3
Es klopfte leise an der Tür, und
Meisterschüler Jayan lächelte. Er drehte sich um, und mit Hilfe
einer kleinen magischen Welle drückte er die Klinke nach unten. Mit
einem Klicken schwang die Tür nach innen auf. Dahinter stand eine
junge Frau, die sich nach besten Kräften verneigte, soweit es ihr
mit dem großen Tablett in Händen möglich war.
»Seid mir gegrüßt, Meisterschüler Jayan«, sagte
sie, als sie in den Raum trat. Sie stützte ihre Last auf eine
üppige Hüfte und machte sich daran, Schalen, Teller und Tassen auf
den Schreibtisch zu stellen.
»Sei mir ebenfalls gegrüßt, Malia«, erwiderte er.
»Du wirkst heute besonders fröhlich.«
»Das bin ich auch«, erwiderte sie. »Der Gast des
Lords reist heute ab.«
Er richtete sich auf. »Wirklich? Bist du dir
sicher?«
»Absolut sicher. Ich schätze, er kommt nicht
zurecht ohne einen Sklaven, der ihm jeden Wunsch erfüllt.« Sie
bedachte
ihn mit einem verschlagenen, nachdenklichen Blick. »Ich frage
mich, ob Ihr ohne mich zurechtkommen könntet?«
Jayan ignorierte ihre Frage und die offensichtliche
Forderung eines Kompliments. »Warum hat er denn keinen Sklaven? Was
ist aus dem Sklaven geworden, mit dem er hier angekommen
ist?«
Malias Augen wurden rund. »Natürlich. Ihr könnt das
ja nicht wissen. Ihr habt Euch hier im hinteren Teil des
Herrenhauses versteckt und sicher nichts gehört. Takado hat seinen
Sklaven gestern Nachmittag fast totgeschlagen. Heiler Veran hat
sich die ganze Nacht um ihn gekümmert.« Trotz ihres sachlichen
Tonfalls verrieten ihre schnellen Gesten ihr Unbehagen. Er
vermutete, dass alle Dienstboten durch Takados Grausamkeit seinem
Sklaven gegenüber beunruhigt waren. Sie wussten, dass für ihn nur
ein geringer Unterschied zwischen einem Sklaven und einem Diener
bestand.
Aber Malias Lächeln kehrte schnell zurück, und es
war ein hinterhältiges Lächeln. Sie wusste, was die Abreise des
Sachakaners für ihn bedeutete. Er sah sie erwartungsvoll an.
»Und?«
Das Lächeln wurde breiter. »Und was?«
»Hat er überlebt, oder ist er gestorben?«
»Oh.« Sie runzelte die Stirn, dann zuckte sie die
Achseln. »Ich nehme an, er lebt noch, sonst hätten wir irgendetwas
gehört.«
Jayan stand auf und trat ans Fenster. Er wollte zu
Dakon gehen und mehr herausfinden, aber sein Herr hatte ihm
befohlen, während des Aufenthalts des Sachakaners im Herrenhaus in
seinem Zimmer zu bleiben. Als er nun aus dem Fenster schaute, hinab
auf die geschlossenen Stalltüren und den verlassenen Hof, kaute er
auf seiner Unterlippe.
Wenn ich nicht mehr in Erfahrung bringen kann,
wird Malia überaus bereitwillig sein, mir Informationen zu
besorgen.
Das Problem war, sie wollte für ihre Gefälligkeiten
stets ein wenig mehr als bloßen Dank. Obwohl sie durchaus hübsch
war, hatte Dakon ihn vor langer Zeit gewarnt, dass junge, weibliche
Dienstboten dazu neigten, eine Vorliebe für junge,
männliche Meisterschüler zu entwickeln - oder für ihren Einfluss
und ihr Vermögen. Dakon hatte ihm eingeschärft, die jungen Frauen
nicht auszunutzen und sich auch selbst nicht von ihnen ausnutzen zu
lassen. Obwohl Jayan wusste, dass sein Meister gelegentliche Fehler
oder Unbedachtheiten mit Nachsicht betrachtete, hatte er während
der vergangenen vier Jahre doch auch gelernt, dass der Magier
subtile und unerfreuliche Methoden hatte, inakzeptables Verhalten
zu bestrafen. Er glaubte nicht, dass Dakon zu der schlimmsten
Strafe greifen würde - einen Meisterschüler zu seiner Familie
zurückzuschicken, ohne abgeschlossene Ausbildung und ohne
Kenntnisse der höheren Magie, die ihn als unabhängigen Magier
kennzeichneten -, aber er fand Malia nicht begehrenswert genug, um
diese Überzeugung auf die Probe zu stellen. Oder irgendeine andere
junge Frau aus Mandryn, was das betraf.
Das Kunststück bei Malia bestand darin, niemals
wirklich um etwas zu bitten. Man brauchte lediglich den
Wunsch zu äußern, etwas in Erfahrung zu bringen. Wenn sie ihm etwas
gab, worum er gebeten hatte, war sie der Meinung, dass er
ihr seinerseits etwas schuldete.
»Ich frage mich, wann der Sachakaner aufbrechen
wird«, murmelte er.
»Oh, wahrscheinlich nicht vor Einbruch der
Abenddämmerung«, sagte Malia leichthin.
»Abenddämmerung? Warum sollte er bei Nacht
reisen?«
Sie lächelte und schob sich das Tablett unter den
Arm. »Ich weiß es nicht, aber mir gefällt der Gedanke, dass Ihr
noch einen ganzen Tag ganz allein hier festsitzen werdet.
Schließlich wollt Ihr doch nicht das Risiko eingehen, dass er eine
Vorliebe für Euch fasst und Euch als Ersatz für seinen Sklaven mit
nach Hause nimmt, oder? Ich wünsche Euch noch einen schönen
Tag.«
Kichernd verließ sie den Raum und zog die Tür
hinter sich zu. Jayan starrte auf die Tür, nicht sicher, ob sie
seine List durchschaut hatte oder lediglich die Gelegenheit
ergriffen hatte, ihn ein wenig aufzuziehen.
Dann seufzte er, kehrte zu seinem Schreibtisch
zurück und begann mit seinem Morgenmahl.
Zuerst hatte Jayan keinen Anstoß an Dakons
Entscheidung genommen, dass er in seinem Zimmer bleiben müsse. Er
hatte jede Menge Bücher, die er lesen und studieren konnte, und es
machte ihm nichts aus, allein zu sein. Er machte sich keine Sorgen
darüber, dass der Sachakaner versuchen könnte, ihn zu entführen,
wie Malia angedeutet hatte, da die Sachakaner niemanden
versklavten, der Zugang zu seinen magischen Fähigkeiten hatte. Sie
zogen Sklaven mit mächtigem latentem Talent vor, Menschen,
die nicht über Magie gebieten konnten, ihrem Herrn jedoch reichlich
magische Kraft boten, die er in sich aufnehmen konnte.
Nein, sollte es zu Spannungen zwischen Takado und
Dakon kommen, war es wahrscheinlicher, dass der Sachakaner
versuchen würde, Jayan zu töten. Zu den Aufgaben eines
Meisterschülers gehörte es, seinen Herrn mit zusätzlicher magischer
Kraft zu versorgen. Geradeso wie ein Sklave es tat, nur dass
Meisterschüler im Gegenzug magisches Wissen erhielten. Und freie
Männer oder Frauen waren.
Doch ein Konflikt zwischen Takado und Dakon war
unwahrscheinlich. Etwas Derartiges würde diplomatische Konsequenzen
in Sachaka und Kyralia haben, Konsequenzen, denen sich beide Magier
nicht würden stellen wollen. Trotzdem war es möglich, dass Takado
in irgendeiner unbedeutenden Hinsicht Ärger machen konnte, wohl
wissend, dass er kaum mehr als eine Tagesreise von seinem
Heimatland entfernt war. Vielleicht würde er lediglich
sachakanische Überlegenheit und Macht demonstrieren wollen.
Wie zum Beispiel seinen eigenen Sklaven zu Tode zu
prügeln?
Ich schätze, diese Botschaft hat er bereits
übermittelt. Er hat uns gezeigt, dass er noch immer Macht über
andere Menschenleben hat, aber er hat es getan, ohne irgendein
kyralisches Gesetz zu brechen.
Dieser Gedanke erfüllt Jayan eigenartigerweise mit
Erleichterung. Jetzt, da der Sachakaner seinen Standpunkt deutlich
gemacht hatte, würde er aufbrechen, und schon bald würde
Jayan keine Gefahr mehr drohen. Oder irgendeinem anderen
Dorfbewohner. Er konnte den Raum verlassen und das Herrenhaus, wenn
er wünschte. Es würde wieder Normalität einkehren.
Jayans Stimmung hellte sich auf. Er hatte nie
geglaubt, dass er seiner eigenen Gesellschaft oder des Lesens
überdrüssig werden würde. Doch es hatte sich herausgestellt, dass
er einen Punkt erreichen konnte, an dem er sich nach Sonnenlicht
und frischer Luft sehnte. Diesen Punkt hatte er vor einigen Tagen
überschritten, und seither war er rastlos gewesen.
Aus der Lektüre von Büchern ließ sich nur ein
begrenztes Wissen von Magie ziehen. Um sich eine Fertigkeit
anzueignen, bedurfte es der Übung. Seine letzte Lektion von Lord
Dakon lag Wochen zurück. Jeder Tag, der verstrich, war eine
verzögerte Lektion. Jede verzögerte Lektion bedeutete, dass eine
zusätzliche Sitzung vonnöten sein würde, bevor Lord Dakon ihn
höhere Magie lehrte und Jayan ein Magier eigenen Rechts
wurde.
Dann würde Jayan den Respekt und die Macht
genießen, die ihm als höherem Magier zukamen, und er konnte
beginnen, ein eigenes Vermögen anzuhäufen. Er würde wie sein
älterer Bruder, Lord Velan, einen Titel tragen, auch wenn der Titel
»Magier« den Titel »Lord« niemals an Bedeutung würde übertreffen
können. Nichts genoss in Kyralia größeres Ansehen als der Besitz
von Land, selbst wenn es sich lediglich um eins der prächtigen
alten Häuser der Stadt handelte.
Aber der Besitz eines Lehens war höher angesehen
als der Besitz eines Hauses, was ironisch war, da Magier, die auf
dem Land lebten, als rückständig und hinterwäldlerisch galten. Wenn
Jayan sich weiter gut mit seinem Meister stellte und Dakon nicht
heiratete und einen magiebegabten Erben zeugte, bestand die Chance,
dass Dakon Jayan zu seinem Erben bestimmen würde. Es war durchaus
schon vorgekommen, dass ein Magier einen ehemaligen Meisterschüler
begünstigte, wenn er keinen rechtmäßigen Erben hatte.
Es war jedoch nicht nur der Gedanke, seinen Bruder
in puncto Landbesitz zu übertreffen, der Jayan so gefiel. Auch
die Vorstellung, sich eines Tages nach Mandryn zurückzuziehen,
hatte ihren Reiz. Er hatte festgestellt, dass ihm diese ruhige
Existenz behagte, fernab der gesellschaftlichen Spielchen der
Stadt, die er einst mit solchem Genuss beobachtet hatte - und
fernab vom Einfluss seines Vaters und seines Bruders.
Aber Dakon ist noch nicht zu alt, um zu heiraten
und Kinder zu zeugen, dachte er. Sein Vater hat beides recht
spät im Leben getan. Selbst wenn Dakon sich dagegen entscheidet,
hat er noch viele Jahre vor sich, sodass ich reichlich Zeit habe,
zuerst die Welt zu erkunden. Und je früher ich lerne, was ich
brauche, um ein höherer Magier zu werden, umso früher werde ich
frei sein zu reisen, wohin ich will.
Das Licht, das durch die Fensterläden von Tessias
Zimmer drang, wirkte vollkommen verkehrt. Dann fiel ihr die Arbeit
der vergangenen Nacht wieder ein, und dass sie und ihre Eltern erst
am Morgen ins Bett gegangen waren. Natürlich wirkte es verkehrt. Es
war Mittag.
Für eine Weile blieb sie liegen und erwartete, dass
sie wieder einschlafen würde, aber sie tat es nicht. Obwohl sie nur
wenige Stunden geschlafen hatte und noch immer eine unangenehme
Erschöpfung verspürte, blieb sie wach. Ihr Magen knurrte.
Vielleicht war es der Hunger, der sie nicht einschlafen ließ. Sie
stieg aus dem Bett, kleidete sich an und richtete sich das Haar.
Als sie leise aus ihrem Zimmer trat, sah sie, dass die Tür ihrer
Eltern noch immer geschlossen war. Sie konnte leises Schnarchen
hören.
Unten an der Treppe ging sie in Richtung Küche. Der
Kamin war kalt, das Feuer der frühen Morgenstunden inzwischen
verloschen. Sie nahm sich eine Pachi-Frucht aus einer Schale auf
dem Tisch. Dann bemerkte sie die Tasche ihres Vaters auf dem
Boden.
Der Sklave, dachte sie. Vater hat gesagt,
der erste Tag der Pflege nach einer Behandlung sei der wichtigste.
Verbände müssen gewechselt und Wunden gereinigt werden. Und die
Schmerzmittel werden langsam an Wirkung verlieren.
Tessia blickte zur Decke hinauf, wo das Zimmer
ihrer Eltern lag, und überlegte, ob sie ihren Vater wecken sollte.
Noch nicht,
beschloss sie. In seinem Alter braucht er dringender Schlaf als
ich. Also wartete sie. Sie erwog, etwas zu kochen, bezweifelte
jedoch, dass sie das tun konnte, ohne Lärm zu machen und ihre
Eltern zu wecken. Stattdessen ging sie zu der Tasche ihres Vaters
hinüber. Dann stahl sie sich in sein Arbeitszimmer und füllte die
Tasche wieder mit Medikamenten, Zwirn und Verbänden auf. Zu guter
Letzt machte sie sich daran, all seine Instrumente zu reinigen und
zu schärfen.
Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, kroch
langsam durch den Raum.
Einige Stunden war sie mit ihrer Arbeit
beschäftigt. Als ihr keine neue Aufgabe mehr einfiel, kehrte sie in
die Küche zurück und stellte die Tasche ihres Vaters an die
Haustür. Dann schlich sie sich die Treppe hinauf, lauschte auf das
Schnarchen ihrer Eltern und überlegte.
Wir müssen bald nach dem Sklaven sehen,
dachte sie. Ich sollte Vater wecken - was bedeutet, dass Mutter
ebenfalls aufwachen wird. Oder ich könnte allein gehen.
Bei dem letzten Gedanken durchflutete sie
prickelnde Erregung. Wenn sie den Sklaven allein versorgte - falls
die Diener in Lord Dakons Haus sie einließen -, würde das nicht
beweisen, dass die Dorfbewohner sehr wohl Vertrauen in sie als
Heilerin hatten? Würde es nicht zeigen, dass sie mit der Zeit an
die Stelle ihres Vaters treten konnte?
Sie ging die Treppe wieder hinunter und zur
Haustür. Als sie einen Blick auf die Tasche ihres Vaters warf,
verspürte sie einen Anflug von Zweifel.
Es könnte Vater wütend machen. Aber wenn ich
etwas tue, worum er mich nicht gebeten hat, ist das nicht so
schlimm wie der Verstoß gegen einen Befehl. Und es geht um nichts
Anspruchsvolleres als die einfache Versorgung nach einer
Behandlung. Sie lächelte verstohlen. Und wenn ich einen von
Lord Dakons Dienern dazu bewegen kann, bei mir zu bleiben, kann ich
beweisen, dass ich zumindest Mutters Sorgen um meine Sicherheit
berücksichtigt habe.
Also griff sie nach der Tasche, hob sie auf,
öffnete so leise wie möglich die Haustür und schlüpfte
hinaus.
Es waren mehrere Dorfbewohner unterwegs, wie sie
sah.
Die beiden Söhne des Bäckers lümmelten sich an die Mauer ihres
Hauses und genossen den sonnigen Nachmittag. Sie nickten ihr zu,
und sie erwiderte ihr Lächeln. Ob vielleicht einer der beiden
auf Mutters Liste zukünftiger Ehemänner steht, fragte sie sich.
Keiner der beiden interessierte sie. Obwohl sie jetzt durchaus
höflich waren, konnte sie nicht umhin, sich daran zu erinnern, wie
lästig sie als Jungen gewesen waren, wenn sie ihr Schimpfnamen
zugerufen und sie an den Haaren gezogen hatten.
Die Witwe des ehemaligen Schmiedes ging, gestützt
auf zwei Stöcke, mit langsamen, bedächtigen Schritten die
Hauptstraße entlang. Seit Tessia denken konnte, war sie an jedem
sonnigen Tag einmal durch das ganze Dorf und wieder zurück
spaziert. Als Tessia noch ein Kind und die Witwe weniger
gebrechlich gewesen war, hatten andere ältere Frauen des Dorfes
sich ihr angeschlossen, und während ihrer Runden war viel Klatsch
und Tratsch ausgetauscht worden. Jetzt sagten die anderen Frauen,
sie seien zu alt, um sich hinauszuwagen, und sie befürchteten, dass
sie stolpern könnten oder von den Dorfkindern umgerissen
würden.
Schwache, kindliche Schreie und Gelächter lenkten
Tessias Aufmerksamkeit auf den Fluss, wo sich etliche kleine
Gestalten an der breiten, flachen Biegung des Wasserlaufs
tummelten; dort hatte sie als Kind ebenfalls gespielt. Dann hörte
sie ihren Namen und drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen,
wie ein Bauer aus dem Dorf ihr im Vorübergehen zunickte.
Er war aus der Richtung von Lord Dakons Haus
gekommen und hatte sich erst einige Dutzend Schritte entfernt.
Tessia trat in die Gasse neben dem Herrenhaus und ging zu dem
Seiteneingang, durch den sie und ihr Vater am vergangenen Tag
eingelassen worden waren. Sie klopfte.
Eine der Hausdienerinnen, Cannia, öffnete die Tür.
Die Frau lächelte Tessia zu, dann schaute sie in die Gasse hinter
ihr.
»Vater ruht noch«, erklärte Tessia. »Ich soll nach
dem Sklaven sehen und ihm Bericht erstatten.«
Cannia nickte und winkte Tessia hinein. »Ich habe
ihm heute
Morgen etwas Suppe gebracht und versucht, ihn zu füttern, da er in
seiner Verfassung nicht selbst essen kann. Ich schätze, er hat
nicht mehr als einige wenige Schlucke zu sich genommen.«
»Er ist also wach.«
»Durchaus, obwohl ich vermute, dass er sich
wünscht, er wäre es nicht.«
»Könntest du oder irgendjemand sonst bei mir
bleiben, während ich ihn versorge?«
»Natürlich.« Sie entzündete eine Lampe und reichte
sie Tessia. »Geh nur schon vor, und ich werde dafür sorgen, dass
jemand dir hilft.«
Tessias Haut kribbelte leicht, als sie die Treppe
zum Zimmer des Sklaven hinaufging. Sie konnte nicht umhin, sich zu
fragen, wo der Sachakaner war, und zu hoffen, dass sie ihm nicht
begegnen würde. Als sie in das Zimmer des Sklaven trat und sich
außer ihrem Patienten niemand dort aufhielt, seufzte sie vor
Erleichterung.
Der Mann starrte sie an, und seine Pupillen waren
geweitet. Sie konnte nicht erkennen, ob Furcht der Grund dafür war
oder Überraschung. Ihr fiel ein, dass niemand ihr seinen Namen
genannt hatte.
»Sei mir gegrüßt«, sagte sie. »Ich bin hier, um
deine Verbände zu wechseln und nachzusehen, ob deine Heilung gute
Fortschritte macht.«
Er sagte nichts, sondern starrte sie nur weiter an.
Nun, sie konnte kaum erwarten, dass er sprach, da sein Kiefer
gebrochen und sein Kopf mit Verbandszeug umwickelt war. Dies würde
ein einseitiges Gespräch werden.
»Du musst große Schmerzen haben«, fuhr sie fort.
»Ich kann dir eine Medizin geben, die den Schmerz dämpft. Möchtest
du das?«
Der Mann blinzelte, dann nickte er einmal.
Tessia drehte sich lächelnd zu der Tasche ihres
Vaters um und nahm einen Sirup heraus, mit dem ihr Vater Kinder
behandelte. Der Sklaven würde Mühe haben zu schlucken, und die zähe
Flüssigkeit würde wahrscheinlich einen bitteren Geschmack in
seinem Mund hinterlassen, wenn er die Medizin nicht sofort
hinunterbekam. Sie würde den Sirup mit ein wenig Wasser verdünnen
müssen, dann würde sie ihm einen Schlauch zwischen die Lippen
schieben und ihm den Trank tropfenweise einflößen.
Als das Medikament in den Mund des Mannes floss,
versteifte er sich, dann schluckte er. Aber er blieb angespannt,
und seine Augen waren groß, während er über ihre Schulter
schaute.
Er wirkt vollkommen verängstigt, dachte
sie.
Ein schwacher Luftstrom sagte ihr, dass die Tür
offen war.
Sie zog den Schlauch heraus, trat zurück und
blickte auf, um festzustellen, wen Cannia ihr geschickt hatte. Der
Mann, der ihren Blick erwiderte, war hochgewachsen und massig, und
er trug exotische Kleidung.
Ihr Herz erstarrte vor Entsetzen.
»Ich sehe, du bist zurückgekommen, um nach Hanara
zu sehen«, bemerkte der Sachakaner, in dessen Lächeln keinerlei
echte Dankbarkeit lag. »Wie nett von dir. Wird er überleben?«
Sie holte tief Luft und fand irgendwie ihre Stimme
wieder. »Ich weiß es nicht... Herr.«
»Wenn er nicht überlebt, spielt das keine Rolle«,
erwiderte er in beruhigendem Tonfall.
Ihr fiel keine Erwiderung darauf ein, daher sagte
sie nichts. Wo ist der Diener, den Cannia mir schicken
wollte?, dachte sie. Und was das betrifft, wo ist Lord
Dakon? Er lässt den Sachakaner doch gewiss nicht unbewacht durchs
Haus streifen...
»Ich nehme an, er ist ein guter Patient, um
Experimente an ihm durchzuführen«, fuhr der Sachakaner fort und sah
auf seinen Sklaven hinab. »Vielleicht wirst du etwas Neues lernen.«
Der Sklave mied den Blick seines Herrn. Der Sachakaner schaute
wieder zu Tessia hinüber. »Viel Spaß.«
Er verließ rückwärts den Raum und schloss die Tür.
Tessia stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und hörte einen
zweiten Seufzer, der ihrem folgte. Sie sah den Sklaven an und
lächelte schief.
»Dein Herr hat eine seltsame Vorstellung von Spaß«,
murmelte
sie. Dann machte sie sich daran, die Verbände des Sklaven zu
erneuern.
Er gab keinen Laut von sich, während sie arbeitete,
sondern schnappte nur gelegentlich nach Luft, wenn sie die Verbände
löste, die ein wenig an den Wunden klebten. Seine Verletzungen
sahen bemerkenswert gut aus - minimale Schwellungen und Rötungen
und kein Eiter. Sie tupfte alles vorsichtig mit einem sauberen Tuch
ab und ersetzte die besudelten Verbände durch frische.
Als sie endlich fertig war, war der Besuch des
Sachakaners nur mehr eine ferne, unangenehme Erinnerung. Sie packte
die Tasche ihres Vaters und nahm sie auf. An der Tür blieb sie noch
einmal stehen und nickte dem Sklaven zu.
»Ruh dich gut aus, Hanara.«
Die Haut um seine Augen legte sich in winzige
Fältchen; näher konnte er einem Lächeln in seiner Verfassung nicht
kommen. Zufrieden mit ihrer Arbeit, verließ sie den Raum und ging
den Flur entlang zur Dienstbotentreppe, wobei sie sich fragte, ob
ihre Eltern schon wach waren.
Aus einer der Türen drang eine Stimme, bei der ihr
das Herz in die Knie sank.
»Bist du fertig, Tessia?«
Der Sachakaner. Sie blieb stehen. Dann verfluchte
sie sich dafür, dass sie das getan hatte. Wäre sie weitergegangen,
hätte sie vorgeben können, ihn nicht gehört zu haben. Aber jetzt
konnte sie ihn nicht mehr ignorieren, ohne unhöflich zu sein. Sie
holte tief Luft, machte zwei Schritte rückwärts und blickte in den
Raum. Es war ein Wohnzimmer, möbliert mit behaglichen Sesseln und
kleinen Tischen, auf denen ein Gast ein Getränk oder ein Buch
abstellen konnte. Der Sachakaner saß auf einem großen
Holzstuhl.
»Ja, Herr«, erwiderte sie.
»Komm näher.«
Er sprach leise, aber mit dem stählernen Tonfall
eines Mannes, der Gehorsam erwartete. Mit rasendem Herzen trat
Tessia in die Tür. Der Sachakaner lächelte und winkte sie zu
sich.
»Komm ganz herein«, sagte er.
Sie betrat den Raum, blieb einige Schritte vor dem
Sachakaner stehen und konzentrierte sich darauf, eine möglichst
ausdruckslose Miene beizubehalten.
Hinter ihr erklang ein Geräusch; die Tür hatte sich
geschlossen. Sie zuckte zusammen, und ihr Herz setzte einen Schlag
aus. Dann fluchte sie im Stillen, weil sie wusste, dass sie sich
ihre Angst hatte anmerken lassen. Hoffen wir, dass er es für
Überraschung gehalten hat, sagte sie sich. Ihr wurde klar, dass
sie zu schnell atmete, und sie versuchte, ihre Atmung zu
verlangsamen.
Der Sachakaner erhob sich und kam auf sie zu, und
die ganze Zeit blickte er ihr in die Augen. Irgendjemand hatte ihr
einmal erzählt, wenn man einem Sachakaner in die Augen sah, mache
man ihm deutlich, dass man sich für ebenbürtig hielt. Wenn man kein
mächtiger Magier war, konnte der Sachakaner auf die Idee kommen,
seinen Gegenüber eines Besseren zu belehren. Sie senkte den
Blick.
»Da wäre eine private Angelegenheit, um die ich
mich kümmern möchte«, erklärte er leise.
Sie nickte. »Euer Sklave. Er ist...« »Nein. Etwas
anderes. Ich habe dich beobachtet. Für eine Kyralierin verfügst du
über einige einzigartige Fähigkeiten. Mir ist aufgefallen, dass
niemand hier deinen wahren Wert kennt. Habe ich recht? Ich könnte
das ändern.«
Er kam ein wenig näher. Zu nahe. Sie machte einen
Schritt zurück. Was für ein Spiel spielt er?, überlegte sie.
Hält er sich für so mächtig, dass er die Verhältnisse hier in
Kyralia ändern kann? Oder denkt er, ich würde auf etwas so Dummes
hereinfallen wie das Angebot eines besseren Lebens in
Sachaka?
»Wenn ich niemanden hier davon überzeugen kann,
dass ich eine Heilerin bin, bezweifle ich, dass es andernorts, wo
die Menschen mich nicht kennen, leichter wäre.«
Er hielt inne, dann kicherte er. »Oh, die Heilkunst
ist nur ein Teil deines Wertes. Der Rest von dir wird noch
schlimmer vergeudet. Schau dich doch an...«
Er kam noch näher, streckte eine Hand aus und
berührte ihr Gesicht. Sie zuckte zurück.
»... diese feinen Knochen. Dieses glatte Haar und
so bleiche Haut. Als ich das erste Mal herkam, dachte ich,
kyralische Frauen seien hässlich, aber ab und zu begegnete mir
eine, die meine Meinung geändert hat. Es waren Frauen wie du. Die
Männer deines Landes sind Narren...« Seine Stimme wurde leiser und
eindringlicher, und sie ertappte sich dabei, dass sie vor den
Händen, die sich nach ihrem Haar ausstreckten, zurückwich...
Händen, die sich um ihre Taille legen wollten.
»Hört auf damit!«, sagte sie, ließ die Tasche
fallen und stieß seine Hände weg.
Er stockte, dann verdüsterte seine Miene sich.
»Niemand will, was du hast, Mädchen. Also wird es niemanden
scheren, wenn ich es mir nehme.«
Etwas begann, sie von allen Seiten einzuzwängen.
Als sie sich umschaute, konnte sie keine Zeichen der Macht
erkennen, die sie bedrängte. Ein unbarmherziger Druck in ihrem
Rücken schob sie vorwärts. Er drückte sie gegen den Sachakaner, der
laut lachte.
»Lord Dakon«, stieß sie hervor. »Er wird nicht
zulassen, dass Ihr...«
»Er ist nicht hier. Und was wird er tun, wenn er es
herausfindet? Mich bestrafen? Bis dahin werde ich auf halbem Wege
zu Hause sein. Außerdem, wie viele Leute sollen denn hiervon
erfahren?«
Als er an der Vorderseite ihres Gewandes zupfte,
versuchte sie, die Arme zu bewegen, aber irgendeine unsichtbare
Macht hielt sie fest. Sie konnte auch die Beine nicht bewegen. Sie
konnte gar nichts bewegen. Nicht einmal den Kopf. Und als sie den
Mund öffnete, um zu schreien, spürte sie, wie etwas Unsichtbares
ihr Gesicht umhüllte und ihre Kiefer wieder zusammenpresste. Seinem
grinsenden, lüsternen Gesicht nach schien der Sachakaner jede ihrer
Regungen und jeden ihrer Gedanken zu registrieren. Sie bekam eine
Gänsehaut, und ihr Schädel pochte, als würde er bersten.
Ist er in meinem Kopf? Sie schloss die
Augen, konzentrierte sich auf das Gefühl und versuchte, es
wegzudrängen.
Geh weg, geh weg, geh weg, GEH WEG!
Plötzlich war die Macht, die sie festgehalten
hatte, verschwunden, und Tessia taumelte rückwärts. Gleichzeitig
hatte sie das Gefühl, als ströme etwas aus ihr hinaus. Einem
unglaublich hellen Licht hinter ihren Augenlidern folgte ein
donnerndes Krachen.
Tessia fiel rückwärts zu Boden. Der Aufprall
schmerzte, und sie riss die Augen auf. Sie richtete sich zu einer
sitzenden Position auf, dann erstarrte sie, als sie das Bild
aufnahm, dass sich ihr bot. Eine Ecke des Raums war jetzt übersät
mit zerbrochenen Möbelstücken. Die Wände waren rissig. Schwarze
Streifen zogen sich von ihr weg durch den Raum, und sie roch den
beißenden Geruch von Rauch.
Im Flur draußen vor dem Zimmer wurden schnelle
Schritte laut.
Der Sachakaner erhob sich aus den Trümmern in der
Ecke. Er sah sie an, runzelte finster die Stirn und blickte an sich
hinab. Seine Kleider waren ebenso versengt wie die Wände;
Stickereien und Perlenbesatz waren geschwärzt. Nachdem er erfolglos
versucht hatte, die Spuren der Explosion - oder was immer es
gewesen war - wegzuwischen, verzog sein Gesicht sich zu einer
Grimasse.
Die Tür wurde aufgerissen. Tessia zuckte zusammen,
als Lord Dakon eintrat. Er blieb stehen, blickte zwischen ihr und
dem Sachakaner hin und her und besah sich dann den Schaden.
»Was ist passiert?«, verlangte er zu
erfahren.
Der Sachakaner sagte nichts. Er lächelte, stieg
über einen zerbrochenen Stuhl und stolzierte aus dem Raum.
Lord Dakon wandte sich zu ihr um. Sein Blick glitt
von ihrem Gesicht zu ihrer Brust. Als sie an sich hinabschaute,
stellte sie fest, dass ihr Kleid bis zur Taille aufgeknöpft war und
man ihr Unterhemd darunter sehen konnte. Hastig richtete sie sich
auf und wandte sich ab, damit er nicht beobachten konnte, wie sie
ihr Kleid wieder zuknöpfte.
»Was ist passiert?«, wiederholte er, sanfter
diesmal.
Tessia holte Luft, um zu antworten, aber die Worte
wollten nicht herauskommen. Euer Gast hat versucht, mir seinen
Willen
aufzuzwingen, teilte sie ihm wortlos mit. Aber sie stellte
fest, dass der Sachakaner recht gehabt hatte. Sie wollte nicht,
dass irgendjemand davon erfuhr. Nicht, wenn auch nur das geringste
Risiko bestand, dass ihre Mutter davon hörte. Wie ihr Vater immer
sagte: In dieser winzigen Gemeinschaft gab es so etwas wie ein
Geheimnis nicht.
Und tatsächlich war ihr auch nichts passiert.
Nun, nichts von den Dingen, die der Sachakaner im Sinn gehabt zu
haben schien, ging es ihr durch den Kopf. Sie stand auf und
betrachtete die versengten Wände. Ich habe keine Ahnung, warum
er das getan hat.
Sie drehte sich wieder zu Dakon um, sah ihm jedoch
nicht in die Augen. »Ich... ich war unhöflich. Er war verärgert.
Ich entschuldige mich für... das Durcheinander, Lord Dakon.« Sie
hob die Tasche ihres Vaters auf und wandte sich ab, hielt dann
jedoch noch einmal inne, um hinzuzufügen: »Die Verletzungen des
Sklaven heilen gut.«
Er beobachtete sie, während sie an ihm vorbei in
den Flur hinaustrat, und sagte nichts. Obwohl sie es nicht
riskierte, ihn allzu genau anzusehen, weil sie seinem Blick nicht
begegnen wollte, war die Art, wie er sie anstarrte, doch irgendwie
seltsam. Sie eilte zur Dienstbotentreppe und lief hinunter. Cannia
stand in der Tür zur Küche. Die Frau sagte irgendetwas, als Tessia
ging, aber Tessia verstand sie nicht richtig und wollte auch nicht
stehen bleiben.
Das Sonnenlicht des späten Nachmittags war jetzt zu
hell. Plötzlich verspürte Tessia nur noch eine ungeheure
Erschöpfung. Sie eilte die Straße entlang nach Hause und blieb nur
kurz stehen, um ihren Mut zusammenzunehmen, bevor sie eintrat, dann
öffnete sie die Tür.
Ihre Eltern waren in der Küche. Als sie hereinkam,
blickten sie beide auf. Ihre Mutter runzelte die Stirn, und ihr
Vater schien ein Lächeln zu unterdrücken, als sie ihm die Tasche
vor die Füße stellte.
»Der Sklave erholt sich gut. Ich werde mich jetzt
ein wenig hinlegen«, erklärte sie, und bevor ihre Eltern etwas
erwidern konnten, marschierte sie aus der Küche und die Treppe
hinauf.
Niemand kam ihr hinterher. Sie hörte leise Stimmen aus der Küche,
blieb aber nicht stehen, um zu lauschen. Sie trat in ihr Zimmer und
warf sich auf ihr Bett, und zu ihrer Überraschung entrang sich ihr
ein Schluchzen.
Was tue ich denn? Werde ich weinen wie ein
Kind? Sie rollte sich auf die Seite, holte tief Atem und
kämpfte die Tränen nieder. Es ist nichts passiert.
Aber es hätte etwas passieren können. Ihr Verstand
schreckte vor dieser Möglichkeit zurück, und stattdessen stieg in
ihr die Erinnerung an geschwärzte Wände auf. Etwas anderes war
passiert. Nicht das, was der Sachakaner beabsichtigt hatte. Etwas
Machtvolles und Zerstörerisches. Aber was? Magie? Plötzlich
ergab alles einen Sinn. Lord Dakon. Er musste etwas gehört haben
und war zu ihrer Rettung gekommen.
Aber er ist erst eingetroffen, nachdem es
geschehen war.
Das bedeutete nicht, dass er nicht von einem
anderen Teil des Hauses aus eingegriffen haben konnte. Das würde
die Zerstörung erklären. Der Magier hätte den Raum nicht derart
verwüstet, hätte er sehen können, wohin er seine Macht richtete. Er
hatte blind gearbeitet.
Ich schulde ihm Dank, dachte sie. Er hat
eine Menge teurer Dinge zerstört, um mich zu retten. Kein Wunder,
dass er mich so eigenartig angesehen hat. Er hat ein Wort des
Dankes erwartet, und ich bin lediglich nach Hause
gestürmt.
Sie holte tief Atem und stieß die Luft langsam
wieder aus. Zumindest war es ihr gelungen, vorher den Sklaven zu
behandeln. Beim nächsten Mal würde sie nicht allein ins Herrenhaus
gehen. Sie würde jeden Augenblick, den sie dort war, an der Seite
ihres Vaters bleiben. Schließlich schloss sie die Augen, ergab sich
der Erschöpfung und schlief ein.