hanara das Signallicht sehen. Es war während der letzten drei Nächte immer wieder erschienen und hatte bald heller, bald dunkler geflackert - in einem Muster, das zu lesen man alle Sklaven lehrte. Es kam jedes Mal aus einer anderen Richtung, und falls irgendjemand im Dorf etwas bemerkte und in der folgenden Nacht an derselben Stelle nach dem Licht Ausschau hielt, würde er es nicht sehen. Jedes Mal sandte es dieselbe Botschaft.
Berichte. Berichte.
Seit er das Licht zum ersten Mal gesehen hatte, war Hanara in jedem wachen Augenblick krank vor Angst gewesen; er hatte bei weitem zu viele wache Augenblicke gehabt und nicht annähernd genug Schlaf. Es gab nur eine einzige Person im Dorf, für die diese Nachricht bestimmt sein konnte: für ihn selbst. Und nur eine einzige Person, die einen Bericht von ihm erwarten würde: Takado.
Bisher hatte Hanara nicht gehorcht. Drei Nächte lang hatte er sich auf der Pritsche zusammengerollt, außerstande zu schlafen, bis die Erschöpfung ihn übermannte. Er hatte versucht, so zu tun, als habe er das Signal nicht gesehen oder wisse nicht, was er davon halten sollte.
Aber ich habe es gesehen, und ich weiß, was es bedeutet. Wenn Takado meine Gedanken liest, wird er erfahren, dass ich ihm den Gehorsam verweigert habe.
Takado hatte kein Recht mehr, ihn herumzukommandieren, rief er sich ins Gedächtnis. Er war ein freier Mann. Er diente jetzt Lord Dakon.
Aber Lord Dakon ist nicht hier. Er kann Takado nicht daran hindern, mich zu holen.
Es war möglich, dass Takado das Ausbleiben einer Antwort auf sein Signal dahingehend deuten würde, dass Hanara tatsächlich befreit worden war. Oder das Dorf verlassen hatte. Er würde vielleicht aufgeben und fortgehen.
Hanara hätte um ein Haar laut aufgelacht.
Was wird er dann tun? fragte er sich.
Takado schätzte es nicht, Magie zu vergeuden, daher würde er versuchen, einen Konflikt zu vermeiden. Er würde mit der Absicht, Lord Dakon zu bitten, ihm Hanara zurückzugeben, ins Dorf kommen.
Lord Dakon würde sagen, dass es an Hanara sei, diese Entscheidung zu treffen. Es war nur allzu leicht, sich diesen Augenblick vorzustellen. Takado würde Hanara ansehen. Lord Dakon würde das Gleiche tun. Genau wie alle anderen im Dorf. Sie würden alle wissen, dass eine Weigerung Hanaras schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen musste. Wenn Takado das Dorf angriff und irgendjemand dabei starb, würden alle Hanara die Schuld geben.
Aber Lord Dakon war nicht im Dorf. Er würde nicht erscheinen, um Takado entgegenzutreten. Wenn Takado begriff, dass kein Magier da war, der Mandryn schützte, was würde er tun?
Er wird mich töten, weil ich ihm nicht gehorcht habe.
Würde er dann fortgehen? Oder würde er, nachdem er bereits einen von Lord Dakons Leuten getötet hatte, auch die Dorfbewohner angreifen? Es war möglich, dass die Dorfbewohner trotz ihrer Abneigung gegen Hanara versuchen würden, ihn um Lord Dakons willen zu schützen. Wenn sie es taten, würden sie sterben.
Ich habe nur eine einzige Alternative: Ich muss zu Takado gehen.
Dann würde Takado seine Gedanken lesen und erfahren, dass Lord Dakon fort war. Würde er das Dorf trotzdem angreifen? Nicht, wenn er einen Konflikt vermeiden wollte.
Außerdem wird er aus meinen Gedanken auch erfahren, dass ein anderer Magier in der Nähe ist und bereit, Mandryn falls nötig zu verteidigen.
Hanara brachte ein Lächeln zustande, das jedoch schnell verblasste. Das Problem war, dass Takado dies nur erfahren würde, wenn er Hanaras Gedanken las. Die einzige Information, die Takado davon abbringen konnte, ins Dorf zu kommen, um Hanara zurückzuholen, war auch die einzige Information, die er nur von Hanara erhalten konnte.
Das stimmt nicht ganz. Er könnte es von anderen Dorfbewohnern erfahren, falls er Grund hätte, mit ihnen zu reden oder ihre Gedanken zu lesen.
Aber Takado würde sich niemals dazu herablassen, mit Vertretern des gemeinen Volkes zu reden, und sollte er die Gedanken eines der Menschen hier lesen, würde man das als kriegerischen Akt ansehen. Das würde er nur dann tun, wenn er beschlossen hatte, das Dorf anzugreifen, und in diesem Fall würde er schnell handeln und keine Zeit mit dem Lesen von Gedanken verschwenden. Hanara seufzte und widerstand dem Drang, sich aufzurichten und durch das Fenster des Heubodens zu schauen, um festzustellen, ob das Signal noch immer in der Ferne blinkte.
Hat außer mir noch jemand etwas bemerkt?
Er hatte weder die Männer in den Ställen noch die Leute im Dorf darüber sprechen hören. Wenn sie das Signal gesehen hätten, wäre irgendjemand der Sache gewiss nachgegangen. Sie würden Takado nur dann finden, wenn er gefunden werden wollte. Wenn sie nichts entdeckten, würden sie diesem anderen Magier, der Mandryn schützen sollte, dann überhaupt eine Warnung schicken? Wo ist dieser andere Magier überhaupt? Das Signal kam von den Hügeln rund um das Dorf. Nach dem, was Hanara während Takados Reisen gelernt hatte, waren Dörfern in den äußeren Lehen für gewöhnlich eine Tagesreise voneinander entfernt. Abgesehen von den Dörfern gab es nur hie und da kleine Bauernhäuser und Hütten.
Er bezweifelte, dass dieser andere Magier in einem Bauernhaus lebte. Wo lebte er dann? Und falls Mandryn angegriffen wurde, wie lange würde es dauern, bis er eintraf?
Es musste eine Möglichkeit geben, das herauszufinden. Er ging zum Rand des Heubodens und blickte in die Ställe hinab. Eine Lampe stand auf einem Tisch, an dem die Diener gespielt hatten. Die Männer waren fort, und ihr Spiel war unvollendet geblieben.
Irgendwo hinter den Ställen konnte er leise Stimmen hören.
»Hanar!«
Er zuckte zusammen und schaute zu den Stalltüren, in denen der Stallmeister stand.
»Komm herunter«, befahl Ravern.
Hanara holte tief Luft, um sich zu beruhigen, dann stand er auf, klopfte sich Stroh von den Kleidern und kletterte die Leiter zum Stall hinunter. Er folgte dem Stallmeister ins Freie. Ravern führte ihn hinter das Gebäude, wo drei vertraute Gestalten standen, die beiden Stalljungen und Keron, der Dienstbotenmeister. Ihre Aufmerksamkeit war auf etwas jenseits der Ställe gerichtet.
Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm klar wurde, dass sie das Signal betrachteten.
Keron drehte sich zu ihm um. Es war zu dunkel, als dass Hanara den Gesichtsausdruck des Mannes hätte erkennen können. Er hob einen Arm und deutete mit dem Finger auf das Signal.
»Was denkst du, Hanar? Weißt du, was das ist?«
Der Tonfall des Dienstbotenmeisters war freundlich, aber es lag ein Anflug von Sorge darin.
Hanara drehte sich um, um das Signal zu betrachten.
Berichte. Berichte.
Wenn er ihnen sagte, was es bedeutete, würden sie nach dem anderen Magier schicken. Aber wenn sie das Signal auch in den anderen Nächten gesehen hatten, würden sie sich vielleicht fragen, warum er es ihnen nicht früher erzählt hatte. Sie würden vielleicht wütend werden und ihn aus dem Dorf jagen.
Sie waren bereits besorgt. Wenn man sie ein wenig ermunterte, würden sie vielleicht trotzdem nach dem Magier schicken.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ist das nicht normal?«
Stille folgte, dann seufzte Keron. »Nein. Nicht normal.« An die anderen gewandt sagte er: »Jemand sollte nachsehen.«
Ein längeres Schweigen. Hanara konnte genug erkennen, um zu sehen, dass die beiden Jungen einen Blick tauschten. Der Stallmeister seufzte abermals. »Dann morgen früh.«
Narren, dachte Hanara. Feiglinge. Sie haben zu große Angst, um etwas zu unternehmen. Sie werden so tun, als gäbe es das Licht nicht, und hoffen, dass es verschwindet.
Sie würden den anderen Magier nicht herholen, wenn sie sich nicht sicher waren, dass sie es tun mussten. Das Problem war, sobald sie wussten, dass Takado hier war und eine Gefahr darstellte, würde nur wenig Zeit bleiben, um den anderen Magier um Hilfe zu bitten. Gab es eine Möglichkeit, wie er sie davon überzeugen konnte, Hilfe zu suchen, ohne dass sie über Takado stolperten? Vielleicht gab es tatsächlich eine solche Möglichkeit.
»Besteht Gefahr?«, fragte er den Stallmeister mit leiser Stimme.
»Ich weiß es nicht«, gab der Mann zu.
»Du hast gesagt, ein anderer Magier würde herkommen und uns schützen. Würde er wissen, ob es sich um etwas Schlimmes handelt?«
Der Mann sah ihn an, dann nickte er kurz. »Ja. Mach dir deswegen keine Sorgen. Geh und sieh zu, dass du ein wenig Schlaf bekommst.«
Als er davonging, fing er Bruchstücke eines Gesprächs auf. Einer der jungen Arbeiter protestierte. Hanara stieg wieder auf den Heuboden und lauschte aufmerksam. Und tatsächlich, als der Mann zurückkehrte, wurde ein Pferd herbeigebracht und gesattelt.
»Es ist dunkel, also reite nicht zu schnell, aber der Mond wird bald aufgehen, und dann kannst du an Tempo zulegen«, riet der Stallmeister. »Überbringe die Nachricht und komm sofort zurück. Lord Narvelan wird dir ein frisches Pferd geben. Ich erwarte dich morgen Abend zurück.«
Hanaras Herz erstarrte. Morgen Abend? Der andere Magier musste einen vollen Tagesritt entfernt von Mandryn leben!
Takado war viel näher. Sehr viel näher.
Als das Hufgeklapper des galoppierenden Pferdes in der Ferne verklang, rollte Hanara sich auf den Rücken. Sein Herz raste. Dies ändert alles! Wusste Takado, dass der einzige andere Magier in der Nähe einen vollen Tagesritt entfernt lebte? Wahrscheinlich weiß er es, dachte Hanara, während seiner Reise hierher hat er auf solche Einzelheiten geachtet. Wahrscheinlich hat er sich genau eingeprägt, wo alle kyralischen Magier leben.
Also war das Einzige, das ihn davon abhielt, nach Mandryn zu kommen und Hanara zu töten oder zurückzuholen, die Annahme, dass Lord Dakon hier war.
Irgendwann würde er begreifen, dass dies nicht zutraf. Hanara konnte nur hoffen, dass es nicht geschah, bevor der andere Magier eintraf oder Lord Dakon zurückkehrte. Oder er konnte das Haus verlassen und zu Takado gehen. Wenn er freiwillig kam, würde Takado ihn vielleicht nicht töten.
Und doch konnte Hanara sich nicht dazu überwinden, diesen Schritt zu tun. Noch konnte er die Hoffnung nicht aufgeben, dass er, wenn er noch ein Weilchen wartete, Takado vielleicht nicht gegenübertreten musste. Schließlich bestand immer noch die Gefahr, dass Takado ihn in jedem Fall töten würde, weil er sein Signal so lange ignoriert hatte.
Ein Geräusch unter ihm erregte seine Aufmerksamkeit. Er rollt sich auf die Seite und blickte nach unten. Ravern stand, die Arme vor der Brust verschränkt, da. Der andere junge Stalldiener kam aus einer leeren Box. Beide Männer starrten ein heftig schwitzendes Pferd an, das vor dem Gebäude auf und ab lief. Das Pferd, das der Bote geritten hatte, war zurückgekehrt. Ohne Reiter.
Entsetzen bemächtigte sich Hanara, und er keuchte. Er ist hier. Takado ist hier. Und jetzt weiß er alles! Er hörte kaum, dass der Stallmeister befahl, zwei weitere Pferde zu satteln, wobei er fluchte und vor sich hin brummte, dass der Bote wahrscheinlich einfach vom Pferd gefallen sei. Er konnte sich nicht dazu überwinden, die Männer zu beobachten, wie sie sich mit nutzlosen Waffen ausrüsteten und aufbrachen.
Aber sobald sie fort waren, kletterte er zitternd die Leiter hinunter und schlüpfte in die Nacht hinaus. Er sagte sich, dass er fortging, um das Dorf zu retten, aber er wusste mit vertrauter Gewissheit, dass er nur fortging, um sich selbst zu retten.
 
Es hatte Tessia überrascht und beeindruckt zu hören, dass Everran und Avaria zwei Wagen besaßen, einen für alltägliche Zwecke und einen eigens für Besuche im Königspalast. Da der Weg zum Palast nicht weit war, schien es ihr verschwenderisch, eigens dafür einen Wagen zu halten.
Aber sie musste zugeben, dass der Palastwagen aufsehenerregend war, und wenn man ihn für gewöhnliche Fahrten benutzt hätte, bei denen man mit anderen Wagen zusammenstieß, würden ständige Reparaturen notwendig werden. Das auf Hochglanz polierte Holz mit goldenen Beschlägen und eine Plane aus feinem Leder, in die das Familienwappen eingeprägt war - eine wiederbelebte, heraldische Mode aus Zeiten vor der sachakanischen Invasion -, verkündeten allen Betrachtern, dass die Besitzer reich und mächtig waren. Die vier uniformierten Wachen mit ihren Peitschen machten ebenfalls klar, dass ein solcher Wagen nicht aufgehalten werden sollte.
Im Wageninneren hielt ein winziges Kugellicht die Kühle der Nachtluft fern und bot außerdem Beleuchtung. Everran und Avaria saßen Dakon, Jayan und Tessia gegenüber. Sie alle trugen prächtige Kleider nach der neuesten Mode: Everran ein langes Übergewand im selben Stil, wie ihn Jayan und Dakon getragen hatten, als Tessia mit ihrer Familie zum Abendessen ins Herrenhaus gekommen war, angefertigt aus dem roten Tuch, das Avaria in der Straße der Eitelkeit gekauft hatte. Avaria selbst trug ein purpurnes, in der Taille gerafftes Kleid mit einem schmalen, tiefen Ausschnitt unter dem geknöpften Kragen, der skandalös freizügig gewesen wäre, wenn daraus nicht statt nackten Fleisches sorgfältig drapiertes rotes Tuch hervorgelugt hätte. Der Rock war außerdem an den Seiten geschlitzt und enthüllte noch mehr von dem roten Tuch des Unterrocks.
Tessia trug ein gleichermaßen eng anliegendes Kleid aus dem grünen Stoff, den ihre Gastgeberin für sie einige Tage zuvor gekauft hatte. Zu ihrer Erleichterung war es vorne ganz schlicht, und obwohl der Rock und die Ärmel durchaus Schlitze aufwiesen, war das Tuch darunter von einem züchtigen Schwarz.
Dakon und Jayan trugen Übergewänder wie Everran, aber in Schwarz und Dunkelblau. Daheim im Dorf war ihr diese Mode extravagant und ein wenig töricht erschienen, aber jetzt wirkte sie würdevoll und angemessen. Sie stand beiden Männern gut zu Gesicht, befand sie, dann fragte sie sich, ob das bedeutete, dass sie für das Leben in der Stadt besser geeignet waren als für das Leben in Mandryn.
Das mag vielleicht für Jayan gelten, dachte sie. Aber nicht für Dakon. Ihr Meister wirkte nicht besonders entspannt. Die schwarze Kleidung und die Falte zwischen seinen Brauen vermittelten den Eindruck geistesabwesender Verstimmtheit. In Stadtkleidern wirkte Jayan selbstbewusster, und sie konnte sogar erkennen, warum Avaria und ihre Freunde ihn für gut aussehend hielten.
Als er ihren Blick spürte, wandte er sich zu ihr um.
Nur weil ich zugeben kann, dass er gut aussieht, bedeutet das nicht, dass er nicht auch aufreizend und arrogant ist, rief sie sich ins Gedächtnis, hielt seinem Blick kühl stand und schaute dann wieder weg.
Der Wagen verlangsamte das Tempo und blieb stehen. Einer der Wachmänner öffnete den Wagenschlag.
»Lord Everran und Lady Avaria aus dem Geschlecht Korin«, rief er.
Everran erhob sich von seinem Platz und stieg aus dem Wagen. Avaria folgte ihm, wobei sie den Rock ihres Kleides sorgfältig raffte, damit er sich nicht an irgendetwas verfing, ihre Knöchel aber verborgen blieben. Als sein Name genannt wurde, stand Dakon auf, gefolgt von Jayan. Tessia stieg als Letzte aus. Da sie nicht an das Kleid gewöhnt war, ergriff sie dankbar Dakons dargebotene Hand und brachte es fertig auszusteigen, ohne allzu viel von ihren Knöcheln zu entblößen - zumindest hoffte sie es. Anscheinend war es unzüchtig, die nackte Haut von Füßen oder Beinen zu zeigen.
Als sie zu Avaria aufblickte, sah sie voller Erleichterung, dass die Frau beifällig nickte. Dann drehte Tessia sich um, um den Königspalast zu betrachten, und ihr blieb beinahe die Luft weg.
Sie hatte schon früher hie und da einen Blick auf den Palast erhascht, aber aus solcher Nähe hatte sie ihn noch nie gesehen. Vor ihnen hing an gewaltigen Ketten ein riesiges Tor über den Männern und Frauen, die in den Palast schlenderten. Zu beiden Seiten des Tores erhoben sich zwei hohe Türme. In den schmalen Fenstern und zwischen den Zinnen auf ihrem Dach brannten Lampen - ebenso wie entlang der Mauern, die sich zu beiden Seiten erstreckten.
Everran und Avaria schritten als Erste unter dem hängenden Tor hindurch und über eine Brücke, die einen wassergefüllten Graben zwischen der äußeren und einer inneren Mauer überspannte. Auf dem Wasser spiegelten sich die vielen Lichter wider. Durch die innere Mauer führte ein weiterer Durchgang, dessen schwere Eisentore König Erriks Familienname und Wappen zierten. Sie standen zu ihrem Empfang weit offen.
Durch diese Eisentore gelangten sie in die Empfangshalle des Palastes, die der in Dakons Herrenhaus entsprach, aber größer und prächtiger war. Diener empfingen die Besucher und geleiteten sie durch einen überwölbten Durchgang zwischen den Treppen zu beiden Seiten hindurch. Tessia bemerkte, dass diese Treppen von frei stehenden Stellschirmen versperrt wurden, neben denen je zwei Wachen standen.
Vor dem Torbogen nannte Everran dem Diener, der sie begrüßte und anschließend hindurchwinkte, ihrer aller Namen. Als sie in den Saal dahinter trat, setzte Tessias Herz einen Schlag aus.
Sie hatte noch nie einen so großen Raum gesehen. Darin hätte das gesamte Herrenhaus Platz gefunden, vermutete sie. Vielleicht zwei Herrenhäuser. Schlanke Steinsäulen in zwei Reihen stützten die aus vielen Gewölben bestehende Decke. Anstelle von Lampen erhellten schwebende magische Lichtkugeln den Saal.
Die Wände waren bedeckt mit gewaltigen Gemälden und Wandbehängen, aber es waren die Menschen, die als Nächstes Tessias Aufmerksamkeit erregten. Hunderte von Männern, Frauen und sogar einige Kinder schlenderten umher, paarweise, in kleinen und größeren Gruppen. Alle trugen modische, teure und in manchen Fällen extravagante Kleidung. Juwelen glitzerten unter den Kugellichtern. Sie folgte den anderen in den Saal. Es ist wie eine Landschaft aus Menschen, dachte sie. Wenn man sich bewegt, ändert sich die Perspektive und bietet ständig einen anderen Blick auf etwas, das man zuvor noch nicht gesehen hat.
Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, änderte das Bild sich abermals, und ein gut gekleideter Mann in Jayans Alter erschien, umringt von einem Halbkreis anderer Männer. Ihre Begleiter blieben stehen, und sie stellte fest, dass sie alle diese Gruppe anschauten.
»Das ist König Errik aus dem Geschlecht Kyran«, murmelte Jayan ihr ins Ohr.
Sie nickte. Im nächsten Moment schaute der junge Mann in ihre Richtung, ließ den Blick flüchtig über ihre Gesichter gleiten und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Männer vor ihm.
»Nun, er hat uns gesehen«, bemerkte Everran, bevor er sich an Dakon wandte. »Wenn er mit uns reden will, wird er uns rufen lassen. In der Zwischenzeit sollten wir beide mit Lord Olleran sprechen.«
Dakon nickte. Als er und Everran davongingen und Jayan ihnen folgte, hakte Avaria sich bei Tessia unter.
»Sollen sie doch allein über Politik und Handel reden«, flüsterte sie. »Ich habe gerade Kendaria entdeckt. Kommt mit. Hier entlang.«
Tessia schluckte ihren Ärger und ihre Enttäuschung hinunter. Sie würde abermals von Dakons Angelegenheiten, worin immer diese bestehen mochten, ausgeschlossen bleiben. Gewiss handelte es sich um etwas, das für einen Magier wichtig und das sie daher wissen sollte, wie langweilig es auch sein mochte. Außerdem würde Tessia Dinge, die Avaria langweilten, vielleicht interessant finden. Oder umgekehrt.
Kendaria beobachtete einen Akrobaten, der anmutige, beeindruckende Verrenkungen vollführte. Der junge Mann trug lose Hosen, die an der Taille und an den Knöcheln gerafft waren, aber seine Brust war nackt und muskulös. Seine Darbietung erregte eine Menge weiblicher Aufmerksamkeit, wie Tessia bemerkte. Kendaria zwinkerte ihr zu.
»Ich hätte nichts dagegen, diesen Körper zu sezieren«, murmelte sie. »Ich frage mich, ob seine Gelenke anders wären als die einer gewöhnlichen Leiche. Sie sind so biegsam.«
»Kendaria!«, schalt Avaria. »Sei nicht so makaber!«
Aber Tessia konnte nicht umhin, den Akrobaten mit anderen Augen zu sehen. Sie beobachtete, wie die Rippen sich gegen die Haut des Mannes drückten, und sie fühlte sich daran erinnert, wie das Innere einer Brusthöhle aussah - wo das Herz lag und wo die schwammartige Masse der Lunge. Sie hatte so viel gelernt und hoffte, dass Kendaria sie zu weiteren Obduktionen mitnehmen würde, bevor Dakon Imardin verließ.
Aber Avaria war fest entschlossen, weitere makabere Gespräche zu unterbinden, und schon bald gesellten sich Darya und Zakia zu ihnen, und der übliche Klatsch folgte. Die Zeit verging langsam. Während Tessia höflich zuhörte, bemerkte sie, dass der gewaltige Saal sich weiter mit Menschen füllte. Der Lärm der Stimmen nahm entsprechend zu, da die Menschen lauter sprechen mussten, um sich über dem Getöse Gehör zu verschaffen. Der Akrobat verschwand, und in der Nähe begann eine Frau zu singen, begleitet von einem Mann, der die Saiten eines seltsamen, kastenförmigen Instruments zupfte, das auf einem seiner Knie lag. Avarias Freundinnen begannen mit einer genauen Erörterung der Kleidung, des Schmucks und der romantischen Verwicklungen anderer Frauen. Tessia lauschte einem Gespräch einiger Männer in der Nähe.
»... Heiler hat ihm gesagt, er solle aufhören, aber er trinkt weiter, und das wird nur dazu führen, dass er...«
»... Sarin sagte, wir sollten unsere Preise erhöhen, aber ich fürchte, das wird...«
»... Mandryn, denke ich, aber...«
Der Name ihres Dorfes erweckte ihre Aufmerksamkeit, aber die folgende Bemerkung ging im Gelächter ihrer Gefährtinnen unter. Sie rückte ein wenig weiter nach rechts, näher an den Sprecher und seine Zuhörer heran.
»... tut mir leid um... Lehen an der Grenze. Würde selbst nicht dort leben wollen.«
Die Antwort war unhörbar.
»Oh, natürlich. Irgendjemand muss es tun. Anderenfalls würden diese blutdurstigen Sachakaner uns noch näher kommen, nicht wahr? Trotzdem, vielleicht werden sie das bald tun, wenn sich das, was wir gehört haben, als richtig erweist...«
Plötzlich wurde die Stimme des Mannes leiser, sodass sie ihn nicht länger verstehen konnte. Dann bemerkte Tessia, dass Bewegung in die Menge um sie herum gekommen war. Köpfe hatten sich in eine bestimmte Richtung gedreht. Auf der Suche nach dem Ursprung des Geschehens spähte sie über Avarias Schulter hinweg.
Der König kam auf sie zu. Er blieb stehen, um mit jemandem zu sprechen, dann lächelte er und ging weiter, den Blick auf Avaria und die anderen Frauen geheftet.
Tessia beugte sich zu ihrer Gastgeberin vor.
»Lady Avaria«, murmelte sie. »Schaut einmal nach links.«
Die Frau blickte müßig in diese Richtung, dann drehte sie sich wieder zu Tessia um. »Der König?«
»Ja. Er kommt in unsere Richtung.«
»Das musste er irgendwann tun«, meinte Avaria achselzuckend. »Wo wir doch eine attraktive junge Meisterschülerin bei uns haben, die darauf wartet, ihn kennenzulernen.«
Tessias Herz machte einen Satz. »Ich bin nicht...«, begann sie, brach dann jedoch wieder ab. Der König war jetzt so nahe, dass er sie hören konnte. Er würde nicht meinetwegen herkommen, sagte sie sich. Avaria macht sich über mich lustig.
Er trat in den Kreis der Frauen. Für jede von ihnen hatte er eine Frage, und häufig erkundigte er sich nach der Gesundheit oder den Handelsgeschäften eines Verwandten. Als er Tessia erreichte, wurde sein Lächeln breiter.
»Und Ihr müsst Meisterschülerin Tessia sein, Lord Dakons neuer Schützling.«
»Ja, Euer Majestät«, antwortete sie, wobei sie sich des Umstands bewusst war, dass die anderen Frauen sich abgewandt hatten und zu zweit oder zu dritt davongingen. Selbst Avaria. Hatte der König irgendein Zeichen gegeben, dass er unter vier Augen mit ihr sprechen wollte?
Er beobachtete sie mit wachem Blick. Ich hoffe, ich sage nichts Falsches oder tue irgendetwas, das gegen das Protokoll verstößt. »Ihr seid ein Naturtalent, ist das richtig?«
Sie nickte. »Ja.«
»Es muss ein wenig beängstigend sein und Euch vielleicht unglücklich erscheinen, Eure Gabe zu einer solchen Zeit und an einem solchen Ort zu entdecken.«
Tessia runzelte die Stirn. Nahm er Bezug auf ihren Wunsch, Heilerin zu werden? Gewiss hatte er nichts von dem Zwischenfall mit Takado gehört... nein, das hätte Dakon ihm nicht erzählt.
»Nein«, sagte sie langsam. »Nun, es war durchaus erschreckend, als es geschehen ist. Ich wusste nicht, was ich getan hatte. Aber später war es... aufregend, das muss ich zugeben.«
Er hielt inne, und eine Falte erschien zwischen seinen Brauen, die wieder verschwand, als er abermals lächelte. »Ihr sprecht von dem ersten Mal, da Ihr Eure Macht benutzt habt, nicht davon, dass Ihr so nahe bei der Grenze lebt?«
»Ja... aber ich nehme an, es war immer ein wenig... beunruhigend, in der Nähe der Grenze zu leben. Es sei denn...« Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Gibt es einen besonderen Grund, warum wir gerade jetzt besorgt sein sollten, Euer Majestät?«
Er blinzelte, dann trat ein Ausdruck des Begreifens in seine Züge. »Ah. Ich muss mich entschuldigen. Ich hatte nicht vor, etwas Derartiges anzudeuten. Für jene von uns, die in der Stadt wohnen, wirkt die Vorstellung, an der Grenze zu Sachaka zu leben, immer beängstigend, aber Ihr müsst daran gewöhnt sein.«
Sein Tonfall war besänftigend, und sie wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass er etwas verbarg.
»Ist es wahrscheinlich, dass Sachaka uns angreifen wird?«, fragte sie unumwunden. Und bedauerte es sofort, da er bestürzt wirkte. Sie begann, sich zu entschuldigen.
»Nicht«, fiel er ihr ins Wort. »Ich bin derjenige, der sich bei Euch entschuldigen sollte. Ich hätte besser achtgeben sollen, Euch nicht zu beunruhigen.« Er trat neben sie, griff nach ihrem Arm und führte sie langsam durch den Raum. »Es hat Gerüchte gegeben«, erklärte er leise. »Eine mögliche Bedrohung betreffend. Zweifellos werdet Ihr davon hören, ob ich es Euch erzähle oder nicht; es ist kaum ein Geheimnis hier. Aber habt keine Furcht. Auf der anderen Seite der Grenze stehen keine großen Armeen bereit. Die Befürchtung ist die, dass einige missgestimmte sachakanische Magier beschließen könnten, dem Kaiser Ärger zu machen.«
»Oh«, sagte sie und blickte ihn an. Selbst einige wenige sachakanische Magier konnten in einem Dorf wie Mandryn großen Schaden anrichten - vor allem jetzt, da Dakon nicht dort war. »Ist mein Dorf sicher? Meine Familie?«
Er sah ihr in die Augen, und sein eigener Gesichtsausdruck war wachsam und suchend. Dann wurde seine Miene weicher, und er lächelte.
»Es droht keine Gefahr. Das versichere ich Euch.«
Sie holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus, während sie ihrem Herzen den Befehl gab, nicht länger zu rasen.
»Das ist eine Erleichterung, Euer Majestät«, sagte sie.
Er lachte leise. »Ja, das ist es. Es tut mir leid, dass ich Euch mit all diesem Tratsch erschreckt habe. Ich fürchte, jene von uns, die zu viel Zeit in der Stadt verbringen, neigen dazu, zu viel zu tratschen, ohne an die Konsequenzen zu denken, und selbst ich erliege dieser Angewohnheit von Zeit zu Zeit.«
Sie lächelte über sein Eingeständnis. »Lady Avaria hat mich gewarnt, dass ich den städtischen Klatsch nicht zu ernst nehmen solle, aber Klatsch und Gerüchte sind verschiedene Dinge.«
Er lachte und drehte sich zu ihr um. »Das sind sie in der Tat. Und nun möchte ich Euch bitten, Lord Dakon etwas von mir auszurichten.« Seine Miene wurde ernst. »Sagt ihm, er solle sich morgen eine Stunde nach Mittag zu einem Treffen auf dem Übungsplatz einfinden.«
Sie nickte. »Übungsplatz. Eine Stunde nach Mittag«, wiederholte sie.
Er verneigte sich, und sie reagierte verspätet mit dem weiblichen Knicks, den Avaria sie gelehrt hatte, eine Hand bescheiden auf die Brust gedrückt. »Es war mir ein Vergnügen, Euch kennenzulernen, Meisterschülerin Tessia. Ich hoffe, es wird nicht lange dauern, bis Ihr Imardin wieder einmal besucht.«
»Es ist mir eine Ehre und eine Freude, Euch kennengelernt zu haben, Euer Majestät«, erwiderte sie.
Er lächelte, dann wandte er sich ab. Während er durch den Raum ging, kam ein uniformierter Mann auf ihn zu.
»Wie ist es gelaufen?«, erklang eine vertraute, atemlose Stimme neben ihr.
Tessia drehte sich zu Avaria um. »Gut. Denke ich. Vielleicht. Ich habe eine Nachricht für Lord Dakon.«
Die Frau nickte und lächelte. »Dann sollten wir sie ihm besser überbringen... diskret, wenn es sich einrichten lässt.«
Magie
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