6
Nun, seht Ihr aber elegant aus.« Als
Jayan sich umdrehte, sah er Malia in der Tür zu seinem Zimmer
stehen. Sie betrachtete seine Kleidung und zog die Augenbrauen
hoch. »Ist das also die neueste Mode in Imardin?«
Er kicherte und strich seine Robe glatt. Sie war
fast lang genug, um den Boden zu berühren, und bedeckte die dazu
passende Hose, die er darunter trug, fast zur Gänze. Beide waren
aus einem dunkelgrünen, feinen Material, das leicht
schimmerte.
»Das trägt man dort seit zwanzig Jahren«,
antwortete er. »Es ist also wohl kaum die neueste
Mode.«
»Tragen sowohl Männer als auch Frauen diese
Gewänder?«
»Nein, nur Männer.«
Ihre Augenbrauen wanderten noch höher. »Dann würde
ich schrecklich gern sehen, was die Frauen tragen.«
»Du würdest deinen Augen nicht trauen - und bitte
mich nicht, die Kleider zu beschreiben. Dazu müsste ich zuerst ein
vollkommen neues Vokabular erlernen.«
Endlich senkten ihre Augenbrauen sich wieder auf
eine normale Höhe, und sie grinste. »Wenn ich Lord Dakon nicht eine
ganz ähnliche Robe hätte tragen sehen, hätte ich mir so meine
Gedanken über Euch gemacht, Meisterschüler Jayan. Geht besser nicht
so ins Dorf, oder die Leute werden von hier bis zu den Bergen über
Euch reden. Was unsere Gäste betrifft … Sie haben ihre Überraschung
sehr gut verborgen, als sie Lord Dakon gesehen haben.« Sie hielt
inne. »Sie sind übrigens alle im Speisezimmer.«
Mit anderen Worten: »Ihr seid spät dran«,
dachte er. »Ich wollte mich gerade zu ihnen gesellen«, sagte er.
»Das heißt, bis ich von einer neugierigen Dienerin aufgehalten
wurde.«
Sie verdrehte die Augen, dann folgte sie seinem
Fingerzeig und verschwand.
Jayan blickte an sich hinab, rückte die Schärpe
zurecht, strich erneut einige Falten in der Robe glatt und folgte
Malia dann den Flur entlang. Er betrachtete die Tür am Ende. Früh
am Morgen hatten Diener den bislang unbenutzten Raum dahinter
geöffnet, geputzt und Möbelstücke hineingebracht. Später am Tag
hatte Jayan dann Stimmen durch seine geschlossene Tür gehört. Er
war nicht hinausgegangen, um Tessia und ihre Familie zu begrüßen.
Sie hatten anderes zu tun gehabt, als sich mit Dakons
Meisterschüler bekannt zu machen. Mit Dakons anderem
Meisterschüler.
Die Wahrheit war, Jayan hatte nicht den Wunsch
verspürt, hinauszugehen und sie kennenzulernen. Er war sich nicht
sicher, warum. Ich habe nichts gegen Tessia oder ihre Familie
persönlich.
Ich mag sie auch nicht besonders oder wünsche mir, ihren Beifall
zu finden. Es war wichtiger, hatte er entschieden, seine Zeit
auf das Studieren zu verwenden als auf Geselligkeiten. Je eher er
ein Magier wurde, umso mehr Zeit würde Tessia schließlich mit Dakon
verbringen können.
Es war nicht so, als käme sie aus einer wichtigen,
mächtigen Familie, mit der er vielleicht freundschaftliche
Beziehungen anknüpfen wollte. Dankenswerterweise war sie auch nicht
die Tochter eines Landdieners oder Handwerkers, aber sie war eine
Frau ohne Einfluss oder Verbindungen. Ihr Stand als Magierin würde
sie eines Tages über das gemeine Volk erheben, aber das bedeutete
nicht, dass sie anderen Magiern ebenbürtig sein würde.
Und genau aus diesem Grund ist es Dakon
gegenüber unfair. Ihre Ausbildung wird ihm keine guten Verbindungen
oder Dankesschulden eintragen wie die Übernahme meiner
Ausbildung... Es sei denn vielleicht Respekt für etwas, das man als
bewunderungswürdigen Akt der Barmherzigkeit ansehen mochte. Und
wenn nicht das, dann Mitgefühl, dass er dem Gesetz bezüglich
Naturtalenten gehorchen musste.
Würden die Menschen das gleiche Mitgefühl für
Tessia empfinden? Ohne eine einflussreiche oder wohlhabende Familie
hinter sich, würde sie wohl kaum die Gunst der mächtigen Männer und
Frauen Kyralias erringen. Es war unwahrscheinlich, dass der König
oder irgendjemand sonst ihr eine wichtige Position oder Aufgabe
zuteilen würde. Ohne einen solchen Lohn oder eine entsprechende
Stellung würde sie niemals ein großes Einkommen erzielen. All dies
würde sie nicht zu einer begehrenswerten Ehefrau machen, daher
würde sich auch kein Ehemann von Einfluss oder Wohlstand für sie
finden.
Mit der Zeit und durch harte Arbeit würde sie
vielleicht einige Verbündete und Freunde gewinnen und sich langsam
einer Tätigkeit mit einem anständigen Einkommen würdig erweisen.
Und möglicherweise würde jemand sie heiraten, weil er hoffte, ihre
Kinder würden über starke Magie verfügen.
Aber nichts von alledem würde geschehen, wenn sie
in dem entlegenden Mandryn blieb.
Dann kam Jayan eine andere Möglichkeit in den Sinn.
Es hatte in der Geschichte Fälle von Meisterschülern gegeben, die
nicht zu höheren Magiern geworden waren. Sie konnte sich dafür
entscheiden, in Dakons Diensten zu bleiben und ihm magische Stärke
zu geben; als Gegenleistung dafür würde er ihr ein Heim zur
Verfügung stellen und wahrscheinlich ein kleine Summe, von der sie
nach seinem Tod leben konnte.
Plötzlich verspürte Jayan unerwartetes Mitgefühl
mit ihr. Sie hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wohin ihre
natürlichen Kräfte sie führen würden. Sie konnte zu einer
Gefangenen in einem gesellschaftlichen Niemandsland werden,
eingeengt zwischen dem Nutzen der Magie und ihren unausweichlichen
Beschränkungen.
Vom Fuß der Treppe aus waren es nur wenige Schritte
einen Flur entlang bis zum Speisezimmer. Bei seinem Eintritt war
Jayan zu seiner eigenen Erheiterung erleichtert darüber, Lord Dakon
im selben Stil gekleidet zu sehen, wie er es war. Dakons Robe war
schwarz und trug eine feine Stickerei. Der Magier stand bei seinen
Gästen. Er blickte auf und nickte Jayan grüßend zu.
Veran der Heiler trug einen schlichten Umhang und
Hosen, wie sie für die einheimischen Männer typisch waren, auch
wenn seine Kleider aus einem feineren Tuch waren. Seine Frau - wie
hieß sie noch gleich? - trug ein einfaches dunkelblaues Gewand, das
sie keineswegs weiblicher erscheinen ließ. Tessias Kleid war
beinahe hässlich; seine Strenge wurde nur deshalb ein wenig
gemildert, weil es einen reizvollen dunklen Rotton hatte. Die Kette
der jungen Frau, wenn auch schlicht, trug ebenfalls dazu bei, die
wenig schmeichelhafte Form ihrer Gewandung erträglicher zu
machen.
Dakon deutete auf Jayan. »Das ist mein
Meisterschüler, Jayan von Drayn. Jayan, du kennst Heiler Veran. Das
ist seine Frau Lasia, und dies Tessia, die in Zukunft mit dir
zusammen studieren wird.«
Jayan machte eine kurze, höfliche Verbeugung.
»Willkommen,
Meisterschülerin Tessia«, sagte er. »Heiler Veran, Lasia. Es ist
mir ein Vergnügen, den heutigen Abend in Eurer Gesellschaft
verbringen zu dürfen.«
Dakon lächelte anerkennend, dann führte er die
Gäste zu ihren Plätzen. Lasia und Tessia zuckten überrascht
zusammen, als ein Gong auf einem Beistelltisch mit vollem Ton
erklang.
Schon bald füllte der Raum sich mit Dienern, die
Teller und Schalen trugen, Krüge und Gläser. Ein großzügiges Mahl
stand auf dem Tisch bereit. Dakon griff nach zwei Tranchiermessern
und machte sich daran, das Fleisch für seine Gäste zu schneiden.
Mit einem Schnitt des Tranchiermessers durch eine von gerösteter,
goldener Haut bedeckte Rolle enthüllte er vielschichtige Kreise
verschiedener Fleisch- und Gemüsesorten. Sobald er fertig war,
drängte er seine Gäste, sich zu bedienen, dann wandte er sich einer
größeren Enka-Keule zu. Bänder dunklen Marinsirups sickerten aus
dem halbrohen Fleisch. Als Nächstes zerlegte er mit geübten
Bewegungen Kuchen, die aus verschiedenen Wurzelgemüsen gemacht
waren.
Dies ist eine so seltsame Tradition,
überlegte Jayan. Ich frage mich, ob sie von den Sachakanern
eingeführt wurde oder auf ein früheres Zeitalter in Kyralia
zurückgeht. Es soll eigentlich eine Demutsbekundung von Seiten des
Gastgebers sein, aber ich vermute, in Wirklichkeit dient diese
Sitte dazu, ihm die Möglichkeit zu geben, sein Geschick im Umgang
mit Messern zur Schau zu stellen.
Dakon machte gewiss den Eindruck, als habe er
reichlich Übung darin, was überraschend war, wenn man bedachte, wie
selten er formelle Essenseinladungen aussprach. Während er seinen
Meister eingehend beobachtete, kam Jayan zu dem Schluss, dass ihm
die Aufgabe offenkundig Freude bereitete. Er fragte sich, ob diese
Vorliebe, Dinge zu zerteilen, jemals an die Oberfläche treten
würde, sollte Dakon sich in einem Kampf wiederfinden.
Endlich war Dakon fertig. Er füllte seinen Teller,
dann bediente er sie einen nach dem anderen entsprechend ihrem
gesellschaftlichen Rang. Während des Essens wurde nur gelegentlich
gesprochen, und dann drehten sich die Gespräch um die Qualität
einheimischer und importierter Waren, das Wetter
und andere allgemeine Themen. Ab und zu blickte Jayan zu Tessia
hinüber. Sie war nicht hübsch, befand er, aber sie war auch nicht
hässlich. Junge Frauen im Lehen waren in der Regel entweder schlank
und muskulös von der Arbeit oder drall und üppig wie einige der
Hausdienerinnen des Herrenhauses oder die Ehefrauen von
Handwerkern. Tessia war weder mager noch kurvenreich, soweit er es
erkennen konnte.
Sie sagte nichts, sondern hörte nur zu und
beobachtete Lord Dakon mit offenkundiger Neugier. Dem Magier war
dies vielleicht aufgefallen, da er begann, ihr direkte Fragen zu
stellen.
»Gibt es irgendetwas, das du zu erfahren
wünschst?«, fragte er, als das Mahl zu Ende war. »Ob es sich nun um
Magie oder Magier oder ihre Ausbildung handelt, frag einfach. Ich
werde mein Bestes tun, dir zu antworten.«
Der Heiler und seine Familie tauschten Blicke.
Veran öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn dann jedoch
wieder und sah Tessia an.
»Ich denke, die Fragen meiner Tochter sollten an
erster Stelle kommen, da sie diejenige ist, die Magie erlernen
wird.«
Tessia lächelte ihren Vater schwach an, dann
runzelte sie die Stirn, während sie ihre Gedanken sammelte.
»In welchem Körperteil entsteht die Magie?«, fragte
sie. »Im Gehirn oder im Herzen?«
Dakon kicherte. »Ah, diese Frage wird oft gestellt
und niemals richtig beantwortet. Ich glaube, die Quelle ist das
Gehirn, aber manche Magier sind davon überzeugt, dass sie aus dem
Herzen kommt. Da das Gehirn Gedanken produziert und das Herz
Gefühle, ergäbe es eher einen Sinn, wenn Magie aus dem Gehirn käme.
Magie gehorcht unserem geistigen Willen. Wir haben nur wenig
Kontrolle über das, was wir empfinden - obwohl wir unsere Reaktion
auf unsere Gefühle durchaus kontrollieren können. Wenn Magie den
Gefühlen gehorchte, hätten wir nicht die geringste Kontrolle
darüber.«
Tessia beugte sich vor. »Also... wie erzeugt der
Körper Magie?«
»Ein noch größeres Rätsel«, erwiderte Dakon. »Manch
einer
glaubt, sie sei das Ergebnis von Reibung, die durch sämtliche
Rhythmen im Körper verursacht wird: Blut, das durch unsere
Pulspfade fließt, Atem, der durch die Lungen einströmt.«
Tessia runzelte die Stirn. »Bedeutet das, dass
Menschen mit magischer Fähigkeit einen schnelleren Puls haben und
schneller atmen?«
»Nein«, antwortete Veran an Dakons Stelle. »Aber da
manche Substanzen leichter Reibung erzeugen als andere,
unterscheidet sich das Blut eines Magiers vielleicht von dem der
übrigen Menschen und ist eher in der Lage, Reibung zu erzeugen.« Er
zuckte die Achseln. »Es ist eine seltsame Vorstellung und eine, von
der mein Vater nicht viel gehalten hat.«
»Ebenso wenig war er von der Theorie der Sterne
überzeugt«, meinte Dakon lächelnd.
»Davon hielt er noch weniger«, pflichtete Veran ihm
kichernd bei. »Was ihn um ein Haar die Mitgliedschaft in der
Heilergilde gekostet hätte.«
»Wie das?«, fragte Jayan, dem auffiel, dass alle
anderen im Raum das gleiche wissende Lächeln zeigten. Entweder war
der Verlust der Mitgliedschaft in der Heilergilde kein so ernster
Absturz, wie er gedacht hatte, oder es steckte mehr hinter dieser
Geschichte.
Dakon sah Jayan an. »Heiler Berin vertrat die
Auffassung, dass der Lauf der Sterne und Jahreszeiten keinen
Einfluss auf Gesundheit, Krankheit und Tod habe, sondern nur als
Vorwand für Heiler von Nutzen sei, wenn sie unfähig waren und
irgendetwas brauchten, womit sie sich herausreden konnten.«
»Ich kann verstehen, warum das einige Leute
ziemlich aufgeregt hat«, meinte Jayan.
»Das hat es, und etliche von ihnen machten Berin
das Leben so schwer, dass er, als mein Vater ihm eine Position hier
anbot, nur allzu gern zugegriffen hat.«
»Außerdem hat es dazu geführt, dass die beiden
Freunde wurden«, fügte Veran hinzu.
Lasia räusperte sich. »Da wäre etwas, das ich gern
wüsste.«
Dakon drehte sich zu ihr um. »Und was ist
das?«
»Besteht ein Unterschied zwischen einem natürlichen
Magier und einem normalen?«
»Abgesehen davon, dass bei den einen die natürliche
Macht der Magie sich willkürlich entwickelt und dass diese Personen
im Allgemeinen stärker sind als der durchschnittliche Magier,
besteht kein Unterschied. Die Fähigkeiten der meisten Magier werden
entdeckt, wenn man sie in jungen Jahren einer Prüfung unterzieht,
und anschließend werden sie mit der Hilfe eines anderen Magiers
entwickelt. Falls es unter diesen Magiern Naturtalente gibt,
erfahren wir das nie, weil sie gar keine Gelegenheit bekommen, ihre
Macht ohne Hilfe zu entwickeln. Damit magisches Talent ohne
Eingreifen von außen an die Oberfläche tritt, muss es sehr stark
sein, aber unterm Strich wird diese Stärke keine große Rolle
spielen. Höhere Magie ergänzt die natürliche Fähigkeit eines
Magiers, daher wird die Stärke eines Magiers im Wesentlichen
dadurch bestimmt, von wie vielen Meisterschülern ein Magier Macht
bezogen hat, nicht von seiner natürlichen Fähigkeit.«
»Dann weiß man im Allgemeinen also nicht, ob ein
Mensch über magisches Talent verfügt, solange man ihn nicht
prüft?«, hakte Veran nach.
Dakon nickte. »So ist es. Und Magie begünstigt
weder reiche noch arme Menschen, weder mächtige noch niedere.
Jeder, dem ihr auf der Straße begegnet, könnte ein latenter Magier
sein.«
»Warum unterrichtet Ihr sie dann nicht?«, fragte
Lasia. »Wenn Kyralia über mehr Magier verfügte, wäre es doch gewiss
besser in der Lage, sich zu verteidigen.«
»Wer sollte sie unterrichten? Es gibt nicht einmal
genug Magier, um latente Magier aus reichen Familien zu
unterrichten, geschweige denn solche, die aus gewöhnlichen
Verhältnissen stammen.«
»Außerdem werdet Ihr sie vielleicht gar nicht alle
unterrichten wollen«, ergänzte Veran mit nachdenklicher Miene.
»Wenn Ihr einen Meisterschüler auswählt, werft Ihr gewiss auch
seinen Charakter in die Waagschale, selbst wenn er oder sie aus
einer mächtigen Familie stammt.« Er blickte zu Tessia hinüber.
»Natürlich nur dann, wenn Ihr die Wahl habt.«
Dakon lächelte. »Ihr habt recht. Glücklicherweise
besitzt Tessia einen hervorragenden Charakter, und es wird mir
gewiss ein Vergnügen sein, sie zu unterrichten.«
Alle sahen Tessia an. Jayan beobachtete, wie ihr
die Röte in die Wangen stieg und sie nach unten schaute, um den
Blick der anderen zu meiden.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Lasia. »Sie war
ihrem Vater eine große Hilfe.« Sie sah Dakon an. »Was genau
bedeutet es, eine Quelle für einen Magier zu sein?«
Jayan beobachtete, wie alle Heiterkeit aus den
Augen des Magiers verschwand, obwohl er nach wie vor
lächelte.
»Ich kann Euch natürlich keine Einzelheiten
erzählen, da höhere Magie ein Geheimnis ist, das nur Magier
untereinander teilen. Allerdings kann ich Euch verraten, dass es
sich um ein schnelles, einverständlich vollzogenes Ritual handelt.
Die Magie wird vom Meisterschüler auf seinen Magier übertragen und
von dem Magier gespeichert.«
»Diese Bereitstellung von Macht ist die einzige
Bezahlung, die Tessia für ihre Ausbildung leistet?«
»Ja, und wie Ihr Euch vorstellen könnt, ist das
mehr als genug an Bezahlung. Bis ein Meisterschüler so weit ist,
Magier zu werden, hat er seinen Herrn hundertmal stärker gemacht,
als er es ohne diese Hilfe wäre. Natürlich sind wir bis dahin im
Allgemeinen nicht viele hundert Male stärker als zuvor, weil wir
diese Macht in der Zwischenzeit verbraucht haben werden, aber sie
ermöglicht es uns, viele Dinge zu tun.«
»Warum haben Magier nicht mehrere Meisterschüler?«,
wollte Tessia wissen. »Dann hätten sie noch mehr Macht.«
»Und es würde noch länger dauern, einen jeden von
ihnen zu unterrichten«, antwortete Dakon. »Ein Magier hat nur ein
gewisses Maß an Zeit, das er auf das Unterrichten verwenden kann,
und wir haben die Pflicht, unsere Meisterschüler gut und gründlich
auszubilden. Vergiss nicht, die meisten unserer Meisterschüler
kommen aus mächtigen Familien, die einen Einfluss darauf haben
können, ob man uns gut bezahlte Arbeit gibt oder nicht, oder ob wir
die Lords unserer Lehen bleiben. Im Allgemeinen verspüren wir nicht
den Wunsch, sie
zu verärgern.« Er hielt inne und verzog das Gesicht. »Außerdem ist
da noch etwas: Wenn ich mehrere Meisterschüler hätte, ganz gleich,
wie gut ich sie ausbilden würde, würde ich mich zu sehr wie ein
sachakanischer Magier fühlen, der eine Horde von Sklaven
missbrauchen kann.« Er sah Jayan an. »Nein, ich ziehe die
kyralische Methode von gegenseitigem Respekt und Nutzen bei weitem
vor.«
Die anderen nickten zustimmend. Dakon blickte in
die Runde.
»Noch weitere Fragen?«
Tessia rutschte auf ihrem Stuhl herum und zog seine
Aufmerksamkeit auf sich.
»Ja?«, sagte er.
Sie sah ihren Vater an, dann errötete sie wieder.
»Kann man Magie benutzen, um zu heilen?«
Dakon bedachte sie mit einem wissenden Lächeln.
»Nur, indem man bei den körperlichen Aufgaben des Heilens hilft.
Magie kann bewegen, halten, wärmen oder durchtrennen. Sie kann
anstelle eines Aderpressers zusammenschnüren und ich habe sogar
davon gehört, dass sie benutzt werden kann, um ein Herz zum
Schlagen zu überreden, nachdem es stehen geblieben ist. Aber Magie
kann den Körper nicht darin unterstützen, tatsächlich zu heilen.
Das muss der Körper selbst tun.«
Tessia nickte, und Jayan glaubte, Enttäuschung in
ihren Augen wahrnehmen zu können. Es überrascht mich, dass sie
sich noch immer für die Heilkunst interessiert, nachdem sie jetzt
Magie erlernen wird.
»Natürlich könnte es durchaus möglich sein, und wir
haben nur noch nicht herausgefunden, wie«, fügte Dakon hinzu.
Tessia blickte ihn mit nachdenklicher Miene an. »Ich glaube nicht,
dass wir jemals aufhören sollten, es zu versuchen.«
Jayan sah Dakon überrascht an. Er ermutigt sie.
Welchen Sinn hat das?
Er beobachtete, dass Tessias Haltung sich
entspannte und sie Dakon ein dankbares Lächeln schenkte. Jayan kam
der Gedanke, dass Dakon ihr vielleicht nur den Übergang erleichtern
wollte, indem er ihr die Aussicht auf etwas Vertrautes in
einer fremden, neuen Welt bot. Etwas, um ihr Interesse zu
wecken.
Aber das hätte er doch nicht zu tun brauchen.
Gewiss war sie genauso aufgeregt wie jeder neue Meisterschüler,
Magie erlernen zu dürfen. Bei der Vorstellung, dass es sich in
ihrem Fall anders verhalten könnte, durchzuckte ihn ein winziger
Stich des Ärgers. Das wäre unglaublich undankbar, sowohl dem
Glück gegenüber, das ihr eine solche Chance gegeben hat, als auch
Lord Dakon gegenüber, der sie ausbilden will. Er ertappte sich
dabei, dass er die Stirn runzelte, und entspannte seine Züge hastig
wieder. Sobald sie erst einmal anfängt, Magie zu benutzen, und
begreift, wie wunderbar das ist, wird sie ihr altes Leben schnell
hinter sich lassen. Das Heilen wird nichts im Vergleich zu der
Magie sein.
Ungeheuer hohe Bäume umgaben Hanara. Er blickte
auf. Die geraden, schmalen Stämme schwankten hoch über ihren Köpfen
langsam und träge im Wind. Ein Warnschrei. Einer begann zu fallen.
Jemand schrie, als der Stamm durch die Zweige der benachbarten
Bäume krachte und auf den Waldboden stürzte; Splitter von den
Stellen, an denen die Äxte den Stamm nicht ganz durchtrennt hatten,
flogen durch die Luft. Das Schreien hielt an. Er eilte herbei.
Zweige teilten sich, und er sah, was passiert war. Ein Sklave -
sein Freund - lag auf den Boden gepresst da, die Beine
zerschmettert. Die anderen Sklaven ignorierten den Verletzten und
seine Schreie und machten sich daran, das Holz zu
schneiden.
Hanara fuhr aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang
blinzelte er in der Dunkelheit. Die Luft roch falsch.
Kyralia, erinnerte er sich. Ich bin in
Kyralia, im Haus eines Magiers. Ich bin verletzt. Ich muss schnell
gesund werden, damit
Takado mich nicht tötet, wenn er
zurückkommt. Er schloss die Augen.
Er schnitt und formte Holz. Er liebte es zu
beobachten, wie es sich unter der Klinge abschälte. Sobald man die
Muster der Maserung verstanden hatte, sobald man verstanden hatte,
wie das Holz einigen Schnitten widerstand und andere willkommen
hieß, war die Arbeit einfach. Alle Informationen, die man brauchte,
waren dort, eingeschrieben
in die Maserung. Er stellte sich vor, dass es mit dem Lesen
genauso war.
Er hörte den Holzmeister hinter sich treten, um
ihn zu beobachten. Er konnte den Mann nicht sehen, aber er wusste,
wer es war. Wenn er innehielt, um sich umzuschauen, würde der Mann
ihn auspeitschen, daher arbeitete er weiter. Wenn Hanara ihm
demonstrierte, dass er das Holz lesen konnte, würde der Mann ihn
vielleicht lehren, wie man die Tischlerarbeiten verrichtete im
Herrenhaus, statt Pfähle für die Zäune des Sklavenhauses zu
machen.
Einige weitere Schnitte, und der Pfahl war
fertig. Er war perfekt, zu schade für einen bloßen Sklavenzaun.
Hanara drehte sich um, um seine Arbeit dem Holzmeister zu
zeigen.
Es war nicht der Holzmeister, der hinter ihm
stand. Es war Ashaki Takado. Hanara erstarrte, sein Herz schlug
plötzlich wie wild, dann fiel er zu Boden. Der Magier, der Besitzer
des Hauses, der Sklaven, des Waldes und der Felder trat näher und
befahl Hanara aufzustehen, dann sah er ihm ins Gesicht. Hanara
senkte den Blick. Der Magier packte ihn am Kinn und hob es an, und
sein Blick bohrte sich in Hanaras Augen. Aber ihre Blicke trafen
sich nicht. Der Magier sah in ihn hinein. Takados Augen
flammten.
Der Pfahl wurde Hanara aus der Hand genommen,
und er wurde vom Sklavenhof weggeführt. Seine Arme schmerzten. Als
er hinabschaute, sah er, dass sich ungezählte Narben und frische,
blutende Schnittwunden kreuz und quer über seine Haut zogen. Takado
stand lachend über ihm.
Bist du ein guter Sklave? fragte er. Bist du
es? Er hob einen Arm, und in der Hand hielt er eine glitzernde,
gebogene Klinge...
Hanara schreckte abermals aus dem Schlaf, aber
diesmal war er vollkommen steif. Er hatte Schmerzen, und sein Atem
ging in harten Stößen. Kyralia. Haus eines Magiers. Schmerzen.
Muss gesund werden, bevor Takado... Er hörte Stimmen, und ein
Schauder überlief ihn. Die Stimmen kamen näher. Blieben draußen vor
seinem Zimmer stehen.
Er holte langsam und tief Luft. Sein Herz
raste.
Die Tür öffnete sich knarrend, und Licht fiel
herein. Hanara erkannte den Heiler, die junge Frau, die ihm half,
und Lord Dakon. Erleichtert ließ er sich aufs Bett
zurücksinken.
»Entschuldige, dass wir dich wecken, Hanara«, sagte
der Heiler. »Da ich schon einmal hier bin, sehe ich kurz nach dir.
Wie fühlst du dich?«
Hanara betrachtete all die erwartungsvollen
Gesichter, dann stieß er widerstrebend eine Antwort hervor.
»Besser.«
Der Heiler nickte. Seine Tochter lächelte. Als er
die Wärme in ihren Augen sah, spürte Hanara, wie sich ihm das Herz
abermals zusammenschnürte. Wenn er sie ansah, regte sich in ihm ein
Gefühl, ähnlich dem, das er erlebt hatte, wenn er ein neugeborenes
Sklavenkind beobachtete, das so verletzbar und unwissend war. Aber
wenn er das Sklavenkind betrachtete, verspürte er auch Mitgefühl
und Kummer. Er kannte das Elend und den Schmerz, die ihm
bevorstanden, und hoffte, dass es stark genug war, dass es Glück
genug hatte, um das Gefühl von einem langen Leben zu
erreichen.
Hanara hatte noch nicht das Gefühl, ein langes
Leben erreicht zu haben. Es war ein Zustand, sagten die Sklaven, in
dem man davon überzeugt war, lange genug gelebt zu haben. Indem man
nicht mehr das Gefühl hatte, betrogen zu werden, wenn man starb.
Man mochte kein leichtes Leben oder kein glückliches Leben gehabt
haben, aber man hatte die einem zugestandene Zeit gelebt. Oder man
hatte etwas bewirkt in der Welt, und sei es auch nur eine
Kleinigkeit, weil man existiert hatte.
Er hatte Sklaven gekannt, die sagten, sie hätten
diesen Zustand noch vor ihrem zwanzigsten Jahr erreicht, und alte
Sklaven, die noch immer nicht das Gefühl hatten, an ihrem Ziel
angelangt zu sein. Manche Sklaven erzählten, es sei gekommen, als
sie ein Kind gezeugt oder geboren hatten. Manche berichteten, es
sei geschehen, als sie die beste Arbeit, die sie je getan hatten,
vollendet hatten. Manche sagten, es sei ein unerwartetes Geschenk
dafür, dass sie einem anderen Sklaven geholfen hatten. Manche
behaupteten sogar, sie hätten dieses Gefühl erreicht, weil sie
ihrem Herrn treu und ergeben gedient hatten.
Es hieß, dass die meisten Sklaven es niemals
erlebten. Hanara
hatte es nicht einmal an dem Tag gespürt, an dem ein Kind, das er
für das seine hielt, zur Welt gekommen war. Er hatte nie die Chance
gehabt, seine beste Arbeit mit Holz zu vollenden. Er hatte anderen
Sklaven nur in kleinen Dingen geholfen, die ihm kein großes Gefühl
der Befriedigung geschenkt hatten. Sein Dienst für Takado war
wahrscheinlich seine einzige Chance, langes Leben zu spüren.
Ironischerweise würde dieser Dienst ihm wahrscheinlich auch zu
einem frühen Tod verhelfen, bevor er die Chance hatte, langes Leben
zu spüren.
Und welche Chance hatte er jetzt noch, da er in
Kyralia festsaß?
Während der Heiler ihn abtastete, stellte er viele
Fragen. Hanara sagte so wenig wie möglich. Obwohl sich keine der
Fragen um etwas anderes als seine Verletzungen und seine Gesundheit
drehte, konnte er sich nie sicher sein, ob er etwas preisgab, das
ein Geheimnis bleiben sollte. Takado hatte ihn davor gewarnt, bevor
sie nach Kyralia gereist waren.
Schließlich drehte der Heiler sich zu dem Magier
um. »Seine Genesung geht schnell voran. Besser als ich erwartet
hatte. Ich habe jetzt keine Zweifel mehr, dass er sich erholen
wird. Es ist ganz außerordentlich.«
Die Lippen des Magiers verzogen sich zu einem
schiefen Lächeln. »Hanara war Takados Quellsklave. Obwohl er seine
Magie nicht benutzen kann, schenkt sie ihm dieselben Vorteile einer
schnellen Heilung und großer Widerstandskraft, deren sich alle
Magier erfreuen.«
Der Heiler nickte. »Der Glückliche.« »Also geht
diese Heilung automatisch vonstatten?«, wollte die junge Frau
wissen. »Unbewusst?«
Der Magier lächelte sie an. »Ja. Du hast diese
Fähigkeit ebenfalls. Sind Wunden bei dir immer schnell verheilt,
und bist du selten krank geworden?«
Sie zögerte, als sei ihr dieser Gedanke gerade erst
gekommen, dann nickte sie. »Wenn wir also eine Möglichkeit finden
könnten, bewusst zu genesen, könnten wir diese dann auch auf andere
anwenden?«
»Vielleicht«, erwiderte der Magier. »Magier müssen
dies
schon zuvor versucht haben, aber ohne Erfolg, daher bezweifle ich,
dass es einfach ist - falls es überhaupt möglich ist.«
Ihr Blick wanderte zu Hanara hinüber. Er konnte
spüren, dass ihre Aufmerksamkeit sich mehr auf die Gedanken
konzentrierte, die dieses Gespräch mit sich gebracht hatte, als auf
ihn selbst. Der Magier folgte ihrem Blick, dann sah er Hanara in
die Augen.
»Es hört sich so an, als würdest du bald wieder
aufstehen können, Hanara«, bemerkte er. »Takado hat gesagt, dass
ich, solltest du wieder gesund werden, mit dir machen könne, was
ich will. Da Sklaverei hier verboten ist, bedeutet das, dass du
nicht länger ein Sklave sein kannst.« Er lächelte. »Du bist
frei.«
Ein Schauder der Erregung durchlief Hanara. Frei?
Konnte er wirklich hierbleiben, in diesem traumhaften Land sanfter
Menschen? Würde er einen Lohn für seine Arbeit bekommen und selbst
entscheiden dürfen, was er damit anfing - reisen, lesen, lernen,
Beziehungen zu Menschen knüpfen... Freunde haben, eine Frau, die
ihm nicht gleichgültig war, Kinder, die er in Freundlichkeit
großziehen und die er vielleicht beschützen konnte vor …
Nein. Eine Woge übelkeiterregenden
Begreifens holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Takado hat nur
deshalb gesagt, Lord Dakon könne nach eigenem Belieben mit mir
verfahren, weil der kyralische Magier, hätte Takado ihm seine Pläne
für eine Rückkehr offenbart, vielleicht versucht hätte, mich zu
verstecken.
Das würde er vielleicht trotzdem tun, wenn Hanara
ihm die Wahrheit sagte.
Er würde mich nicht gut genug verstecken können,
weil er Takado nicht kennt. Takado liebt eine gute Jagd. Er würde
mich jagen und zur Strecke bringen. Er würde mich finden. Er würde
meine Gedanken lesen und erfahren, dass ich vor ihm davongelaufen
bin. Dann würde er mich töten. Nein. Es ist besser für mich, wenn
ich warte, bis er zurückkehrt.
Und in der Zwischenzeit würde er alles an Freiheit
genießen, was ihm zugestanden wurde. Aber bei diesem Gedanken
krampfte sich sein Magen abermals zusammen.
Oder erwartet er von mir, dass ich sobald wie
möglich nach Hause zurückkehre? Wird er nur hierher zurückkehren,
wenn ich es nicht tue? Wird er mich nur bestrafen, wenn ich
hierbleibe?
Die Besucher verließen den Raum. Hanara sah ihnen
hinterher und neidete ihnen ihre Freiheit, während er sie
gleichzeitig für ihre Ignoranz verachtete. Sie wussten nichts. Sie
waren Narren. Takado würde zurückkommen.