007
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Das Haus, in dem Veran der Heiler mit seiner Familie lebte, war eins von dreien, die Dakons Vater vor über dreißig Jahren hatte errichten lassen, um tüchtige Männer ins Dorf zu locken. Während Dakon das schlichte, solide Gebäude nun mit kritischem Blick musterte, stellte er zu seiner Freude fest, dass es keine Anzeichen von Verfall zeigte. Er verließ sich darauf, dass die Bewohner ihm Bescheid gaben, wenn Reparaturarbeiten notwendig wurden. Einige Dörfler waren zu schüchtern, zu stolz oder sogar zu unwissend, um solcherlei Unterstützung zu erbitten, und infolgedessen waren einige der Häuser in keinem gutem Zustand.
Dakons und Verans Väter waren viele Jahre lang enge Freunde gewesen. Lord Yerven hatte in Imardin den alten, eigensinnigen Heiler Berin kennengelernt und war so beeindruckt von ihm gewesen, dass er ihm eine Position in seinem Lehen angeboten hatte. Während seiner Kindheit war Dakon nicht klar gewesen, dass diese Freundschaft für zwei Männer, die nach Rang und Alter so verschieden waren, etwas Ungewöhnliches darstellte. Der Altersunterschied von zwölf Jahren war das geringere Hindernis gewesen, da beide Männer nicht mehr jung waren, aber eine enge Freundschaft, die überdauerte, obwohl einer der Beteiligten ein Untergebener war und der andere der ortsansässige Magier und Lord, war selten.
Als Dakons Vater vor fünf Jahren im Alter von siebenundsiebzig Jahren gestorben war, war Berin ihm weniger als ein Jahr darauf gefolgt. Obwohl Yerven noch spät im Leben Kinder bekommen hatte und der Altersunterschied zwischen Dakon und Veran geringer war, waren sie doch nie mehr gewesen als Bekannte.
Wir mögen keine engen Freunde sein, aber wir haben großen Respekt voreinander, dachte er. Zumindest hoffe ich, dass er weiß, wie sehr ich ihn schätze. Er hob die Hand, um an die Tür zu klopfen, dann erstarrte er. Soll ich ihm sagen, was meiner Meinung nach zu Tessias spontanem Ausbruch von Magie geführt hat?
Nein, beschloss er. Ich kann mir nicht sicher sein, was sie und Takado getan haben. Ich bezweifle, dass es von Tessia ausgegangen ist oder dass es ihr auch nur willkommen gewesen wäre. Trotzdem sollte ich es Tessia überlassen zu entscheiden, wie viel irgendjemand über die Situation erfährt. Und ich könnte mich irren. Es ist durchaus möglich, wenn auch höchst unwahrscheinlich, dass sie den ersten Schritt getan hat.
Er klopfte, und nach kurzer Zeit wurde die Tür geöffnet. Tessias Mutter, Lasia, stand vor ihm. Sie hob eine kleine Lampe.
»Lord Dakon«, sagte sie. »Möchtet Ihr hereinkommen?«
»Ja, danke«, antwortete er. Er trat ein, blickte durch eine offene Tür auf der rechen Seite in eine gemütliche Küche mit frisch gespültem Geschirr auf dem Tisch. Die Tür gegenüber war geschlossen, aber von früheren Besuchen wusste er, dass dahinter Verans Arbeitszimmer lag. Berin hatte den Raum für denselben Zweck genutzt. Lasia klopfte an die Tür und rief nach ihrem Mann. Aus dem Raum kam eine gedämpfte Antwort.
»Kommt doch ins Wohnzimmer, Lord Dakon«, drängte sie ihn und führte ihn zum Ende des kurzen Flurs.
Lasia öffnete eine weitere Tür und trat zurück, um ihn vorausgehen zu lassen. Er kam in einen kleinen, leicht modrig riechenden Raum, in dem mehrere alte Sessel standen, außerdem einige stabile Holztruhen und Tische. Lasia, die ihm gefolgt war, bot ihm einen Sessel an, dann entzündete sie eine weitere Lampe. Schritte im Flur kündigten Verans Erscheinen an.
»Ist Tessia hier?«, fragte er.
Lasia nickte. »Sie schläft. Ich habe vor dem Essen nach ihr gesehen, aber sie ist nicht aufgewacht. Sie ist offensichtlich sehr erschöpft.«
Dakon nickte. Soll ich sie bitten, sie zu wecken? Wenn ich es nicht tue, werde ich Tessia alles noch einmal erklären müssen. Aber wahrscheinlich brauchte sie den Schlaf nach all der Arbeit in der vergangenen Nacht und den Überraschungen des Tages.
»Tessia war heute im Herrenhaus«, begann Dakon.
»Ja. Dafür möchten wir uns entschuldigen«, unterbrach Lasia ihn. »Sie hätte auf ihren Vater warten sollen, aber wir haben geschlafen, und ich nehme an, sie dachte, sie tue Veran einen Gefallen. Manchmal denke ich, sie hat keine Ahnung von schicklichen Manieren oder schlimmer noch: Sie weiß es, zieht es aber vor...«
»Ich habe kein Problem damit, dass sie allein ins Herrenhaus kommt«, versicherte Dakon. »Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin.«
Veran hatte während der Entschuldigung seiner Frau eine Hand auf ihren Arm gelegt. Jetzt sah er Dakon mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Geht es um den Sklaven? Hat sein Zustand sich verschlechtert?«
»Nein.« Dakon schüttelte den Kopf. »Er ist wach und hat es geschafft, ein wenig Suppe zu essen. Tessia meinte, seine Genesung mache gute Fortschritte.« Dakon hielt inne. »Es ist das, was anschließend geschehen ist, worüber ich mit Euch reden muss.«
Die Eheleute tauschten einen Blick, dann sahen sie Dakon erwartungsvoll an.
»Als sie das Herrenhaus verlassen hat, wurde Tessia von meinem ehemaligen Gast... überrascht«, fuhr Dakon fort. »Von dem Sachakaner. Ich denke, er hat ihr Angst gemacht. Sie könnte daraufhin etwas ziemlich Außerordentliches getan haben, aber möglicherweise irre ich mich auch.«
Lasias Augen weiteten sich. Veran runzelte die Stirn. »Wovon sprecht Ihr?«
»Ich denke, sie hat Magie eingesetzt.«
Die beiden starrten ihn lange an, und als Veran die Bedeutung dieser Worte dämmerte, trat ein breites Grinsen in sein Gesicht. Lasia war bleich geworden, aber plötzlich stieg helle Röte in ihre Wangen, und ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Mittlerweile hatte Veran sein Lächeln unterdrückt und war ernst geworden.
»Ihr seid Euch unsicher, nicht wahr?«, fragte er.
Dakon schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist möglich, dass Takado den Anschein erwecken wollte, als habe sie Magie benutzt. Vielleicht sollte es ein eigenartiger Scherz sein. Aber...«
»Ich dachte, Ihr hättet das getan!« Alle zuckten vor Überraschung zusammen. Die Stimme, weiblich und voller Erstaunen, kam von der Tür des Raumes. Sie drehten sich um und sahen Tessia dort stehen. Das Mädchen starrte Lord Dakon an. »Dann war er es also?«
»Tessia!«, rief Lasia. »Benutze Lord Dakons Namen, wenn du ihn ansprichst.«
Die junge Frau schaute zu ihrer Mutter hinüber, dann sah sie Dakon entschuldigend an.
»Tut mir leid, Lord Dakon.«
»Ich nehme die Entschuldigung an. Wie du erraten hast, bin ich hier, um zu ermitteln, ob du heute Morgen Magie benutzt hast oder nicht.«
Sie blickte plötzlich unbehaglich drein. »Das war nicht ich … oder?«
»Es ist möglich. Wir werden es mit Bestimmtheit wissen, wenn ich dich prüfe.«
»Wie... wie macht Ihr das?«
»Ein nicht ausgebildeter natürlicher Magier kann nicht verhindern, dass Magie aus seinem Geist fließt. Ich sollte in der Lage sein, dies durch eine vorsichtige Suche festzustellen.«
»Ihr wollt meine Gedanken lesen?« Ihre Augen weiteten sich.
»Nein. Es ist nicht nötig, dass ich in deine Gedanken eindringe, ich werde nur am Rand sitzen und nach einem Leck Ausschau halten.«
»Nach einem Leck?« Veran sah seine Tochter an. »Ihr Magier habt einige interessante Ausdrücke. Aber keine besonders beruhigenden.«
»Das sollten sie in diesem Fall auch nicht sein«, erwiderte Dakon. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit herauszufinden, ob Tessia Magie benutzen kann: abwarten, bis sie es wieder tut. Diese Vorgehensweise führt im Allgemeinen zu teuren Hausreparaturen, daher kann ich sie nicht empfehlen.«
Tessia blickte zu Boden. »Tut mir leid, was geschehen ist... wenn ich es war.«
Dakon lächelte sie an. »Mir haben die Farben in diesem Raum ohnehin nie gefallen. Das Rosa war zu... orange.« Sie lächelte nicht, und er begriff, dass sie zu nervös war, um der Situation etwas Komisches abgewinnen zu können.
»Also... Was muss ich tun?«, fragte sie.
Er sah sich um, dann zog er mit Hilfe von Magie einen der kleineren Stühle zu sich heran, sodass er ihm gegenüberstand. Veran kicherte und bedachte Dakon mit einem wissenden Blick. Diese kleine Demonstration, was Tessia vielleicht würde tun können, wenn sie sich willig zeigte, war dem Heiler keineswegs entgangen.
»Du wirst es bequemer finden, wenn du dich setzt«, lud Dakon sie ein. Tessia gehorchte. »Schließ die Augen und versuche, deinen Geist ganz still und ruhig werden zu lassen. Das ist im Augenblick wahrscheinlich nicht einfach, aber du musst es versuchen. Es hilft, wenn du langsam ein- und ausatmest.«
Sie tat, was er vorgeschlagen hatte. In dem vollen Bewusstsein, dass ihre Eltern zusahen, legte er die Finger sachte links und rechts auf ihre Stirn und schloss ebenfalls die Augen. Dann sandte er seinen Geist aus.
Er brauchte nur einen Moment, um zu finden, was er suchte. Magie entströmte ihr, sanft, aber mit gelegentlichen kleinen Ausbrüchen, die auf eine größere Quelle der Macht schließen ließen. Der Ausdruck »Leck« war wahrhaft ein guter, um zu beschreiben, was er spürte. Der Ausdruck war hier aber nicht so sehr auf ein kleines Gefäß gemünzt, das etwas Wein verlor, sondern auf die Ritzen in einem Damm, durch die das Wasser zu brechen begann. Ritzen, die vor unmittelbarem Versagen warnten, vor Flut und Zerstörung all dessen, was ihr im Weg stand.
Schließlich ließ er Tessia los und öffnete die Augen. Sie riss ihrerseits die Augen auf und starrte ihn erwartungsvoll an. Wie immer erstaunte es ihn, dass ein einfaches menschliches Wesen solche Macht in sich tragen konnte. Wie alle neuen Meisterschüler hatte sie keine Ahnung von ihrem eigenen Potenzial. Nicht einmal der gebildetste, ehrgeizigste Meisterschüler wusste die grenzenlosen Möglichkeiten, die dieses Potenzial bot, wahrhaft zu schätzen, ebenso wenig wie die unausweichlichen Grenzen, die es mit sich brachte.
»Ja, du besitzt magische Fähigkeit«, erklärte er ihr. »In reichem Maße, nach dem, was ich gesehen habe.«
Ihre beiden Eltern stießen den Atem aus, den sie angehalten hatten, dann begann Lasia, aufgeregt zu plappern.
»Ausgerechnet… Was für ein erstaunliches Glück! Dies hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Sie ist noch nicht bereit zu heiraten, das liebe Kind, und dies wird ihr Zeit geben... Und was für einen Ehemann sie jetzt bekommen könnte. Oh! Aber wie lange wird es dauern, bis sie heiraten kann? Ich nehme an, sie muss vorher Magierin werden. Was...?«
»Mutter!«, platzte Tessia heraus. »Hör auf, so zu reden, als sei ich nicht hier!«
Lasia hielt inne, dann tätschelte sie entschuldigend die Hand ihrer Tochter. »Tut mir leid, Liebes. Aber ich bin so aufgeregt für dich. Keine weiteren...« Sie sah ihren Mann an. »Keine weiteren törichten Ideen, dass du einmal Heilerin werden willst.«
Veran runzelte die Stirn, dann wandte er sich an Dakon. »Ich nehme an, Tessia wird ins Herrenhaus ziehen müssen.«
Dakon dachte kurz nach, dann nickte er. »Es wäre besser. Vor allem zu Anfang, wenn sie noch wenig Kontrolle über ihre Macht hat. Wenn ich da bin, wenn sie sie einsetzt, kann ich den Schaden möglichst gering halten.«
»Natürlich«, sagte Veran. »Aber ich würde Euch gern um eine Gefälligkeit bitten. Ich habe erwogen, einen Jungen aus dem Dorf als Lehrling zu mir zu nehmen. Wie es scheint, muss ich das jetzt tatsächlich tun. Aber es wird seine Zeit dauern, ihn so weit auszubilden, dass er auch nur die Hälfte von Tessias Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen besitzt. Darf ich sie mir ab und zu ausborgen?«
Dakon lächelte. »Selbstverständlich. Nach all der guten Arbeit, die Ihr getan habt, kann ich Euch diese Bitte wohl kaum abschlagen.«
»Könnte...?«, begann Tessia, bevor sie unter einem strengen Blick ihrer Mutter ins Stocken geriet. Als sie nicht weitersprach, bedeutete Dakon ihr, ihren Satz zu beenden. Sie seufzte. »Kann ein Magier trotzdem Heilkunst studieren und ausüben?«
»Nein, Tessia, das ist...«, setzte ihre Mutter an.
»Natürlich«, antwortete Dakon. »Die meisten Magier haben persönliche Interessen und Lieblingsprojekte. Aber«, fügte er hinzu, »an dieser Stelle muss dein erstes Augenmerk dem Bemühen gelten zu lernen, deine Macht zu kontrollieren. Es ist das, was wir Magier den Preis der Magie nennen. Du musst Kontrolle lernen, weil deine Magie, wenn du es nicht tust, dich irgendwann töten wird. Und wenn das geschieht, wird sie nicht nur dich zerstören, sondern eine Menge von dem, was dich zu diesem Zeitpunkt umgibt. Bei der Stärke deiner Macht ist es unwahrscheinlich, dass es sich nur um ein einzelnes Zimmer handeln würde.«
Tessias Augen weiteten sich. Ihre Eltern tauschten einen grimmigen Blick. Sie schluckte und nickte. »Dann sollte ich besser schnell lernen.«
Dakon lächelte. »Ich bin davon überzeugt, dass du das tun wirst. Ich fürchte, bevor du eine richtige Magierin bist, wirst du nicht viel Gelegenheit dazu haben, eigenen Interessen oder Lieblingsprojekten deine volle Aufmerksamkeit zu schenken«, fügte Dakon hinzu. »Die Ausbildung eines Magiers erfordert im Allgemeinen viele Jahre des Studiums.«
Ihre Schultern sanken ein wenig herab, aber um ihre Lippen spielte ein entschlossenes Lächeln. »Ich lerne schnell«, erwiderte sie. »Nicht wahr, Vater?«
Veran lachte. »Du machst deine Sache recht gut, obwohl ich denke, dass du dir nicht mehr so sicher wärest, wenn du sehen würdest, was für ein Arbeitspensum ein Anfänger an der Heileruniversität hat. Ich weiß nicht, ob Meisterschüler eines Magiers ebenso viel harte Arbeit leisten müssen.« Er sah Dakon fragend ab.
»Ich bezweifle es«, gab Dakon zu. »Wir ziehen ein stetiges Tempo vor. Es ist von größter Wichtigkeit sicherzustellen, dass ein Schüler jede Lektion zur Gänze verstanden hat, bevor wir zur nächsten weitergehen. Hastiges Lernen kann zu Fehlern führen. Und magische Fehler neigen dazu, spektakulärer zu sein als Fehler in der Heilkunst. Mein Vater hat diese Begründung stets benutzt, um zu erklären, warum Meisterschüler der Magie weit weniger trinken als die Studenten der Heilkunst.«
Veran grinste. »›Heiler wachen mit einem Brummschädel auf‹, pflegte er zu sagen. ›Wenn Magier mit einem Brummschädel aufwachen, sind unsere Zehen schwarz verbrannt, und das Haus hat kein Dach mehr‹.«
»Oje«, murmelte Lasia und verdrehte die Augen. »Jetzt geht es los. Genau wie ihre Väter.«
Tessia blickte mit verwunderter Miene zwischen ihrem Vater und Dakon hin und her. Dakon wurde schnell wieder ernst. Das Mädchen war wahrscheinlich immer noch überrascht von der Neuigkeit, dass sie Magierin werden würde. Sie brauchte Zeit, um über ihre Zukunft nachzudenken, und wahrscheinlich wäre sie dankbar für ein wenig Zeit mit ihrer Familie, bevor sie in ihr neues Leben trat.
»Also, wann nehmen Sie meine Tochter zu sich?«, fragte Veran, dessen Gedanken offensichtlich den gleichen Weg nahmen.
»Morgen?«, schlug Dakon vor. Veran sah Lasia an, die nickte.
»Zu irgendeiner bestimmten Zeit?«
»Nein. Wann immer es Euch allen passt.« Dakon hielt inne. »Obwohl ich denke, es wäre ein schöner Anlass für ein gemeinsames Mahl. Warum kommt Ihr nicht einige Stunden vor Einbruch der Abenddämmerung ins Herrenhaus? Tessia kann sich in ihrem neuen Zuhause einrichten, und dann könnt Ihr alle mit Jayan und mir speisen.«
Lasias Augen leuchteten auf, und sie sah Veran erwartungsvoll an. Der Heiler nickte. »Es wäre uns eine Ehre.«
Dakon erhob sich. »Dann werde ich Euch jetzt allein lassen, damit Ihr die notwendigen Vorkehrungen treffen könnt. Außerdem muss ich den Dienern Bescheid geben, dass es ab morgen einen neuen Bewohner im Herrenhaus geben wird, und Cannia wird wahrscheinlich reichlich Zeit haben wollen, um das Mahl zu planen.« Als die anderen aufstanden, lächelte er. »Es ist eine unerwartete Wendung der Ereignisse, aber eine angenehme für uns alle, hoffe ich. Seid unbesorgt, Tessia wird die Kontrolle über ihre Macht gewinnen. Es ist ein Teil der Ausbildung, mit dem wir alle anfangen, ob unsere Kräfte sich natürlich entwickeln oder mit Anleitung.« Er sah Tessia an. »Du wirst es im Handumdrehen beherrschen.«
 
Tessia saß in der Fensternische und beobachtete, wie ihre Mutter sorgfältig Kleider zusammenlegte und sie mit zahlreichen anderen Besitztümern in eine Truhe packte. Im Raum roch es nach dem wohlduftenden, harzigen Holz der Truhe, ein Geruch, der nicht unangenehm war, aber dennoch seltsam, wie ein Fremder, der in die Privatheit ihres Mädchenzimmers trat.
Ihre Mutter richtete sich auf und betrachtete ihr Werk, dann schnaubte sie und wedelte mit den Händen, als ihr etwas einfiel. Ohne eine Erklärung eilte sie zur Tür hinaus.
Tessia blickte aus dem Fenster. Die Welt glitzerte, da die Nachmittagssonne Tröpfchen des vorangegangenen Regengusses aufleuchten ließ. Das Gemüsebeet in ihrem Garten war fast abgeerntet, aber wenn sie genau hinschaute, konnte sie sehen, dass die Beete mit Wintergemüse einen dünnen grünen Pelz neuer Schösslinge trugen, die glücklich darüber waren, regelmäßig Wasser zu bekommen.
Als sie Schritte die Treppe heraufkommen hörte, wandte Tessia sich der Tür zu. Ihr Vater lächelte und trat ein. Sie bemerkte die Falten um seinen Mund und seine Augen, und auch seine leicht herabhängenden Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass ihr diese Dinge auffielen, und wie immer weckten sie in ihr eine wehmütige Traurigkeit. Er wird nicht jünger, aber das tut schließlich niemand.
Sein Blick wanderte zu der Truhe. »Denkst du, du bist so weit?«
Sie zuckte die Achseln. »Diese Frage kann dir nur Mutter beantworten.«
Er lächelte schief. »In der Tat. Aber bist du so weit? Hast du dich schon an den Gedanken gewöhnt, Magierin zu werden?«
Seufzend ging sie zum Bett hinüber.
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Muss ich ins Herrenhaus ziehen?«
Er sah sie einen Moment lang schweigend an, bevor er antwortete. »Ja. Wenn deine Magie so gefährlich ist, wie Lord Dakon sagt, möchte er dich wahrscheinlich an einem Ort unterbringen, an dem andere keinem Risiko ausgesetzt sind. Es wird einfacher für ihn sein, alle zu beschützen, wenn er dich in der Nähe hat.«
»Aber ich werde nicht zurückkommen, wenn ich gelernt habe, meine Magie zu kontrollieren«, stellte sie fest.
Er sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Du hast viel zu lernen.«
»Ich könnte trotzdem hier wohnen und zum Unterricht ins Herrenhaus gehen.«
»Du bist jetzt Meisterschülerin eines Magiers«, erklang eine andere Stimme. Tessia blickte zu ihrer Mutter auf, die in der Tür stand. »Es ist deinem Rang angemessen, dass du ins Herrenhaus übersiedelst.«
Tessia wandte den Blick ab. Ihr Rang war ihr gleichgültig, aber es hatte keinen Sinn, Einwände zu erheben. Stattdessen wandte sie sich wieder zu ihrem Vater um. »Du wirst nach mir schicken, wenn du mich brauchst, nicht wahr? Du wirst nicht zögern, weil du dir Sorgen machst, du könntest den Unterricht unterbrechen oder irgendetwas?«
»Natürlich nicht«, versicherte er ihr. Dann lächelte er. »Ich verspreche, nach dir zu schicken, wenn ich dich brauche, solange du darauf vertraust, dass ich es beurteilen kann, ob ich dich wirklich brauche... und mir versprichst, keinen Unterricht zu schwänzen.«
»Vater!«, protestierte Tessia. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Nein, aber ich weiß, dass du absolut erwachsene Gründe finden wirst, um der Fürsorge für die Dorfbewohner größere Bedeutung beizumessen als dem Erlernen der Magie.« Seine Miene wurde ernst. »Es gibt andere Möglichkeiten, dem Dorf zu helfen, Tessia. Und Magie ist eine davon. Sie ist wichtiger, weil sie selten ist, und weil wir in solcher Nähe zur Grenze leben. Eines Tages wirst du vielleicht mehr Dorfbewohner retten, indem du sie verteidigst, als du es jemals tun könntest, indem du sie heilst.«
»Das bezweifele ich«, sagte sie höhnisch. »Die Sachakaner würden sich nicht die Mühe machen, Kyralia noch einmal zu erobern.«
»Nicht wenn es mächtige Magier gibt, die unsere Grenzen beschützen.«
Tessia verzog das Gesicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine noch so umfangreiche Ausbildung mich zu einer Kämpferin machen wird, Vater. Das ist es nicht, worauf ich mich verstehe.«
Ich verstehe mich auf die Heilkunst, hätte sie gern gesagt. Aber obwohl sie eigentlich entsetzt über die Entdeckung hätte sein müssen, dass sie Magierin werden sollte, traf dies keineswegs zu. Vielleicht weil es nicht bedeutet, dass ich alle Hoffnungen aufgeben muss, Heilerin zu werden, dachte sie. Es wird nur länger dauern. Ich brauche nur alles Notwendige zu lernen, um Magierin zu werden. Danach werde ich frei sein, um mich als Heilerin ausbilden zu lassen. Viel freier, als ich es zuvor war, weil Magier tun können, was immer sie wollen. Nun, solange sie damit keine Gesetze brechen.
Vielleicht würde das Erlernen der Magie ihr andere Möglichkeiten eröffnen, Menschen zu heilen. Vielleicht konnte sie Magie zum Heilen benutzen. Die Möglichkeiten waren aufregend.
»Es ist nicht an dir zu entscheiden, worauf du dich im Augenblick gut verstehst«, sagte ihre Mutter streng. »Lord Dakon wird kaum die Absicht gehabt haben, einen weiteren Meisterschüler anzunehmen. Du wirst weder seine Zeit noch seine Mittel verschwenden. Hast du gehört?«
Tessia lächelte. »Ja, Mutter.«
Ihr Vater räusperte sich. »Ist es schon Zeit, die Truhe nach unten zu tragen?«
»Nein.« Die Falte auf der Stirn ihrer Mutter verschwand. »Dies hier muss noch hinein.« In der Hand hielt sie eine flache Schachtel, die etwa so groß war wie ein dünnes Buch. Statt sie in die Truhe zu legen, reichte sie sie Tessia.
Als Tessia die Schachtel entgegennahm, erkannte sie sie und erschrak. »Dein Schmuck? Warum? Soll ich ihn für dich sicher aufbewahren?«
»Du sollst ihn tragen«, korrigierte ihre Mutter sie. »Ich wollte eigentlich warten, bis du ein wenig Interesse zeigst, einen Ehemann zu finden, bevor ich dir den Schmuck gebe … Aber es sieht so aus, als würde das warten müssen. Jetzt, da du Umgang mit wohlhabenden und einflussreichen Menschen pflegen wirst, wirst du auf jeden Fall etwas Schmuck brauchen.«
»Aber… er gehört dir. Vater hat ihn dir geschenkt.« Sie schaute zu ihrem Vater hinüber und sah, dass sein Gesicht einen zustimmenden, beinahe selbstgefälligen Ausdruck zeigte.
»Und jetzt gehört er dir«, sagte ihre Mutter entschieden. »Außerdem sieht er bei mir inzwischen lächerlich aus. Er ist für ein jüngeres Gesicht gemacht.« Sie nahm Tessia die Schachtel ab, legte sie in die Truhe und schloss dann den Deckel.
Tessia öffnete den Mund, um zu protestieren, dann schloss sie ihn wieder. Sie wusste, dass sie diese Auseinandersetzung nicht für sich entscheiden konnte. Vielleicht würde sie ihre Mutter ein andermal, wenn sie nicht in dieser Stimmung war, dazu überreden können, den Schmuck zurückzunehmen. Die Vorstellung war lächerlich, dass sie ihn brauchen würde, um wohlhabende, einflussreiche Menschen zu beeindrucken. Eine solche Beschreibung traf auf niemanden im Dorf zu, mit Ausnahme einer Person: Lord Dakon.
Plötzlich beschlich sie ein unbehagliches Gefühl.
Mutter will doch gewiss nicht... Sie könnte nicht... Es ist ausgeschlossen, dass sie... Aber der Altersunterschied ist...
Doch sie kannte ihre Mutter nur allzu gut.
Es ist zu offenkundig, um es zu leugnen. Sie schloss die Augen und fluchte im Stillen. Mutter hofft, dass ich Lord Dakon heiraten werde.
Magie
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