5
Das Haus, in dem Veran der Heiler mit
seiner Familie lebte, war eins von dreien, die Dakons Vater vor
über dreißig Jahren hatte errichten lassen, um tüchtige Männer ins
Dorf zu locken. Während Dakon das schlichte, solide Gebäude nun mit
kritischem Blick musterte, stellte er zu seiner Freude fest, dass
es keine Anzeichen von Verfall zeigte. Er verließ sich darauf, dass
die Bewohner ihm Bescheid gaben, wenn Reparaturarbeiten notwendig
wurden. Einige Dörfler waren zu schüchtern, zu stolz oder sogar zu
unwissend, um solcherlei Unterstützung zu erbitten, und
infolgedessen waren einige der Häuser in keinem gutem
Zustand.
Dakons und Verans Väter waren viele Jahre lang enge
Freunde gewesen. Lord Yerven hatte in Imardin den alten,
eigensinnigen
Heiler Berin kennengelernt und war so beeindruckt von ihm gewesen,
dass er ihm eine Position in seinem Lehen angeboten hatte. Während
seiner Kindheit war Dakon nicht klar gewesen, dass diese
Freundschaft für zwei Männer, die nach Rang und Alter so
verschieden waren, etwas Ungewöhnliches darstellte. Der
Altersunterschied von zwölf Jahren war das geringere Hindernis
gewesen, da beide Männer nicht mehr jung waren, aber eine enge
Freundschaft, die überdauerte, obwohl einer der Beteiligten ein
Untergebener war und der andere der ortsansässige Magier und Lord,
war selten.
Als Dakons Vater vor fünf Jahren im Alter von
siebenundsiebzig Jahren gestorben war, war Berin ihm weniger als
ein Jahr darauf gefolgt. Obwohl Yerven noch spät im Leben Kinder
bekommen hatte und der Altersunterschied zwischen Dakon und Veran
geringer war, waren sie doch nie mehr gewesen als Bekannte.
Wir mögen keine engen Freunde sein, aber wir
haben großen Respekt voreinander, dachte er. Zumindest hoffe
ich, dass er weiß, wie sehr ich ihn schätze. Er hob die Hand,
um an die Tür zu klopfen, dann erstarrte er. Soll ich ihm sagen,
was meiner Meinung nach zu Tessias spontanem Ausbruch von Magie
geführt hat?
Nein, beschloss er. Ich kann mir nicht
sicher sein, was sie und Takado getan haben. Ich bezweifle, dass es
von Tessia ausgegangen ist oder dass es ihr auch nur willkommen
gewesen wäre. Trotzdem sollte ich es Tessia überlassen zu
entscheiden, wie viel irgendjemand über die Situation erfährt. Und
ich könnte mich irren. Es ist durchaus möglich, wenn auch höchst
unwahrscheinlich, dass sie den ersten Schritt getan hat.
Er klopfte, und nach kurzer Zeit wurde die Tür
geöffnet. Tessias Mutter, Lasia, stand vor ihm. Sie hob eine kleine
Lampe.
»Lord Dakon«, sagte sie. »Möchtet Ihr
hereinkommen?«
»Ja, danke«, antwortete er. Er trat ein, blickte
durch eine offene Tür auf der rechen Seite in eine gemütliche Küche
mit frisch gespültem Geschirr auf dem Tisch. Die Tür gegenüber war
geschlossen, aber von früheren Besuchen wusste er, dass dahinter
Verans Arbeitszimmer lag. Berin hatte den Raum für denselben Zweck
genutzt. Lasia klopfte an die Tür und rief
nach ihrem Mann. Aus dem Raum kam eine gedämpfte Antwort.
»Kommt doch ins Wohnzimmer, Lord Dakon«, drängte
sie ihn und führte ihn zum Ende des kurzen Flurs.
Lasia öffnete eine weitere Tür und trat zurück, um
ihn vorausgehen zu lassen. Er kam in einen kleinen, leicht modrig
riechenden Raum, in dem mehrere alte Sessel standen, außerdem
einige stabile Holztruhen und Tische. Lasia, die ihm gefolgt war,
bot ihm einen Sessel an, dann entzündete sie eine weitere Lampe.
Schritte im Flur kündigten Verans Erscheinen an.
»Ist Tessia hier?«, fragte er.
Lasia nickte. »Sie schläft. Ich habe vor dem Essen
nach ihr gesehen, aber sie ist nicht aufgewacht. Sie ist
offensichtlich sehr erschöpft.«
Dakon nickte. Soll ich sie bitten, sie zu
wecken? Wenn ich es nicht tue, werde ich Tessia alles noch einmal
erklären müssen. Aber wahrscheinlich brauchte sie den Schlaf
nach all der Arbeit in der vergangenen Nacht und den Überraschungen
des Tages.
»Tessia war heute im Herrenhaus«, begann
Dakon.
»Ja. Dafür möchten wir uns entschuldigen«,
unterbrach Lasia ihn. »Sie hätte auf ihren Vater warten sollen,
aber wir haben geschlafen, und ich nehme an, sie dachte, sie tue
Veran einen Gefallen. Manchmal denke ich, sie hat keine Ahnung von
schicklichen Manieren oder schlimmer noch: Sie weiß es, zieht es
aber vor...«
»Ich habe kein Problem damit, dass sie allein ins
Herrenhaus kommt«, versicherte Dakon. »Das ist nicht der Grund,
warum ich hier bin.«
Veran hatte während der Entschuldigung seiner Frau
eine Hand auf ihren Arm gelegt. Jetzt sah er Dakon mit
hochgezogenen Augenbrauen an.
»Geht es um den Sklaven? Hat sein Zustand sich
verschlechtert?«
»Nein.« Dakon schüttelte den Kopf. »Er ist wach und
hat es geschafft, ein wenig Suppe zu essen. Tessia meinte, seine
Genesung mache gute Fortschritte.« Dakon hielt inne. »Es ist das,
was anschließend geschehen ist, worüber ich mit Euch reden
muss.«
Die Eheleute tauschten einen Blick, dann sahen sie
Dakon erwartungsvoll an.
»Als sie das Herrenhaus verlassen hat, wurde Tessia
von meinem ehemaligen Gast... überrascht«, fuhr Dakon fort. »Von
dem Sachakaner. Ich denke, er hat ihr Angst gemacht. Sie könnte
daraufhin etwas ziemlich Außerordentliches getan haben, aber
möglicherweise irre ich mich auch.«
Lasias Augen weiteten sich. Veran runzelte die
Stirn. »Wovon sprecht Ihr?«
»Ich denke, sie hat Magie eingesetzt.«
Die beiden starrten ihn lange an, und als Veran die
Bedeutung dieser Worte dämmerte, trat ein breites Grinsen in sein
Gesicht. Lasia war bleich geworden, aber plötzlich stieg helle Röte
in ihre Wangen, und ihre Augen leuchteten vor Aufregung.
Mittlerweile hatte Veran sein Lächeln unterdrückt und war ernst
geworden.
»Ihr seid Euch unsicher, nicht wahr?«, fragte
er.
Dakon schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist möglich,
dass Takado den Anschein erwecken wollte, als habe sie Magie
benutzt. Vielleicht sollte es ein eigenartiger Scherz sein.
Aber...«
»Ich dachte, Ihr hättet das getan!« Alle
zuckten vor Überraschung zusammen. Die Stimme, weiblich und voller
Erstaunen, kam von der Tür des Raumes. Sie drehten sich um und
sahen Tessia dort stehen. Das Mädchen starrte Lord Dakon an. »Dann
war er es also?«
»Tessia!«, rief Lasia. »Benutze Lord Dakons Namen,
wenn du ihn ansprichst.«
Die junge Frau schaute zu ihrer Mutter hinüber,
dann sah sie Dakon entschuldigend an.
»Tut mir leid, Lord Dakon.«
»Ich nehme die Entschuldigung an. Wie du erraten
hast, bin ich hier, um zu ermitteln, ob du heute Morgen Magie
benutzt hast oder nicht.«
Sie blickte plötzlich unbehaglich drein. »Das war
nicht ich … oder?«
»Es ist möglich. Wir werden es mit Bestimmtheit
wissen, wenn ich dich prüfe.«
»Wie... wie macht Ihr das?«
»Ein nicht ausgebildeter natürlicher Magier kann
nicht verhindern, dass Magie aus seinem Geist fließt. Ich sollte in
der Lage sein, dies durch eine vorsichtige Suche
festzustellen.«
»Ihr wollt meine Gedanken lesen?« Ihre Augen
weiteten sich.
»Nein. Es ist nicht nötig, dass ich in deine
Gedanken eindringe, ich werde nur am Rand sitzen und nach einem
Leck Ausschau halten.«
»Nach einem Leck?« Veran sah seine Tochter an. »Ihr
Magier habt einige interessante Ausdrücke. Aber keine besonders
beruhigenden.«
»Das sollten sie in diesem Fall auch nicht sein«,
erwiderte Dakon. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit
herauszufinden, ob Tessia Magie benutzen kann: abwarten, bis sie es
wieder tut. Diese Vorgehensweise führt im Allgemeinen zu teuren
Hausreparaturen, daher kann ich sie nicht empfehlen.«
Tessia blickte zu Boden. »Tut mir leid, was
geschehen ist... wenn ich es war.«
Dakon lächelte sie an. »Mir haben die Farben in
diesem Raum ohnehin nie gefallen. Das Rosa war zu... orange.« Sie
lächelte nicht, und er begriff, dass sie zu nervös war, um der
Situation etwas Komisches abgewinnen zu können.
»Also... Was muss ich tun?«, fragte sie.
Er sah sich um, dann zog er mit Hilfe von Magie
einen der kleineren Stühle zu sich heran, sodass er ihm
gegenüberstand. Veran kicherte und bedachte Dakon mit einem
wissenden Blick. Diese kleine Demonstration, was Tessia vielleicht
würde tun können, wenn sie sich willig zeigte, war dem Heiler
keineswegs entgangen.
»Du wirst es bequemer finden, wenn du dich setzt«,
lud Dakon sie ein. Tessia gehorchte. »Schließ die Augen und
versuche, deinen Geist ganz still und ruhig werden zu lassen. Das
ist im Augenblick wahrscheinlich nicht einfach, aber du musst es
versuchen. Es hilft, wenn du langsam ein- und ausatmest.«
Sie tat, was er vorgeschlagen hatte. In dem vollen
Bewusstsein, dass ihre Eltern zusahen, legte er die Finger sachte
links und rechts auf ihre Stirn und schloss ebenfalls die Augen.
Dann sandte er seinen Geist aus.
Er brauchte nur einen Moment, um zu finden, was er
suchte. Magie entströmte ihr, sanft, aber mit gelegentlichen
kleinen Ausbrüchen, die auf eine größere Quelle der Macht schließen
ließen. Der Ausdruck »Leck« war wahrhaft ein guter, um zu
beschreiben, was er spürte. Der Ausdruck war hier aber nicht so
sehr auf ein kleines Gefäß gemünzt, das etwas Wein verlor, sondern
auf die Ritzen in einem Damm, durch die das Wasser zu brechen
begann. Ritzen, die vor unmittelbarem Versagen warnten, vor Flut
und Zerstörung all dessen, was ihr im Weg stand.
Schließlich ließ er Tessia los und öffnete die
Augen. Sie riss ihrerseits die Augen auf und starrte ihn
erwartungsvoll an. Wie immer erstaunte es ihn, dass ein einfaches
menschliches Wesen solche Macht in sich tragen konnte. Wie alle
neuen Meisterschüler hatte sie keine Ahnung von ihrem eigenen
Potenzial. Nicht einmal der gebildetste, ehrgeizigste
Meisterschüler wusste die grenzenlosen Möglichkeiten, die dieses
Potenzial bot, wahrhaft zu schätzen, ebenso wenig wie die
unausweichlichen Grenzen, die es mit sich brachte.
»Ja, du besitzt magische Fähigkeit«, erklärte er
ihr. »In reichem Maße, nach dem, was ich gesehen habe.«
Ihre beiden Eltern stießen den Atem aus, den sie
angehalten hatten, dann begann Lasia, aufgeregt zu plappern.
»Ausgerechnet… Was für ein erstaunliches Glück!
Dies hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Sie ist noch
nicht bereit zu heiraten, das liebe Kind, und dies wird ihr Zeit
geben... Und was für einen Ehemann sie jetzt bekommen könnte. Oh!
Aber wie lange wird es dauern, bis sie heiraten kann? Ich nehme an,
sie muss vorher Magierin werden. Was...?«
»Mutter!«, platzte Tessia heraus. »Hör auf,
so zu reden, als sei ich nicht hier!«
Lasia hielt inne, dann tätschelte sie
entschuldigend die
Hand ihrer Tochter. »Tut mir leid, Liebes. Aber ich bin so
aufgeregt für dich. Keine weiteren...« Sie sah ihren Mann an.
»Keine weiteren törichten Ideen, dass du einmal Heilerin werden
willst.«
Veran runzelte die Stirn, dann wandte er sich an
Dakon. »Ich nehme an, Tessia wird ins Herrenhaus ziehen
müssen.«
Dakon dachte kurz nach, dann nickte er. »Es wäre
besser. Vor allem zu Anfang, wenn sie noch wenig Kontrolle über
ihre Macht hat. Wenn ich da bin, wenn sie sie einsetzt, kann ich
den Schaden möglichst gering halten.«
»Natürlich«, sagte Veran. »Aber ich würde Euch gern
um eine Gefälligkeit bitten. Ich habe erwogen, einen Jungen aus dem
Dorf als Lehrling zu mir zu nehmen. Wie es scheint, muss ich das
jetzt tatsächlich tun. Aber es wird seine Zeit dauern, ihn so weit
auszubilden, dass er auch nur die Hälfte von Tessias Fähigkeiten,
Kenntnissen und Erfahrungen besitzt. Darf ich sie mir ab und zu
ausborgen?«
Dakon lächelte. »Selbstverständlich. Nach all der
guten Arbeit, die Ihr getan habt, kann ich Euch diese Bitte wohl
kaum abschlagen.«
»Könnte...?«, begann Tessia, bevor sie unter einem
strengen Blick ihrer Mutter ins Stocken geriet. Als sie nicht
weitersprach, bedeutete Dakon ihr, ihren Satz zu beenden. Sie
seufzte. »Kann ein Magier trotzdem Heilkunst studieren und
ausüben?«
»Nein, Tessia, das ist...«, setzte ihre Mutter
an.
»Natürlich«, antwortete Dakon. »Die meisten Magier
haben persönliche Interessen und Lieblingsprojekte. Aber«, fügte er
hinzu, »an dieser Stelle muss dein erstes Augenmerk dem Bemühen
gelten zu lernen, deine Macht zu kontrollieren. Es ist das, was wir
Magier den Preis der Magie nennen. Du musst Kontrolle lernen, weil
deine Magie, wenn du es nicht tust, dich irgendwann töten wird. Und
wenn das geschieht, wird sie nicht nur dich zerstören, sondern eine
Menge von dem, was dich zu diesem Zeitpunkt umgibt. Bei der Stärke
deiner Macht ist es unwahrscheinlich, dass es sich nur um ein
einzelnes Zimmer handeln würde.«
Tessias Augen weiteten sich. Ihre Eltern tauschten
einen grimmigen Blick. Sie schluckte und nickte. »Dann sollte ich
besser schnell lernen.«
Dakon lächelte. »Ich bin davon überzeugt, dass du
das tun wirst. Ich fürchte, bevor du eine richtige Magierin bist,
wirst du nicht viel Gelegenheit dazu haben, eigenen Interessen oder
Lieblingsprojekten deine volle Aufmerksamkeit zu schenken«, fügte
Dakon hinzu. »Die Ausbildung eines Magiers erfordert im Allgemeinen
viele Jahre des Studiums.«
Ihre Schultern sanken ein wenig herab, aber um ihre
Lippen spielte ein entschlossenes Lächeln. »Ich lerne schnell«,
erwiderte sie. »Nicht wahr, Vater?«
Veran lachte. »Du machst deine Sache recht gut,
obwohl ich denke, dass du dir nicht mehr so sicher wärest, wenn du
sehen würdest, was für ein Arbeitspensum ein Anfänger an der
Heileruniversität hat. Ich weiß nicht, ob Meisterschüler eines
Magiers ebenso viel harte Arbeit leisten müssen.« Er sah Dakon
fragend ab.
»Ich bezweifle es«, gab Dakon zu. »Wir ziehen ein
stetiges Tempo vor. Es ist von größter Wichtigkeit sicherzustellen,
dass ein Schüler jede Lektion zur Gänze verstanden hat, bevor wir
zur nächsten weitergehen. Hastiges Lernen kann zu Fehlern führen.
Und magische Fehler neigen dazu, spektakulärer zu sein als Fehler
in der Heilkunst. Mein Vater hat diese Begründung stets benutzt, um
zu erklären, warum Meisterschüler der Magie weit weniger trinken
als die Studenten der Heilkunst.«
Veran grinste. »›Heiler wachen mit einem
Brummschädel auf‹, pflegte er zu sagen. ›Wenn Magier mit einem
Brummschädel aufwachen, sind unsere Zehen schwarz verbrannt, und
das Haus hat kein Dach mehr‹.«
»Oje«, murmelte Lasia und verdrehte die Augen.
»Jetzt geht es los. Genau wie ihre Väter.«
Tessia blickte mit verwunderter Miene zwischen
ihrem Vater und Dakon hin und her. Dakon wurde schnell wieder
ernst. Das Mädchen war wahrscheinlich immer noch überrascht von der
Neuigkeit, dass sie Magierin werden würde. Sie brauchte Zeit, um
über ihre Zukunft nachzudenken, und wahrscheinlich
wäre sie dankbar für ein wenig Zeit mit ihrer Familie, bevor sie
in ihr neues Leben trat.
»Also, wann nehmen Sie meine Tochter zu sich?«,
fragte Veran, dessen Gedanken offensichtlich den gleichen Weg
nahmen.
»Morgen?«, schlug Dakon vor. Veran sah Lasia an,
die nickte.
»Zu irgendeiner bestimmten Zeit?«
»Nein. Wann immer es Euch allen passt.« Dakon hielt
inne. »Obwohl ich denke, es wäre ein schöner Anlass für ein
gemeinsames Mahl. Warum kommt Ihr nicht einige Stunden vor Einbruch
der Abenddämmerung ins Herrenhaus? Tessia kann sich in ihrem neuen
Zuhause einrichten, und dann könnt Ihr alle mit Jayan und mir
speisen.«
Lasias Augen leuchteten auf, und sie sah Veran
erwartungsvoll an. Der Heiler nickte. »Es wäre uns eine
Ehre.«
Dakon erhob sich. »Dann werde ich Euch jetzt allein
lassen, damit Ihr die notwendigen Vorkehrungen treffen könnt.
Außerdem muss ich den Dienern Bescheid geben, dass es ab morgen
einen neuen Bewohner im Herrenhaus geben wird, und Cannia wird
wahrscheinlich reichlich Zeit haben wollen, um das Mahl zu planen.«
Als die anderen aufstanden, lächelte er. »Es ist eine unerwartete
Wendung der Ereignisse, aber eine angenehme für uns alle, hoffe
ich. Seid unbesorgt, Tessia wird die Kontrolle über ihre Macht
gewinnen. Es ist ein Teil der Ausbildung, mit dem wir alle
anfangen, ob unsere Kräfte sich natürlich entwickeln oder mit
Anleitung.« Er sah Tessia an. »Du wirst es im Handumdrehen
beherrschen.«
Tessia saß in der Fensternische und beobachtete,
wie ihre Mutter sorgfältig Kleider zusammenlegte und sie mit
zahlreichen anderen Besitztümern in eine Truhe packte. Im Raum roch
es nach dem wohlduftenden, harzigen Holz der Truhe, ein Geruch, der
nicht unangenehm war, aber dennoch seltsam, wie ein Fremder, der in
die Privatheit ihres Mädchenzimmers trat.
Ihre Mutter richtete sich auf und betrachtete ihr
Werk, dann
schnaubte sie und wedelte mit den Händen, als ihr etwas einfiel.
Ohne eine Erklärung eilte sie zur Tür hinaus.
Tessia blickte aus dem Fenster. Die Welt glitzerte,
da die Nachmittagssonne Tröpfchen des vorangegangenen Regengusses
aufleuchten ließ. Das Gemüsebeet in ihrem Garten war fast
abgeerntet, aber wenn sie genau hinschaute, konnte sie sehen, dass
die Beete mit Wintergemüse einen dünnen grünen Pelz neuer
Schösslinge trugen, die glücklich darüber waren, regelmäßig Wasser
zu bekommen.
Als sie Schritte die Treppe heraufkommen hörte,
wandte Tessia sich der Tür zu. Ihr Vater lächelte und trat ein. Sie
bemerkte die Falten um seinen Mund und seine Augen, und auch seine
leicht herabhängenden Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass
ihr diese Dinge auffielen, und wie immer weckten sie in ihr eine
wehmütige Traurigkeit. Er wird nicht jünger, aber das tut
schließlich niemand.
Sein Blick wanderte zu der Truhe. »Denkst du, du
bist so weit?«
Sie zuckte die Achseln. »Diese Frage kann dir nur
Mutter beantworten.«
Er lächelte schief. »In der Tat. Aber bist
du so weit? Hast du dich schon an den Gedanken gewöhnt,
Magierin zu werden?«
Seufzend ging sie zum Bett hinüber.
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Muss ich ins Herrenhaus
ziehen?«
Er sah sie einen Moment lang schweigend an, bevor
er antwortete. »Ja. Wenn deine Magie so gefährlich ist, wie Lord
Dakon sagt, möchte er dich wahrscheinlich an einem Ort
unterbringen, an dem andere keinem Risiko ausgesetzt sind. Es wird
einfacher für ihn sein, alle zu beschützen, wenn er dich in der
Nähe hat.«
»Aber ich werde nicht zurückkommen, wenn ich
gelernt habe, meine Magie zu kontrollieren«, stellte sie
fest.
Er sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht. Du hast viel zu lernen.«
»Ich könnte trotzdem hier wohnen und zum Unterricht
ins Herrenhaus gehen.«
»Du bist jetzt Meisterschülerin eines Magiers«,
erklang eine andere Stimme. Tessia blickte zu ihrer Mutter auf, die
in der Tür stand. »Es ist deinem Rang angemessen, dass du ins
Herrenhaus übersiedelst.«
Tessia wandte den Blick ab. Ihr Rang war ihr
gleichgültig, aber es hatte keinen Sinn, Einwände zu erheben.
Stattdessen wandte sie sich wieder zu ihrem Vater um. »Du wirst
nach mir schicken, wenn du mich brauchst, nicht wahr? Du wirst
nicht zögern, weil du dir Sorgen machst, du könntest den Unterricht
unterbrechen oder irgendetwas?«
»Natürlich nicht«, versicherte er ihr. Dann
lächelte er. »Ich verspreche, nach dir zu schicken, wenn ich dich
brauche, solange du darauf vertraust, dass ich es beurteilen kann,
ob ich dich wirklich brauche... und mir versprichst, keinen
Unterricht zu schwänzen.«
»Vater!«, protestierte Tessia. »Ich bin kein Kind
mehr.«
»Nein, aber ich weiß, dass du absolut erwachsene
Gründe finden wirst, um der Fürsorge für die Dorfbewohner größere
Bedeutung beizumessen als dem Erlernen der Magie.« Seine Miene
wurde ernst. »Es gibt andere Möglichkeiten, dem Dorf zu helfen,
Tessia. Und Magie ist eine davon. Sie ist wichtiger, weil sie
selten ist, und weil wir in solcher Nähe zur Grenze leben. Eines
Tages wirst du vielleicht mehr Dorfbewohner retten, indem du sie
verteidigst, als du es jemals tun könntest, indem du sie
heilst.«
»Das bezweifele ich«, sagte sie höhnisch. »Die
Sachakaner würden sich nicht die Mühe machen, Kyralia noch einmal
zu erobern.«
»Nicht wenn es mächtige Magier gibt, die unsere
Grenzen beschützen.«
Tessia verzog das Gesicht. »Ich kann mir nicht
vorstellen, dass eine noch so umfangreiche Ausbildung mich zu einer
Kämpferin machen wird, Vater. Das ist es nicht, worauf ich mich
verstehe.«
Ich verstehe mich auf die Heilkunst, hätte
sie gern gesagt. Aber obwohl sie eigentlich entsetzt über die
Entdeckung hätte sein müssen, dass sie Magierin werden sollte, traf
dies keineswegs
zu. Vielleicht weil es nicht bedeutet, dass ich alle Hoffnungen
aufgeben muss, Heilerin zu werden, dachte sie. Es wird nur
länger dauern. Ich brauche nur alles Notwendige zu lernen, um
Magierin zu werden. Danach werde ich frei sein, um mich als
Heilerin ausbilden zu lassen. Viel freier, als ich es zuvor war,
weil Magier tun können, was immer sie wollen. Nun, solange sie
damit keine Gesetze brechen.
Vielleicht würde das Erlernen der Magie ihr andere
Möglichkeiten eröffnen, Menschen zu heilen. Vielleicht konnte sie
Magie zum Heilen benutzen. Die Möglichkeiten waren aufregend.
»Es ist nicht an dir zu entscheiden, worauf du dich
im Augenblick gut verstehst«, sagte ihre Mutter streng. »Lord Dakon
wird kaum die Absicht gehabt haben, einen weiteren Meisterschüler
anzunehmen. Du wirst weder seine Zeit noch seine Mittel
verschwenden. Hast du gehört?«
Tessia lächelte. »Ja, Mutter.«
Ihr Vater räusperte sich. »Ist es schon Zeit, die
Truhe nach unten zu tragen?«
»Nein.« Die Falte auf der Stirn ihrer Mutter
verschwand. »Dies hier muss noch hinein.« In der Hand hielt sie
eine flache Schachtel, die etwa so groß war wie ein dünnes Buch.
Statt sie in die Truhe zu legen, reichte sie sie Tessia.
Als Tessia die Schachtel entgegennahm, erkannte sie
sie und erschrak. »Dein Schmuck? Warum? Soll ich ihn für dich
sicher aufbewahren?«
»Du sollst ihn tragen«, korrigierte ihre Mutter
sie. »Ich wollte eigentlich warten, bis du ein wenig Interesse
zeigst, einen Ehemann zu finden, bevor ich dir den Schmuck gebe …
Aber es sieht so aus, als würde das warten müssen. Jetzt, da du
Umgang mit wohlhabenden und einflussreichen Menschen pflegen wirst,
wirst du auf jeden Fall etwas Schmuck brauchen.«
»Aber… er gehört dir. Vater hat ihn dir
geschenkt.« Sie schaute zu ihrem Vater hinüber und sah, dass sein
Gesicht einen zustimmenden, beinahe selbstgefälligen Ausdruck
zeigte.
»Und jetzt gehört er dir«, sagte ihre Mutter
entschieden. »Außerdem sieht er bei mir inzwischen lächerlich aus.
Er ist
für ein jüngeres Gesicht gemacht.« Sie nahm Tessia die Schachtel
ab, legte sie in die Truhe und schloss dann den Deckel.
Tessia öffnete den Mund, um zu protestieren, dann
schloss sie ihn wieder. Sie wusste, dass sie diese
Auseinandersetzung nicht für sich entscheiden konnte. Vielleicht
würde sie ihre Mutter ein andermal, wenn sie nicht in dieser
Stimmung war, dazu überreden können, den Schmuck zurückzunehmen.
Die Vorstellung war lächerlich, dass sie ihn brauchen würde, um
wohlhabende, einflussreiche Menschen zu beeindrucken. Eine solche
Beschreibung traf auf niemanden im Dorf zu, mit Ausnahme einer
Person: Lord Dakon.
Plötzlich beschlich sie ein unbehagliches
Gefühl.
Mutter will doch gewiss nicht... Sie könnte
nicht... Es ist ausgeschlossen, dass sie... Aber der
Altersunterschied ist...
Doch sie kannte ihre Mutter nur allzu gut.
Es ist zu offenkundig, um es zu leugnen. Sie
schloss die Augen und fluchte im Stillen. Mutter hofft, dass ich
Lord Dakon heiraten werde.