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Nun, seht Ihr aber elegant aus.« Als Jayan sich umdrehte, sah er Malia in der Tür zu seinem Zimmer stehen. Sie betrachtete seine Kleidung und zog die Augenbrauen hoch. »Ist das also die neueste Mode in Imardin?«
Er kicherte und strich seine Robe glatt. Sie war fast lang genug, um den Boden zu berühren, und bedeckte die dazu passende Hose, die er darunter trug, fast zur Gänze. Beide waren aus einem dunkelgrünen, feinen Material, das leicht schimmerte.
»Das trägt man dort seit zwanzig Jahren«, antwortete er. »Es ist also wohl kaum die neueste Mode.«
»Tragen sowohl Männer als auch Frauen diese Gewänder?«
»Nein, nur Männer.«
Ihre Augenbrauen wanderten noch höher. »Dann würde ich schrecklich gern sehen, was die Frauen tragen.«
»Du würdest deinen Augen nicht trauen - und bitte mich nicht, die Kleider zu beschreiben. Dazu müsste ich zuerst ein vollkommen neues Vokabular erlernen.«
Endlich senkten ihre Augenbrauen sich wieder auf eine normale Höhe, und sie grinste. »Wenn ich Lord Dakon nicht eine ganz ähnliche Robe hätte tragen sehen, hätte ich mir so meine Gedanken über Euch gemacht, Meisterschüler Jayan. Geht besser nicht so ins Dorf, oder die Leute werden von hier bis zu den Bergen über Euch reden. Was unsere Gäste betrifft … Sie haben ihre Überraschung sehr gut verborgen, als sie Lord Dakon gesehen haben.« Sie hielt inne. »Sie sind übrigens alle im Speisezimmer.«
Mit anderen Worten: »Ihr seid spät dran«, dachte er. »Ich wollte mich gerade zu ihnen gesellen«, sagte er. »Das heißt, bis ich von einer neugierigen Dienerin aufgehalten wurde.«
Sie verdrehte die Augen, dann folgte sie seinem Fingerzeig und verschwand.
Jayan blickte an sich hinab, rückte die Schärpe zurecht, strich erneut einige Falten in der Robe glatt und folgte Malia dann den Flur entlang. Er betrachtete die Tür am Ende. Früh am Morgen hatten Diener den bislang unbenutzten Raum dahinter geöffnet, geputzt und Möbelstücke hineingebracht. Später am Tag hatte Jayan dann Stimmen durch seine geschlossene Tür gehört. Er war nicht hinausgegangen, um Tessia und ihre Familie zu begrüßen. Sie hatten anderes zu tun gehabt, als sich mit Dakons Meisterschüler bekannt zu machen. Mit Dakons anderem Meisterschüler.
Die Wahrheit war, Jayan hatte nicht den Wunsch verspürt, hinauszugehen und sie kennenzulernen. Er war sich nicht sicher, warum. Ich habe nichts gegen Tessia oder ihre Familie persönlich. Ich mag sie auch nicht besonders oder wünsche mir, ihren Beifall zu finden. Es war wichtiger, hatte er entschieden, seine Zeit auf das Studieren zu verwenden als auf Geselligkeiten. Je eher er ein Magier wurde, umso mehr Zeit würde Tessia schließlich mit Dakon verbringen können.
Es war nicht so, als käme sie aus einer wichtigen, mächtigen Familie, mit der er vielleicht freundschaftliche Beziehungen anknüpfen wollte. Dankenswerterweise war sie auch nicht die Tochter eines Landdieners oder Handwerkers, aber sie war eine Frau ohne Einfluss oder Verbindungen. Ihr Stand als Magierin würde sie eines Tages über das gemeine Volk erheben, aber das bedeutete nicht, dass sie anderen Magiern ebenbürtig sein würde.
Und genau aus diesem Grund ist es Dakon gegenüber unfair. Ihre Ausbildung wird ihm keine guten Verbindungen oder Dankesschulden eintragen wie die Übernahme meiner Ausbildung... Es sei denn vielleicht Respekt für etwas, das man als bewunderungswürdigen Akt der Barmherzigkeit ansehen mochte. Und wenn nicht das, dann Mitgefühl, dass er dem Gesetz bezüglich Naturtalenten gehorchen musste.
Würden die Menschen das gleiche Mitgefühl für Tessia empfinden? Ohne eine einflussreiche oder wohlhabende Familie hinter sich, würde sie wohl kaum die Gunst der mächtigen Männer und Frauen Kyralias erringen. Es war unwahrscheinlich, dass der König oder irgendjemand sonst ihr eine wichtige Position oder Aufgabe zuteilen würde. Ohne einen solchen Lohn oder eine entsprechende Stellung würde sie niemals ein großes Einkommen erzielen. All dies würde sie nicht zu einer begehrenswerten Ehefrau machen, daher würde sich auch kein Ehemann von Einfluss oder Wohlstand für sie finden.
Mit der Zeit und durch harte Arbeit würde sie vielleicht einige Verbündete und Freunde gewinnen und sich langsam einer Tätigkeit mit einem anständigen Einkommen würdig erweisen. Und möglicherweise würde jemand sie heiraten, weil er hoffte, ihre Kinder würden über starke Magie verfügen.
Aber nichts von alledem würde geschehen, wenn sie in dem entlegenden Mandryn blieb.
Dann kam Jayan eine andere Möglichkeit in den Sinn. Es hatte in der Geschichte Fälle von Meisterschülern gegeben, die nicht zu höheren Magiern geworden waren. Sie konnte sich dafür entscheiden, in Dakons Diensten zu bleiben und ihm magische Stärke zu geben; als Gegenleistung dafür würde er ihr ein Heim zur Verfügung stellen und wahrscheinlich ein kleine Summe, von der sie nach seinem Tod leben konnte.
Plötzlich verspürte Jayan unerwartetes Mitgefühl mit ihr. Sie hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wohin ihre natürlichen Kräfte sie führen würden. Sie konnte zu einer Gefangenen in einem gesellschaftlichen Niemandsland werden, eingeengt zwischen dem Nutzen der Magie und ihren unausweichlichen Beschränkungen.
Vom Fuß der Treppe aus waren es nur wenige Schritte einen Flur entlang bis zum Speisezimmer. Bei seinem Eintritt war Jayan zu seiner eigenen Erheiterung erleichtert darüber, Lord Dakon im selben Stil gekleidet zu sehen, wie er es war. Dakons Robe war schwarz und trug eine feine Stickerei. Der Magier stand bei seinen Gästen. Er blickte auf und nickte Jayan grüßend zu.
Veran der Heiler trug einen schlichten Umhang und Hosen, wie sie für die einheimischen Männer typisch waren, auch wenn seine Kleider aus einem feineren Tuch waren. Seine Frau - wie hieß sie noch gleich? - trug ein einfaches dunkelblaues Gewand, das sie keineswegs weiblicher erscheinen ließ. Tessias Kleid war beinahe hässlich; seine Strenge wurde nur deshalb ein wenig gemildert, weil es einen reizvollen dunklen Rotton hatte. Die Kette der jungen Frau, wenn auch schlicht, trug ebenfalls dazu bei, die wenig schmeichelhafte Form ihrer Gewandung erträglicher zu machen.
Dakon deutete auf Jayan. »Das ist mein Meisterschüler, Jayan von Drayn. Jayan, du kennst Heiler Veran. Das ist seine Frau Lasia, und dies Tessia, die in Zukunft mit dir zusammen studieren wird.«
Jayan machte eine kurze, höfliche Verbeugung. »Willkommen, Meisterschülerin Tessia«, sagte er. »Heiler Veran, Lasia. Es ist mir ein Vergnügen, den heutigen Abend in Eurer Gesellschaft verbringen zu dürfen.«
Dakon lächelte anerkennend, dann führte er die Gäste zu ihren Plätzen. Lasia und Tessia zuckten überrascht zusammen, als ein Gong auf einem Beistelltisch mit vollem Ton erklang.
Schon bald füllte der Raum sich mit Dienern, die Teller und Schalen trugen, Krüge und Gläser. Ein großzügiges Mahl stand auf dem Tisch bereit. Dakon griff nach zwei Tranchiermessern und machte sich daran, das Fleisch für seine Gäste zu schneiden. Mit einem Schnitt des Tranchiermessers durch eine von gerösteter, goldener Haut bedeckte Rolle enthüllte er vielschichtige Kreise verschiedener Fleisch- und Gemüsesorten. Sobald er fertig war, drängte er seine Gäste, sich zu bedienen, dann wandte er sich einer größeren Enka-Keule zu. Bänder dunklen Marinsirups sickerten aus dem halbrohen Fleisch. Als Nächstes zerlegte er mit geübten Bewegungen Kuchen, die aus verschiedenen Wurzelgemüsen gemacht waren.
Dies ist eine so seltsame Tradition, überlegte Jayan. Ich frage mich, ob sie von den Sachakanern eingeführt wurde oder auf ein früheres Zeitalter in Kyralia zurückgeht. Es soll eigentlich eine Demutsbekundung von Seiten des Gastgebers sein, aber ich vermute, in Wirklichkeit dient diese Sitte dazu, ihm die Möglichkeit zu geben, sein Geschick im Umgang mit Messern zur Schau zu stellen.
Dakon machte gewiss den Eindruck, als habe er reichlich Übung darin, was überraschend war, wenn man bedachte, wie selten er formelle Essenseinladungen aussprach. Während er seinen Meister eingehend beobachtete, kam Jayan zu dem Schluss, dass ihm die Aufgabe offenkundig Freude bereitete. Er fragte sich, ob diese Vorliebe, Dinge zu zerteilen, jemals an die Oberfläche treten würde, sollte Dakon sich in einem Kampf wiederfinden.
Endlich war Dakon fertig. Er füllte seinen Teller, dann bediente er sie einen nach dem anderen entsprechend ihrem gesellschaftlichen Rang. Während des Essens wurde nur gelegentlich gesprochen, und dann drehten sich die Gespräch um die Qualität einheimischer und importierter Waren, das Wetter und andere allgemeine Themen. Ab und zu blickte Jayan zu Tessia hinüber. Sie war nicht hübsch, befand er, aber sie war auch nicht hässlich. Junge Frauen im Lehen waren in der Regel entweder schlank und muskulös von der Arbeit oder drall und üppig wie einige der Hausdienerinnen des Herrenhauses oder die Ehefrauen von Handwerkern. Tessia war weder mager noch kurvenreich, soweit er es erkennen konnte.
Sie sagte nichts, sondern hörte nur zu und beobachtete Lord Dakon mit offenkundiger Neugier. Dem Magier war dies vielleicht aufgefallen, da er begann, ihr direkte Fragen zu stellen.
»Gibt es irgendetwas, das du zu erfahren wünschst?«, fragte er, als das Mahl zu Ende war. »Ob es sich nun um Magie oder Magier oder ihre Ausbildung handelt, frag einfach. Ich werde mein Bestes tun, dir zu antworten.«
Der Heiler und seine Familie tauschten Blicke. Veran öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn dann jedoch wieder und sah Tessia an.
»Ich denke, die Fragen meiner Tochter sollten an erster Stelle kommen, da sie diejenige ist, die Magie erlernen wird.«
Tessia lächelte ihren Vater schwach an, dann runzelte sie die Stirn, während sie ihre Gedanken sammelte.
»In welchem Körperteil entsteht die Magie?«, fragte sie. »Im Gehirn oder im Herzen?«
Dakon kicherte. »Ah, diese Frage wird oft gestellt und niemals richtig beantwortet. Ich glaube, die Quelle ist das Gehirn, aber manche Magier sind davon überzeugt, dass sie aus dem Herzen kommt. Da das Gehirn Gedanken produziert und das Herz Gefühle, ergäbe es eher einen Sinn, wenn Magie aus dem Gehirn käme. Magie gehorcht unserem geistigen Willen. Wir haben nur wenig Kontrolle über das, was wir empfinden - obwohl wir unsere Reaktion auf unsere Gefühle durchaus kontrollieren können. Wenn Magie den Gefühlen gehorchte, hätten wir nicht die geringste Kontrolle darüber.«
Tessia beugte sich vor. »Also... wie erzeugt der Körper Magie?«
»Ein noch größeres Rätsel«, erwiderte Dakon. »Manch einer glaubt, sie sei das Ergebnis von Reibung, die durch sämtliche Rhythmen im Körper verursacht wird: Blut, das durch unsere Pulspfade fließt, Atem, der durch die Lungen einströmt.«
Tessia runzelte die Stirn. »Bedeutet das, dass Menschen mit magischer Fähigkeit einen schnelleren Puls haben und schneller atmen?«
»Nein«, antwortete Veran an Dakons Stelle. »Aber da manche Substanzen leichter Reibung erzeugen als andere, unterscheidet sich das Blut eines Magiers vielleicht von dem der übrigen Menschen und ist eher in der Lage, Reibung zu erzeugen.« Er zuckte die Achseln. »Es ist eine seltsame Vorstellung und eine, von der mein Vater nicht viel gehalten hat.«
»Ebenso wenig war er von der Theorie der Sterne überzeugt«, meinte Dakon lächelnd.
»Davon hielt er noch weniger«, pflichtete Veran ihm kichernd bei. »Was ihn um ein Haar die Mitgliedschaft in der Heilergilde gekostet hätte.«
»Wie das?«, fragte Jayan, dem auffiel, dass alle anderen im Raum das gleiche wissende Lächeln zeigten. Entweder war der Verlust der Mitgliedschaft in der Heilergilde kein so ernster Absturz, wie er gedacht hatte, oder es steckte mehr hinter dieser Geschichte.
Dakon sah Jayan an. »Heiler Berin vertrat die Auffassung, dass der Lauf der Sterne und Jahreszeiten keinen Einfluss auf Gesundheit, Krankheit und Tod habe, sondern nur als Vorwand für Heiler von Nutzen sei, wenn sie unfähig waren und irgendetwas brauchten, womit sie sich herausreden konnten.«
»Ich kann verstehen, warum das einige Leute ziemlich aufgeregt hat«, meinte Jayan.
»Das hat es, und etliche von ihnen machten Berin das Leben so schwer, dass er, als mein Vater ihm eine Position hier anbot, nur allzu gern zugegriffen hat.«
»Außerdem hat es dazu geführt, dass die beiden Freunde wurden«, fügte Veran hinzu.
Lasia räusperte sich. »Da wäre etwas, das ich gern wüsste.«
Dakon drehte sich zu ihr um. »Und was ist das?«
»Besteht ein Unterschied zwischen einem natürlichen Magier und einem normalen?«
»Abgesehen davon, dass bei den einen die natürliche Macht der Magie sich willkürlich entwickelt und dass diese Personen im Allgemeinen stärker sind als der durchschnittliche Magier, besteht kein Unterschied. Die Fähigkeiten der meisten Magier werden entdeckt, wenn man sie in jungen Jahren einer Prüfung unterzieht, und anschließend werden sie mit der Hilfe eines anderen Magiers entwickelt. Falls es unter diesen Magiern Naturtalente gibt, erfahren wir das nie, weil sie gar keine Gelegenheit bekommen, ihre Macht ohne Hilfe zu entwickeln. Damit magisches Talent ohne Eingreifen von außen an die Oberfläche tritt, muss es sehr stark sein, aber unterm Strich wird diese Stärke keine große Rolle spielen. Höhere Magie ergänzt die natürliche Fähigkeit eines Magiers, daher wird die Stärke eines Magiers im Wesentlichen dadurch bestimmt, von wie vielen Meisterschülern ein Magier Macht bezogen hat, nicht von seiner natürlichen Fähigkeit.«
»Dann weiß man im Allgemeinen also nicht, ob ein Mensch über magisches Talent verfügt, solange man ihn nicht prüft?«, hakte Veran nach.
Dakon nickte. »So ist es. Und Magie begünstigt weder reiche noch arme Menschen, weder mächtige noch niedere. Jeder, dem ihr auf der Straße begegnet, könnte ein latenter Magier sein.«
»Warum unterrichtet Ihr sie dann nicht?«, fragte Lasia. »Wenn Kyralia über mehr Magier verfügte, wäre es doch gewiss besser in der Lage, sich zu verteidigen.«
»Wer sollte sie unterrichten? Es gibt nicht einmal genug Magier, um latente Magier aus reichen Familien zu unterrichten, geschweige denn solche, die aus gewöhnlichen Verhältnissen stammen.«
»Außerdem werdet Ihr sie vielleicht gar nicht alle unterrichten wollen«, ergänzte Veran mit nachdenklicher Miene. »Wenn Ihr einen Meisterschüler auswählt, werft Ihr gewiss auch seinen Charakter in die Waagschale, selbst wenn er oder sie aus einer mächtigen Familie stammt.« Er blickte zu Tessia hinüber. »Natürlich nur dann, wenn Ihr die Wahl habt.«
Dakon lächelte. »Ihr habt recht. Glücklicherweise besitzt Tessia einen hervorragenden Charakter, und es wird mir gewiss ein Vergnügen sein, sie zu unterrichten.«
Alle sahen Tessia an. Jayan beobachtete, wie ihr die Röte in die Wangen stieg und sie nach unten schaute, um den Blick der anderen zu meiden.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Lasia. »Sie war ihrem Vater eine große Hilfe.« Sie sah Dakon an. »Was genau bedeutet es, eine Quelle für einen Magier zu sein?«
Jayan beobachtete, wie alle Heiterkeit aus den Augen des Magiers verschwand, obwohl er nach wie vor lächelte.
»Ich kann Euch natürlich keine Einzelheiten erzählen, da höhere Magie ein Geheimnis ist, das nur Magier untereinander teilen. Allerdings kann ich Euch verraten, dass es sich um ein schnelles, einverständlich vollzogenes Ritual handelt. Die Magie wird vom Meisterschüler auf seinen Magier übertragen und von dem Magier gespeichert.«
»Diese Bereitstellung von Macht ist die einzige Bezahlung, die Tessia für ihre Ausbildung leistet?«
»Ja, und wie Ihr Euch vorstellen könnt, ist das mehr als genug an Bezahlung. Bis ein Meisterschüler so weit ist, Magier zu werden, hat er seinen Herrn hundertmal stärker gemacht, als er es ohne diese Hilfe wäre. Natürlich sind wir bis dahin im Allgemeinen nicht viele hundert Male stärker als zuvor, weil wir diese Macht in der Zwischenzeit verbraucht haben werden, aber sie ermöglicht es uns, viele Dinge zu tun.«
»Warum haben Magier nicht mehrere Meisterschüler?«, wollte Tessia wissen. »Dann hätten sie noch mehr Macht.«
»Und es würde noch länger dauern, einen jeden von ihnen zu unterrichten«, antwortete Dakon. »Ein Magier hat nur ein gewisses Maß an Zeit, das er auf das Unterrichten verwenden kann, und wir haben die Pflicht, unsere Meisterschüler gut und gründlich auszubilden. Vergiss nicht, die meisten unserer Meisterschüler kommen aus mächtigen Familien, die einen Einfluss darauf haben können, ob man uns gut bezahlte Arbeit gibt oder nicht, oder ob wir die Lords unserer Lehen bleiben. Im Allgemeinen verspüren wir nicht den Wunsch, sie zu verärgern.« Er hielt inne und verzog das Gesicht. »Außerdem ist da noch etwas: Wenn ich mehrere Meisterschüler hätte, ganz gleich, wie gut ich sie ausbilden würde, würde ich mich zu sehr wie ein sachakanischer Magier fühlen, der eine Horde von Sklaven missbrauchen kann.« Er sah Jayan an. »Nein, ich ziehe die kyralische Methode von gegenseitigem Respekt und Nutzen bei weitem vor.«
Die anderen nickten zustimmend. Dakon blickte in die Runde.
»Noch weitere Fragen?«
Tessia rutschte auf ihrem Stuhl herum und zog seine Aufmerksamkeit auf sich.
»Ja?«, sagte er.
Sie sah ihren Vater an, dann errötete sie wieder. »Kann man Magie benutzen, um zu heilen?«
Dakon bedachte sie mit einem wissenden Lächeln. »Nur, indem man bei den körperlichen Aufgaben des Heilens hilft. Magie kann bewegen, halten, wärmen oder durchtrennen. Sie kann anstelle eines Aderpressers zusammenschnüren und ich habe sogar davon gehört, dass sie benutzt werden kann, um ein Herz zum Schlagen zu überreden, nachdem es stehen geblieben ist. Aber Magie kann den Körper nicht darin unterstützen, tatsächlich zu heilen. Das muss der Körper selbst tun.«
Tessia nickte, und Jayan glaubte, Enttäuschung in ihren Augen wahrnehmen zu können. Es überrascht mich, dass sie sich noch immer für die Heilkunst interessiert, nachdem sie jetzt Magie erlernen wird.
»Natürlich könnte es durchaus möglich sein, und wir haben nur noch nicht herausgefunden, wie«, fügte Dakon hinzu. Tessia blickte ihn mit nachdenklicher Miene an. »Ich glaube nicht, dass wir jemals aufhören sollten, es zu versuchen.«
Jayan sah Dakon überrascht an. Er ermutigt sie. Welchen Sinn hat das?
Er beobachtete, dass Tessias Haltung sich entspannte und sie Dakon ein dankbares Lächeln schenkte. Jayan kam der Gedanke, dass Dakon ihr vielleicht nur den Übergang erleichtern wollte, indem er ihr die Aussicht auf etwas Vertrautes in einer fremden, neuen Welt bot. Etwas, um ihr Interesse zu wecken.
Aber das hätte er doch nicht zu tun brauchen. Gewiss war sie genauso aufgeregt wie jeder neue Meisterschüler, Magie erlernen zu dürfen. Bei der Vorstellung, dass es sich in ihrem Fall anders verhalten könnte, durchzuckte ihn ein winziger Stich des Ärgers. Das wäre unglaublich undankbar, sowohl dem Glück gegenüber, das ihr eine solche Chance gegeben hat, als auch Lord Dakon gegenüber, der sie ausbilden will. Er ertappte sich dabei, dass er die Stirn runzelte, und entspannte seine Züge hastig wieder. Sobald sie erst einmal anfängt, Magie zu benutzen, und begreift, wie wunderbar das ist, wird sie ihr altes Leben schnell hinter sich lassen. Das Heilen wird nichts im Vergleich zu der Magie sein.
 
Ungeheuer hohe Bäume umgaben Hanara. Er blickte auf. Die geraden, schmalen Stämme schwankten hoch über ihren Köpfen langsam und träge im Wind. Ein Warnschrei. Einer begann zu fallen. Jemand schrie, als der Stamm durch die Zweige der benachbarten Bäume krachte und auf den Waldboden stürzte; Splitter von den Stellen, an denen die Äxte den Stamm nicht ganz durchtrennt hatten, flogen durch die Luft. Das Schreien hielt an. Er eilte herbei. Zweige teilten sich, und er sah, was passiert war. Ein Sklave - sein Freund - lag auf den Boden gepresst da, die Beine zerschmettert. Die anderen Sklaven ignorierten den Verletzten und seine Schreie und machten sich daran, das Holz zu schneiden.
Hanara fuhr aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang blinzelte er in der Dunkelheit. Die Luft roch falsch.
Kyralia, erinnerte er sich. Ich bin in Kyralia, im Haus eines Magiers. Ich bin verletzt. Ich muss schnell gesund werden, damit
Takado mich nicht tötet, wenn er zurückkommt. Er schloss die Augen.
Er schnitt und formte Holz. Er liebte es zu beobachten, wie es sich unter der Klinge abschälte. Sobald man die Muster der Maserung verstanden hatte, sobald man verstanden hatte, wie das Holz einigen Schnitten widerstand und andere willkommen hieß, war die Arbeit einfach. Alle Informationen, die man brauchte, waren dort, eingeschrieben in die Maserung. Er stellte sich vor, dass es mit dem Lesen genauso war.
Er hörte den Holzmeister hinter sich treten, um ihn zu beobachten. Er konnte den Mann nicht sehen, aber er wusste, wer es war. Wenn er innehielt, um sich umzuschauen, würde der Mann ihn auspeitschen, daher arbeitete er weiter. Wenn Hanara ihm demonstrierte, dass er das Holz lesen konnte, würde der Mann ihn vielleicht lehren, wie man die Tischlerarbeiten verrichtete im Herrenhaus, statt Pfähle für die Zäune des Sklavenhauses zu machen.
Einige weitere Schnitte, und der Pfahl war fertig. Er war perfekt, zu schade für einen bloßen Sklavenzaun. Hanara drehte sich um, um seine Arbeit dem Holzmeister zu zeigen.
Es war nicht der Holzmeister, der hinter ihm stand. Es war Ashaki Takado. Hanara erstarrte, sein Herz schlug plötzlich wie wild, dann fiel er zu Boden. Der Magier, der Besitzer des Hauses, der Sklaven, des Waldes und der Felder trat näher und befahl Hanara aufzustehen, dann sah er ihm ins Gesicht. Hanara senkte den Blick. Der Magier packte ihn am Kinn und hob es an, und sein Blick bohrte sich in Hanaras Augen. Aber ihre Blicke trafen sich nicht. Der Magier sah in ihn hinein. Takados Augen flammten.
Der Pfahl wurde Hanara aus der Hand genommen, und er wurde vom Sklavenhof weggeführt. Seine Arme schmerzten. Als er hinabschaute, sah er, dass sich ungezählte Narben und frische, blutende Schnittwunden kreuz und quer über seine Haut zogen. Takado stand lachend über ihm.
Bist du ein guter Sklave? fragte er. Bist du es? Er hob einen Arm, und in der Hand hielt er eine glitzernde, gebogene Klinge...
Hanara schreckte abermals aus dem Schlaf, aber diesmal war er vollkommen steif. Er hatte Schmerzen, und sein Atem ging in harten Stößen. Kyralia. Haus eines Magiers. Schmerzen. Muss gesund werden, bevor Takado... Er hörte Stimmen, und ein Schauder überlief ihn. Die Stimmen kamen näher. Blieben draußen vor seinem Zimmer stehen.
Er holte langsam und tief Luft. Sein Herz raste.
Die Tür öffnete sich knarrend, und Licht fiel herein. Hanara erkannte den Heiler, die junge Frau, die ihm half, und Lord Dakon. Erleichtert ließ er sich aufs Bett zurücksinken.
»Entschuldige, dass wir dich wecken, Hanara«, sagte der Heiler. »Da ich schon einmal hier bin, sehe ich kurz nach dir. Wie fühlst du dich?«
Hanara betrachtete all die erwartungsvollen Gesichter, dann stieß er widerstrebend eine Antwort hervor.
»Besser.«
Der Heiler nickte. Seine Tochter lächelte. Als er die Wärme in ihren Augen sah, spürte Hanara, wie sich ihm das Herz abermals zusammenschnürte. Wenn er sie ansah, regte sich in ihm ein Gefühl, ähnlich dem, das er erlebt hatte, wenn er ein neugeborenes Sklavenkind beobachtete, das so verletzbar und unwissend war. Aber wenn er das Sklavenkind betrachtete, verspürte er auch Mitgefühl und Kummer. Er kannte das Elend und den Schmerz, die ihm bevorstanden, und hoffte, dass es stark genug war, dass es Glück genug hatte, um das Gefühl von einem langen Leben zu erreichen.
Hanara hatte noch nicht das Gefühl, ein langes Leben erreicht zu haben. Es war ein Zustand, sagten die Sklaven, in dem man davon überzeugt war, lange genug gelebt zu haben. Indem man nicht mehr das Gefühl hatte, betrogen zu werden, wenn man starb. Man mochte kein leichtes Leben oder kein glückliches Leben gehabt haben, aber man hatte die einem zugestandene Zeit gelebt. Oder man hatte etwas bewirkt in der Welt, und sei es auch nur eine Kleinigkeit, weil man existiert hatte.
Er hatte Sklaven gekannt, die sagten, sie hätten diesen Zustand noch vor ihrem zwanzigsten Jahr erreicht, und alte Sklaven, die noch immer nicht das Gefühl hatten, an ihrem Ziel angelangt zu sein. Manche Sklaven erzählten, es sei gekommen, als sie ein Kind gezeugt oder geboren hatten. Manche berichteten, es sei geschehen, als sie die beste Arbeit, die sie je getan hatten, vollendet hatten. Manche sagten, es sei ein unerwartetes Geschenk dafür, dass sie einem anderen Sklaven geholfen hatten. Manche behaupteten sogar, sie hätten dieses Gefühl erreicht, weil sie ihrem Herrn treu und ergeben gedient hatten.
Es hieß, dass die meisten Sklaven es niemals erlebten. Hanara hatte es nicht einmal an dem Tag gespürt, an dem ein Kind, das er für das seine hielt, zur Welt gekommen war. Er hatte nie die Chance gehabt, seine beste Arbeit mit Holz zu vollenden. Er hatte anderen Sklaven nur in kleinen Dingen geholfen, die ihm kein großes Gefühl der Befriedigung geschenkt hatten. Sein Dienst für Takado war wahrscheinlich seine einzige Chance, langes Leben zu spüren. Ironischerweise würde dieser Dienst ihm wahrscheinlich auch zu einem frühen Tod verhelfen, bevor er die Chance hatte, langes Leben zu spüren.
Und welche Chance hatte er jetzt noch, da er in Kyralia festsaß?
Während der Heiler ihn abtastete, stellte er viele Fragen. Hanara sagte so wenig wie möglich. Obwohl sich keine der Fragen um etwas anderes als seine Verletzungen und seine Gesundheit drehte, konnte er sich nie sicher sein, ob er etwas preisgab, das ein Geheimnis bleiben sollte. Takado hatte ihn davor gewarnt, bevor sie nach Kyralia gereist waren.
Schließlich drehte der Heiler sich zu dem Magier um. »Seine Genesung geht schnell voran. Besser als ich erwartet hatte. Ich habe jetzt keine Zweifel mehr, dass er sich erholen wird. Es ist ganz außerordentlich.«
Die Lippen des Magiers verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Hanara war Takados Quellsklave. Obwohl er seine Magie nicht benutzen kann, schenkt sie ihm dieselben Vorteile einer schnellen Heilung und großer Widerstandskraft, deren sich alle Magier erfreuen.«
Der Heiler nickte. »Der Glückliche.« »Also geht diese Heilung automatisch vonstatten?«, wollte die junge Frau wissen. »Unbewusst?«
Der Magier lächelte sie an. »Ja. Du hast diese Fähigkeit ebenfalls. Sind Wunden bei dir immer schnell verheilt, und bist du selten krank geworden?«
Sie zögerte, als sei ihr dieser Gedanke gerade erst gekommen, dann nickte sie. »Wenn wir also eine Möglichkeit finden könnten, bewusst zu genesen, könnten wir diese dann auch auf andere anwenden?«
»Vielleicht«, erwiderte der Magier. »Magier müssen dies schon zuvor versucht haben, aber ohne Erfolg, daher bezweifle ich, dass es einfach ist - falls es überhaupt möglich ist.«
Ihr Blick wanderte zu Hanara hinüber. Er konnte spüren, dass ihre Aufmerksamkeit sich mehr auf die Gedanken konzentrierte, die dieses Gespräch mit sich gebracht hatte, als auf ihn selbst. Der Magier folgte ihrem Blick, dann sah er Hanara in die Augen.
»Es hört sich so an, als würdest du bald wieder aufstehen können, Hanara«, bemerkte er. »Takado hat gesagt, dass ich, solltest du wieder gesund werden, mit dir machen könne, was ich will. Da Sklaverei hier verboten ist, bedeutet das, dass du nicht länger ein Sklave sein kannst.« Er lächelte. »Du bist frei.«
Ein Schauder der Erregung durchlief Hanara. Frei? Konnte er wirklich hierbleiben, in diesem traumhaften Land sanfter Menschen? Würde er einen Lohn für seine Arbeit bekommen und selbst entscheiden dürfen, was er damit anfing - reisen, lesen, lernen, Beziehungen zu Menschen knüpfen... Freunde haben, eine Frau, die ihm nicht gleichgültig war, Kinder, die er in Freundlichkeit großziehen und die er vielleicht beschützen konnte vor …
Nein. Eine Woge übelkeiterregenden Begreifens holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Takado hat nur deshalb gesagt, Lord Dakon könne nach eigenem Belieben mit mir verfahren, weil der kyralische Magier, hätte Takado ihm seine Pläne für eine Rückkehr offenbart, vielleicht versucht hätte, mich zu verstecken.
Das würde er vielleicht trotzdem tun, wenn Hanara ihm die Wahrheit sagte.
Er würde mich nicht gut genug verstecken können, weil er Takado nicht kennt. Takado liebt eine gute Jagd. Er würde mich jagen und zur Strecke bringen. Er würde mich finden. Er würde meine Gedanken lesen und erfahren, dass ich vor ihm davongelaufen bin. Dann würde er mich töten. Nein. Es ist besser für mich, wenn ich warte, bis er zurückkehrt.
Und in der Zwischenzeit würde er alles an Freiheit genießen, was ihm zugestanden wurde. Aber bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen abermals zusammen.
Oder erwartet er von mir, dass ich sobald wie möglich nach Hause zurückkehre? Wird er nur hierher zurückkehren, wenn ich es nicht tue? Wird er mich nur bestrafen, wenn ich hierbleibe?
Die Besucher verließen den Raum. Hanara sah ihnen hinterher und neidete ihnen ihre Freiheit, während er sie gleichzeitig für ihre Ignoranz verachtete. Sie wussten nichts. Sie waren Narren. Takado würde zurückkommen.
Magie
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