28
Die ganze Nacht über konnte Jayan den
Gedanken, dass er im Bett eines Toten schlief, nicht
abschütteln.
Statt alle Magier in das Haus des Dorfmeisters zu
zwängen, hatten die Dorfbewohner ihnen Betten in den unbewohnten
Häusern des Dorfes zur Verfügung gestellt. Jayan hatte sich danach
gesehnt, in einem richtigen Bett zu schlafen, aber als ihm klar
wurde, dass er, Dakon und Tessia Quartier im Haus einer Familie
nahmen, die den Tod gefunden hatte, konnte er sich nicht mehr
entspannen.
Zuerst lag er wach, während Erinnerungen an den Tag
sich vor seinem inneren Auge abspulten. Dann kam der Schlaf, doch
er wurde wieder und wieder von Alpträumen verscheucht.
Wir haben gesiegt, dachte er. Warum habe
ich also plötzlich schlimme Träume?
Es war vielleicht einfach der Anblick der toten
Dorfbewohner, die die Sachakaner gefoltert hatten. Dann waren da
noch die Geschichten, die die Überlebenden erzählt hatten. Hinzu
kamen die gepeinigten Augen der jungen Frauen, die sie aus den
Räumen gerettet hatten, in die der Feind sie eingeschlossen hatte.
Einige von ihnen waren viel zu jung, als dass sie ein solches
Martyrium hätten ertragen dürfen.
Oder es konnte auch die Schlacht selbst gewesen
sein, beängstigend und erregend gleichzeitig, die ihn zu sehr
aufgewühlt hatte, als dass er hätte schlafen können. Immer wieder
analysierte er alles - jeden Schritt, jede Entscheidung. Aber noch
ein anderer Gedanke nagte an ihm, ein Gedanke, der ihn mehr
beunruhigte, als er erwartet hatte.
Es war das erste Mal, dass ich getötet habe. Oh,
ich habe nur die Macht dazu bereitgestellt und den Schlag nicht
ausgeführt, aber ich hatte dennoch einen Anteil am Sterben anderer
Menschen. Es waren nicht Schuldgefühle oder Bedauern, die ihm
zusetzten. Die Sachakaner waren Eindringlinge. Sie hatten Kyralier
getötet. Und nachdem er gesehen hatte, was die Sachakaner den
Dorfbewohnern angetan hatten, wusste er, dass er nicht gezögert
hätte, die tödlichen Schläge selbst zu führen.
Aber er konnte nicht umhin zu spüren, dass etwas in
ihm sich verändert hatte, und er war sich nicht sicher, ob es eine
Veränderung zum Guten war. Er verübelte es den Sachakanern - allen
Eindringlingen -, dass sie dies herbeigeführt hatten. Es gab kein
Zurück, die Veränderung ließ sich nicht ungeschehen machen.
Ironischerweise verstärkte dies nur noch sein Verlangen, sie aus
Kyralia zu vertreiben - selbst wenn es bedeutete, wieder töten zu
müssen.
Als die Morgendämmerung kam, stand Jayan auf, wusch
sich und seine Kleider, trocknete Letztere mit Magie und zog sie
wieder an. Er wartete in der Küche des Hauses, bis Dakon und Tessia
aus ihren Zimmern erschienen und sich zu ihm gesellten. Dakon ging
zu einem Schrank und öffnete die Türen.
»Es kommt mir falsch vor, ihre Vorräte zu
verzehren«, sagte er.
Jayan und Tessia tauschten einen Blick.
»Entweder isst sie jemand, oder sie verderben«,
erwiderte sie.
»Und es ist nicht so, als würden wir etwas
stehlen«, fügte Jayan hinzu.
Dakon seufzte und holte altbackenes Brot,
gesalzenes Fleisch und Eingemachtes hervor. Tessia erhob sich und
suchte Teller und Besteck heraus. Schweigend verzehrten sie ihr
Mahl.
Sie wirkt erschöpft, ging es Jayan durch den Kopf.
Dunkle Ringe färbten die Haut unter ihren Augen, und ihre Schultern
waren herabgesunken. Er wünschte, er hätte sie aufmuntern oder
zumindest ein wenig von dem vertrauten Funkeln in ihren Augen sehen
können. Selbst ein kleiner Anfall von Besessenheit
für die Heilkunst wäre besser, als sie so bedrückt und traurig zu
sehen.
»Also, wie steht es um die Dorfbewohner?«, fragte
er sie. »Sind sie wohlauf?«
Sie sah ihn blinzelnd an, dann zuckte sie die
Achseln. Ȇberraschend wenige Verletzungen - es hat vor allem die
Mädchen getroffen. Sie werden wieder gesund werden, aber...« Sie
verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Davon abgesehen haben
die Sachakaner jeden, der bei dem Angriff verletzt wurde, getötet,
und sobald sie beschlossen hatten, jemanden zu foltern, haben sie
dem Betreffenden immer den Rest gegeben. Irgendwann.«
Jayan nickte. Es passte zu dem, was man ihm erzählt
hatte. Ihm drehte sich der Magen um. Ich dachte, was Sudin und
Aken zugestoßen ist, sei grausam gewesen, aber sie sind mit Güte
behandelt worden, im Vergleich zu einigen dieser Dorfbewohner.
Stundenlang gefoltert. Und das alles aus irgendeinem kranken
Vergnügen an der Grausamkeit.
»Nicht alle Sachakaner sind so verderbt«, bemerkte
Dakon leise.
Tessia und Jayan sahen ihn an. Er lächelte müde.
»Ich weiß, es fällt im Augenblick schwer, das zu glauben, und ich
gestehe, es bereitet mir selbst einige Mühe, es nicht zu vergessen,
aber es ist wahr. Unglücklicherweise sind es die habgierigen, die
ehrgeizigen und die gewalttätigsten unter ihnen, die sich am
ehesten zu Takados Sache hingezogen fühlen. Ich...«
Ein Klopfen an der Haustür unterbrach ihn. Dakon
erhob sich und verließ die Küche, dann kehrte er zurück und winkte
sie zu sich. Jayan und Tessia standen auf und folgten ihm hinaus
auf die Straße, wo Narvelan auf sie wartete.
Zwei Gruppen hatten sich auf der anderen Seite der
Straße versammelt. Die eine Gruppe bestand aus Magiern und
Meisterschülern, die andere war eine schmerzlich kleine Schar von
Dorfbewohnern. Narvelan bedeutete Dakon, ihm zu folgen, und führte
sie zu den Magiern hinüber.
»Sie haben sich erboten, uns Stärke zu geben«,
erklärte Narvelan Dakon.
»Hmm«, war alles, was Dakon darauf erwiderte.
»Ich dachte mir schon, dass Ihr das sagen
würdet.«
Als Dakon sich den Magiern zuwandte, trat Tessia
dicht neben Jayan.
»Es klingt vernünftig, und wenn sie bereit sind,
uns Stärke zu geben, warum sollten wir das Angebot nicht
annehmen?«, fragte sie. »Wir haben sehr viel Macht verbraucht. Wenn
sie uns von ihrer Kraft abgäben, würde ihnen das nicht schaden,
aber uns könnte es helfen.« Sie runzelte die Stirn. »Aber ich würde
davon abraten, Macht von den Mädchen zu nehmen. Sie haben bereits
genug durchgemacht.«
»Abgesehen davon, dass wir die Gesetze des Königs
brechen würden, ist es nicht so einfach«, erwiderte Jayan. »Dakon
hat es mir einmal erklärt.« Er hielt inne und versuchte, sich an
die Worte seines Meisters zu erinnern. »Er hat gesagt: ›Kein guter
Magier fühlt sich gänzlich wohl dabei, höhere Magie zu benutzen.‹
Sie ist von entscheidender Wichtigkeit für die Verteidigung des
Landes und versetzt uns in die Lage, mehr zu tun, als wir allein
mit unseren eigenen Kräften ausrichten könnten, aber in den Händen
ehrgeiziger oder sadistischer Magier kann sie gefährlich sein. Und
vielleicht ebenso gefährlich in den Händen eines Menschen, der
verzweifelt darauf brennt, ihre Benutzung zu rechtfertigen. Er hat
gesagt: ›Selbstgerechtigkeit kann ebenso zerstörerisch sein wie
Skrupellosigkeit. ‹ Ja, an diese Worte erinnere ich mich eindeutig.
Sie haben mich nachdenklich gemacht.«
Sie drehte den Kopf leicht zur Seite und
betrachtete ihn. »Du bist ein sehr widersprüchlicher Mann,
Jayan.«
Er blinzelte und starrte sie an. »Ach ja?«
»Ja.«
Ihm fiel nichts anderes ein, was er hätte sagen
können, daher richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die
Debatte der Magier. Dann verdrehte er die Augen. »Jetzt geht es
schon wieder los. Es könnte Tage dauern, bevor die Dorfbewohner
eine Antwort bekommen. Sogar Wochen. Vielleicht sollten wir ihnen
den Rat geben, nicht zu warten, sonst werden sie am Ende noch
verhungern.«
»Vielleicht wird ihr Angebot nicht notwendig sein«,
meinte Tessia leise.
Er bemerkte, dass sie sich abgewandt hatte und
einige der anderen Meisterschüler in die gleiche Richtung schauten.
Er folgte ihrem Blick und sah eine Gruppe von Männern, die ins Dorf
geritten kamen. Die Stimmen der Magier verebbten und verstummten
schließlich zur Gänze.
»Verstärkungstruppen?«, fragte jemand.
»Das ist Lord Ardalen. Dies muss die Gruppe sein,
die auf dem Weg zum Pass ist«, murmelte ein anderer.
»Das sind Lord Everran und Lady Avaria!«, rief
Tessia. Und tatsächlich, die beiden ritten hinter Lord Ardalen.
Neben Ardalen ritt Magier Sabin, Schwertmeister und Freund des
Königs. Jayan begann zu zählen. Es waren achtzehn Magier
eingetroffen, um entweder den Pass zurückzuerobern oder sich Werrin
anzuschließen.
Die Neuankömmlinge saßen ab, und Magier Sabin trat
vor, Ardalen neben sich, um Werrin zu begrüßen. Jayan rückte näher
heran und mühte sich, das Gespräch mit anzuhören.
»Magier Sabin«, begann Werrin. »Bitte, sagt mir,
dass Ihr hier seid, um Euch uns anzuschließen. Wir könnten Euren
Scharfblick und Euren Rat gut gebrauchen.«
»Genau deshalb bin ich hier«, antwortete Sabin.
»Ebenso wie zwölf weitere Magier aus dieser Gruppe. Fünf werden mit
Ardalen gehen, um den Pass zurückzuerobern.« Er sah zu den
Dorfbewohnern hinüber. »Eure Späher haben uns mitgeteilt, dass Ihr
hier eine Schlacht gewonnen habt.«
»Ja, das ist richtig.« Werrins Tonfall war grimmig.
»Vier Sachakaner haben das Dorf eingenommen. Wir haben es uns
zurückgeholt.«
»Sie sind tot?«
»Ja.«
Sabin schürzte kurz die Lippen, dann nickte er.
»Ihr müsst mir das in allen Einzelheiten erzählen.«
»Natürlich.« Werrin sah zu den Dorfbewohnern
hinüber, die die Neuankömmlinge mit nervösem Interesse
beobachteten. »Wir haben gerade darüber gesprochen, wie wir auf ein
nobles
Angebot, das die Überlebenden gemacht haben, reagieren sollen. Sie
wollen, dass wir Stärke von ihnen nehmen, sowohl aus Dankbarkeit
als auch in dem Wissen, dass wir ihre Kraft gebrauchen können, um
den nächsten Kampf zu bestehen.«
Sabin zog die Augenbrauen hoch. »In der Tat ein
nobles Angebot, wenn sie dieser Prozedur bereits gegen ihren Willen
unterzogen worden sind.« Er blickte nachdenklich drein. »Der König
hat das Gesetz, das es verbietet, Magie von irgendjemand anderem
als Meisterschülern zu nehmen, noch einmal erwogen. Er räumt ein,
dass es in den höheren Klassen vielleicht nicht genug magiebegabte
junge Männer gibt, um alle Magier zu unterstützen, die benötigt
werden, um Takado und seine Verbündeten zu vertreiben. Er macht
sich außerdem Sorgen, dass wir zu viele von unseren magischen
Blutlinien verlieren könnten, falls die Dinge sich schlecht
entwickeln sollten. Also hat er verfügt, dass Diener als Quellen
eingestellt werden dürfen, falls ein Magier keinen Meisterschüler
hat. Die einzige Bedingung ist, dass sie gut für ihre Arbeit
bezahlt werden müssen.«
»Sie sollten zuvor geprüft werden, da es wenig Sinn
hätte, wenn sie nur über geringes oder gar keine latente Magie
verfügten«, sagte Werrin. »Ich schätze, das bedeutet, dass wir das
Angebot der Dorfbewohner nicht annehmen können.«
Sabin runzelte die Stirn. »Das Gesetz gegen das
Beziehen von Magie von anderen Menschen als Meisterschülern hat in
Zeiten des Krieges keine Gültigkeit. Es klingt so, als ginge das,
was hier vorgefallen ist, als kriegerische Handlung durch.«
Werrin und Sabin tauschten einen schweigenden,
vielsagenden Blick. Jayan überlief ein kalter Schauder.
Ich denke, das bedeutet, dass wir jetzt
offiziell im Krieg sind.
»Ich verstehe nicht, wie es mich aufheitern soll,
ständig im selben Haus umherzustreifen«, bemerkte Stara zu Vora,
als die Frau sie den Flur entlangführte. »Es mag ein großes
Gefängnis sein, aber es ist trotzdem ein Gefängnis.«
»Tut nicht leichtfertig ab, was Ihr noch nicht
versucht habt, Herrin«, erwiderte die Sklavin gelassen. »Dieses
Haus bietet
einem Geist wie Eurem nicht lange Unterhaltung, da gebe ich Euch
recht. Aber es gibt hier viele interessante kleine Ecken, und ihre
Entdeckung könnte eine vorübergehende Befreiung von der Langeweile
bedeuten.«
Ich bin nicht gelangweilt. Wie könnte ich mich
langweilen? Ich habe zu viel damit zu tun gehabt, über das
Ungeheuer nachzudenken, das mein Vater ist, und was er jetzt, da
ich »unverheiratbar« bin, mit mir machen wird. Wenn ich mit meinem
ständigen Auf und Ab Rillen in den Boden wetze, dann nur deshalb,
weil ich nach Hause will. Stara seufzte. Ein Jammer, dass
ich hierherkommen musste, um herauszufinden, wo »zu Hause« wirklich
ist.
»Gibt es hier irgendwelche Wände, die nicht weiß
sind?«
»Nein, Herrin.«
Stara seufzte abermals. Vora hatte einige Tage
gebraucht, um Stara dazu zu überreden, ihr Zimmer zu verlassen.
Stara wollte es der Sklavin gegenüber nicht eingestehen, aber sie
hatte Angst vor einer Begegnung mit ihrem Vater. Vora hatte ihr
keine Ruhe gelassen, und am Ende hatte Stara sich gefügt, aus
Abscheu vor sich selbst, weil sie es ihrem Vater gestattete, sie in
einen Feigling zu verwandeln. Obwohl sie sich vorstellte, dass es
schwierig wäre, ihn dazu zu überreden, sie nach Hause zu schicken,
war es vollkommen unmöglich, wenn sie ihm nie wieder
begegnete.
Mit einem Mal lag ein eigenartiger Geruch in der
Luft. Er war nicht unangenehm oder widerlich süß wie die Düfte, die
Sachakanerinnen bevorzugten. Vora führte Stara in einen Flur, der
nicht gerade, sondern in einem weiten Bogen verlief. Durch Fenster
in der Wand auf der Innenseite des Bogens blickte man auf
wucherndes Grün. Stara blieb stehen, überrascht, ein so üppiges
Pflanzenleben vor sich zu sehen.
Als sie vor eins der Fenster trat, sah sie, dass
der Garten einen runden Raum ausfüllte und dass als Dach darüber
eine große, aus Segmenten zusammengesetzte runde Zeltbahn zwischen
Haken in den Wänden gespannt war.
»Ja, das ist wirklich hübsch... und unerwartet«,
sagte sie laut.
Vora kicherte. Als die Frau zu einer Tür ging, die
in den Garten
führte, betrachtete Stara die Sklavin. Ich bin mir fast sicher,
dass sie mich mag. Ich hoffe es. Ich habe sie jedenfalls zu mögen
gelernt, und es wäre eine Schande, wenn das Gefühl nicht auf
Gegenseitigkeit beruhte.
Sie konnte sich noch immer nicht dazu überwinden,
Vora als etwas Geringeres denn eine Dienerin zu behandeln. Auch das
herrische Gehabe der Frau passte kaum zu ihrem niederen Stand.
Ich vertraue ihr wahrscheinlich mehr, als ich das tun
sollte, dachte Stara. Nicht mehr als einer Dienerin, aber
wenn Voras Beschreibung sachakanischer Politik und ihrer Intrigen
nicht übertrieben ist, dann sollte ich die Möglichkeit in Betracht
ziehen, dass ein Feind sie dafür anwerben könnte, mich zu vergiften
oder etwas in der Art. Das heißt, es wäre dann wohl eher einer der
Feinde meines Vaters... oder mein Vater selbst. Sie schauderte.
Aber das würde er nicht tun. Und sei es nur deshalb, weil meine
Mutter sich in diesem Fall weigern würde, ihm noch länger ihre
Gewinne zu schicken. Trotzdem... wenn sie niemals erfahren würde,
dass er es war... Ich sollte an etwas anderes denken.
Ein kleiner, von Steinen gesäumter Bach schlängelte
sich durch den Garten, und in der Mitte führte eine Brücke über das
Gewässer. Am gegenüberliegenden Ende sprudelte Wasser durch ein aus
der Mauer ragendes Rohr. Es war so hübsch, dass Stara enttäuscht
war, als Vora sie aus dem Garten führte, durch den Flur und hinein
in einen leeren Raum. Hier waren die Wände mit grauem Stein
ausgekleidet.
»Also sind nicht alle Wände w...«, begann Stara,
brach jedoch ab, als Vora ihr bedeutete, Schweigen zu
bewahren.
Fasziniert folgte Stara der Sklavin zu einer
hölzernen Tür auf der anderen Seite des Raums. Vora blieb stehen
und trat dann neben Stara. Das schwache Geräusch von Musik drang
durch die Tür. Stara sah Vora überrascht an. Sie hatte seit ihrer
Ankunft in Sachaka keine Musik mehr gehört. Die Frau lächelte und
wiederholte ihre Geste, mit der sie sie zuvor um Schweigen gebeten
hatte.
Stara lauschte. Der Musikant spielte ein
Saiteninstrument, das sie eher in den Häusern reicher Elyner gehört
hatte. Und der Musikant war gut. Sehr gut. Während er von einer
Melodie
zur anderen wechselte und manchmal einige Klänge wiederholte, um
einen Fehler zu korrigieren oder die Geschwindigkeit zu verändern,
wuchs Staras Bewunderung. Schließlich konnte sie die Spannung nicht
länger ertragen. Sie rückte von der Tür weg.
»Wer ist das?«, flüsterte sie Vora zu.
Das Lächeln der Frau wurde breiter. »Meister
Ikaro.«
Stara fuhr vor Schreck hoch. »Mein Bruder?« »Ja,
Herrin. Ich habe es Euch gesagt. Er ist nicht der, für den Ihr ihn
haltet.«
»Wie hat er gelernt, so zu spielen?«
»Er hat zugehört. Und geübt.« Voras Lächeln
verblasste. »Als Meister Sokaro es herausfand, hat er Meister
Ikaros erste Viya zerschmettert. Ich weiß nicht, wie es Eurem
Bruder gelungen ist, eine neue in die Hände zu bekommen. Er will es
mir nicht verraten, aus Furcht, Euer Vater könnte meine Gedanken
lesen.«
Stara sah Vora an; sie war außerstande, diese
beiden Bilder miteinander in Einklang zu bringen: Das Fantasiebild
eines gut aussehenden jungen Viya-Spielers, der gekommen war, um
ihr den Aufenthalt in ihrem Gefängnis erträglicher zu machen, und
das Bild aus ihrer Erinnerung, das Bild eines jungen Mannes mit
harten Gesichtszügen, der glaubte, Frauen seien wertlos.
»Ihr habt mehr gemeinsam, als Euch bewusst ist«,
erklärte Vora entschieden. »Ihr solltet Verbündete sein.«
Stara sah die Frau abermals an, dann machte sie
einen Schritt nach vorne und trat durch die Tür.
»Wartet, Herrin!«, rief Vora aus. »Es ist
ein...«
Badezimmer, beendete Stara ihren Satz,
während sie die Szene, die sich ihr bot, erfasste.
Am Rand eines Beckens mit dampfendem Wasser saß ein
Mann, nackt bis auf ein Tuch über seinem Schoß. Er starrte sie
entsetzt an. Sie blickte auf den großen Buckel unter dem Tuch
hinab.
»Hast du wirklich geglaubt, du könntest es darunter
verstecken?«, platzte sie heraus. »Du hättest dir doch gewiss einen
besseren Plan überlegen können. Und du weißt sicher, dass die
feuchte Luft das Instrument ruinieren könnte, nicht wahr?«
Ikaros Blick wanderte von ihr zu einem Punkt hinter
ihrer linken Schulter, und an die Stelle der Überraschung trat
Ärger in seine Züge.
»Vora«, sagte er missbilligend, aber ohne großen
Nachdruck. »Ich habe dich gebeten, dich nicht einzumischen.«
»Wie Ihr immer gesagt habt, Meister Ikaro, ich bin
nicht besonders gut darin, Befehlen zu gehorchen, die mir nicht
gefallen«, erwiderte die Frau. Sie trat neben Stara. »Obwohl ich
nicht damit gerechnet habe, dass Eure Schwester meinen Rat gar so
wörtlich nehmen würde.«
Stara sah sie an und zuckte die Achseln. »Nun,
jetzt bin ich hier. Du willst, dass wir reden?« Sie sah Ikaro an
und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann lass uns
reden.«
Er warf ihr einen Blick zu, dann holte er die Viya
unter dem Tuch hervor und stellte sie vorsichtig beiseite.
Anschließend knotete er den Stoff um seine Taille, nahm die Viya
wieder auf und erhob sich. »Es gibt bessere Orte als diesen«, sagte
er und bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Orte, wo es viel trockener
ist und wir trotzdem ungestört reden können.«
Sie gingen an dem Becken vorbei zu einer Tür am
gegenüberliegenden Ende des Bades. Der nächste Raum war kleiner,
mit Steinbänken zu beiden Seiten. Auf einer der Bänke lagen sauber
gestapelte Kleider. Ikaro bedeutete ihnen, in den nächsten Raum
weiterzugehen, einen gewöhnlichen, weiß getünchten Raum mit einigen
Stühlen und Tischen. Er folgte ihnen nicht, sondern kam kurz darauf
voll bekleidet zum Vorschein. Und ohne die Viya, wie Stara
bemerkte. Wo bewahrte er sie in diesem Raum auf, in dem es nichts
als Steine gab?
Ich nehme an, wenn sie stets an einem feuchten
Platz bleibt und niemals zu schnell austrocknet, dürfte das Holz
nicht bersten.
Immer noch schweigend führte er sie in einen Flur
und dann hinaus in einen umfriedeten Innenhof. Topfpflanzen
spendeten Schatten, und ein Springbrunnen in der Mitte erfüllte die
Luft mit dem steten Plätschern von Wasser. Sie setzten sich an den
Rand des Brunnens.
Ah, ja. Der alte Springbrunnentrick. Übertönt
das Geräusch von Stimmen. Gut zu wissen, dass die Elyner nicht die
Einzigen sind, die das tun.
»Hier können wir gefahrlos reden«, erklärte er
ihnen.
»Es gibt also keine Lippenleser unter den
Sklaven.«
Er sah sie eigenartig an. »Lippenlesen«, erklärte
sie. »Die Fähigkeit, an den Lippenbewegungen eines Menschen zu
erkennen, was er sagt.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass irgendjemand dazu
imstande ist«, gab er zu und sah sich nervös im Innenhof um. Er
zuckte die Achseln und wandte sich wieder zu ihr um. »Also, worüber
möchtest du reden?«
Sie suchte nach einer Spur des herablassenden,
kalten Mannes, der sie vor einigen Wochen beim Abendessen ignoriert
hatte. Er wirkte ein wenig ängstlich, aber in seinem Gesicht lagen
weder Feindseligkeit noch Reserviertheit. Er schien beinahe ein
anderer Mensch zu sein.
»Vora hat mir gesagt, du seiest nicht der Mensch,
den ich zu kennen glaube«, begann sie, nachdem sie beschlossen
hatte, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Aber ich habe dich seit
meiner Ankunft nur ein einziges Mal gesehen, und bei dieser
Gelegenheit hast du mich kaum eines Blickes gewürdigt.«
Er verzog das Gesicht und nickte. »Ich durfte dir
gegenüber keine Gefühle zeigen, seien sie gut oder schlecht, weil
es den Ausgang des Ganzen hätte beeinflussen können.«
»Es hätte meinen zukünftigen Ehemann abschrecken
können?«
»Ja.«
Sie stieß ein kurzes, verbittertes Lachen aus.
»Vielleicht wollte ich ihn ja abschrecken. Aber natürlich waren die
Wünsche meines Vaters wichtiger als meine.«
In seinen dunklen Augen stand ein gehetzter
Ausdruck, als er nickte und sie ansah. »Es hat kaum Sinn, ihm
Widerstand zu leisten.«
Sie blickte zurück in Richtung Bad. »Du scheinst es
aber nicht aufzugeben.«
»Ein kleiner Sieg, den ich jeden Augenblick, jeden
Tag einbüßen könnte. Die größeren Probleme…« Er seufzte und
schüttelte den Kopf. »Ich war so eifersüchtig auf dich, dass du bei
Mutter gelebt hast und tun konntest, was immer du wolltest.«
Stara starrte ihn an. »Du warst eifersüchtig auf
mich? Ich dachte, du... Du hast gesagt, Frauen seien nicht
wichtig, und ich habe angenommen, dass diese Bemerkung mich
einschloss. Warum solltest du überhaupt einen Gedanken an mich
verschwendet haben?«
»Ich war sechzehn, als ich das gesagt habe, Stara«,
tadelte er sie leise. »Du kannst niemanden für die Ansichten
verantwortlich machen, die er in diesem Alter entwickelt, vor allem
wenn er an einem Ort wie diesem aufgewachsen ist. Alles hier ist
extrem. Es gibt keinen Mittelweg. Als ich meiner Frau begegnete,
habe ich gelernt, dass die Dinge nicht so einfach waren.«
»Ich war eifersüchtig auf dich«, sagte sie. »Mein
Leben lang habe ich darauf hingearbeitet zu lernen, was ich
glaubte, wissen zu müssen, wenn Vater mich endlich nach Hause
holte.« Sie ballte die Fäuste. »Und als er es tat, stellte sich
heraus, dass er mich lediglich wie ein Stück Vieh verkaufen
wollte.«
Ikaro lachte leise. »Er war furchtbar wütend
darüber, dass du Magie gelernt hast. Nachira und ich haben so
gelacht, als ich es ihr erzählt habe. Du musst sie kennenlernen.
Ich weiß, dass sie dich gern kennenlernen würde. Wie hast du es
geschafft, Magie zu erlernen und es geheim zu halten?«
Sie zuckte die Achseln. »Freunde in Elyne. Mutter
hat mir nicht erlaubt, Meisterschülerin bei einem Magier zu werden,
und ich wollte sie nicht im Stich lassen, weil sie dann all die
Arbeit allein hätte tun müssen. Also habe ich von einer Freundin
gelernt und aus Büchern.«
»Vater hat gesagt, du hättest keine gute Ausbildung
gehabt. Ich habe das so verstanden, dass du keine höhere Magie
gelernt hast.«
Sie hielt seinem Blick einen Moment lang stand,
dann schaute sie weg. »Du bist in Elyne gewesen. Du kennst die
Gesetze.«
»Alle Magier werden durch denselben Eid gebunden,
bevor es ihnen gestattet ist, höhere Magie zu erlernen, nicht
wahr?«
»Ja. Meine Freundin sagte, sie werde mich keine
höhere Magie lehren, weil es ein Gesetz sei, das sie respektiere.
Nicht dass ich es ihr übelnehmen würde.« Sie zuckte die Achseln.
»Was ich gelernt habe, war kostbar genug. Lernen auch sachakanische
Frauen Magie?«
Er nickte. »Manchmal. Im Allgemeinen nur deshalb,
weil sie die einzige Erbin eines magischen Besitzes sind, aber es
gibt Geschichten über Männer, die ihre Frauen törichterweise
unterrichtet und es später bereut haben; oder Geschichten über
Frauen, die ihre Ausbildung im Gegenzug für irgendeine Gefälligkeit
erhalten haben.«
»Bedeutet es wirklich, dass kein Mann sie heiraten
wird?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, du
wolltest nicht heiraten.«
»Nur nicht jemanden, den ich nicht kenne und
mag.«
»Ich verstehe.« Er wandte stirnrunzelnd den Blick
ab. Stara sah Vora an. Die Frau beobachtete ihn genau, und auf
ihrer Stirn stand eine Sorgenfalte.
»Eine Frau wird für eine Heirat nicht
unvermittelbar, weil sie über Magie gebietet, aber es ist
unwahrscheinlich, dass jemand von hohem Stand sie wählen würde.« Er
sah sie schnell an. »Vater hat jemanden von niedrigerem Stand
gewählt, als er ursprünglich geplant hatte. Das ist alles, was ich
weiß.«
»Er hat gewählt...«, wiederholte Stara. Ein kalter
Schauder überlief sie.
Ikaro runzelte die Stirn. »Das wusstest du
nicht?«
»Nein, ich dachte... Ich hatte gehofft, er hätte
die Idee aufgegeben, und... ich hatte gehofft, er würde mich nach
Hause schicken.«
Er schüttelte den Kopf und wandte abermals den
Blick ab. »Nein, er hat den Antrag eines Mannes angenommen.«
Stara stand auf und begann, in einem kleinen Kreis
auf und ab zu gehen. »Habe ich irgendein Mitspracherecht dabei?«
Sie schaute ihn an und sah den entschuldigenden Ausdruck
in seinen Augen, als er zu einer Antwort ansetzte. »Nein. Ich
weiß.« Sie fluchte. »Was kann ich tun? Weglaufen? Ihm sagen, dass
ich, wenn er mich gegen meinen Willen verheiratet, dafür sorgen
würde, dass ich niemals ein Kind bekomme?«
Ikaro zuckte merklich zusammen, eine Reaktion, die
sie in ihrem Auf und Ab innehalten ließ. Sie musterte ihn. Vater
hat gesagt, Ikaros Frau könne keine Kinder zur Welt bringen. Er ist
jetzt seit einigen Jahren verheiratet. So, wie es klingt, mag und
respektiert er seine Frau. Aber wenn sie unfruchtbar ist... Und
Vater hat gesagt, er brauche einen Erben. Um zu verhindern, dass
dem Kaiser nach Ikaros Tod das Familienvermögen zufällt.
»Sagt es ihr«, sagte Vora mit leiser,
eindringlicher Stimme. Ikaro stützte den Kopf in die Hände, dann
richtete er sich wieder auf. »Wenn du kein Kind zur Welt bringst,
wird Vater dafür sorgen, dass ich es tue. Indem er mir die Freiheit
verschafft, es mit einer anderen Ehefrau zu versuchen.«
Stara starrte ihn an, während ihr langsam die
Bedeutung seiner Worte dämmerte. Er wird Nachira ermorden.
Deshalb ist Ikaro zusammengezuckt. Er liebt Nachira. Ich muss ein
Kind bekommen, damit Vater keinen Grund hat, sie zu töten. Eine
Welle des Entsetzens schlug über ihr zusammen. Wenn mich doch
nur irgendjemand aus diesem Land schaffen könnte!
Aber wenn es jemand tat, würde Nachira trotzdem
sterben. Obwohl sie der Frau nie begegnet war, wusste Stara, dass
sie sich immer dafür verantwortlich fühlen würde, wenn etwas, das
sie getan - oder nicht getan - hatte, zum Tod eines anderen
Menschen führte.
War sie bereit, einen Fremden zu heiraten und seine
Kinder zu bekommen, nur um das zu vermeiden?
Besteht überhaupt die geringste Chance, dass ich
aus Sachaka herauskommen könnte? Vater kann mich trotzdem an
irgendeinen Mann seiner Wahl verheiraten, ob ich es will oder
nicht. Ich habe kein Mitspracherecht.
»Also ist Vater bereit, Nachira ermorden zu lassen,
nur damit dem Kaiser das Familienvermögen nicht in die Hände
fällt.«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er muss den Kaiser
wirklich verabscheuen.«
»Für ihn ist es eher eine Frage des Stolzes«,
erklärte Ikaro ihr. »Gewiss ist es keine Sorge um meinetwillen oder
die Überlegung, dass Nachira, sollte ich vor ihr sterben, weder
Geld noch ein Zuhause haben wird.«
Er blickte schuldbewusst drein, aber seine Augen
flehten sie an.
»Ich weiß, ich bitte dich, etwas zu tun, das du
nicht tun willst, und ich wünschte, es gäbe eine andere
Möglichkeit. Wenn ich dir etwas als Gegenleistung dafür geben
könnte, würde ich es tun, aber ich weiß, dass die Dinge, die du dir
am meisten wünschst, dazu führen würden, dass... dass sie dann
dennoch...«
Stara holte tief Luft und stieß sie langsam wieder
aus. »Es klingt so, als müsste ich Nachira kennenlernen.«
Ikaros Augen leuchteten auf. »Du wirst sie
mögen.«
»Das hast du schon einmal gesagt. Ich werde mich zu
nichts verpflichten, bis ich Zeit hatte, darüber nachzudenken.« Sie
hielt inne, als ihr plötzlich eine Idee kam. »Als du gesagt hast,
du würdest mir etwas als Gegenleistung geben...«
Er zögerte, runzelte die Stirn und lächelte dann.
»Wenn ich es geben kann, werde ich es tun.«
»Lehre mich höhere Magie.«
Wieder sah sie Überraschung, dann Sorge und
schließlich Erheiterung. Am Ende nickte er. »Ich werde ebenfalls
darüber nachdenken müssen. Und mich mit Nachira beraten. Sie sieht
häufig Konsequenzen, wo ich blind bin.«
»Natürlich«, sagte sie. Dann wandte sie sich zu
Vora um und sah, dass die Frau breit lächelte. »Weshalb machst du
so ein selbstgefälliges Gesicht, Vora?«
Die Augen der Frau weiteten sich, und ein wenig
überzeugender Ausdruck trat in ihre Züge. »Ich bin bloß eine
Sklavin, Herrin, und habe keinen Grund, selbstgefällig zu
sein.«
Zu Staras Erheiterung verdrehte Ikaro die Augen.
»Ich weiß nicht, warum Vater dich behält, Vora.«
»Weil ich mich so gut darauf verstehe, seine Kinder
in Schach
zu halten.« Sie stand auf und machte einen Schritt weg von dem
Springbrunnen. »Kommt jetzt, Herrin. Zu viele Stunden in der Sonne
werden Euch vor Eurer Zeit altern lassen.«
Als sie sich von dem Springbrunnen entfernte, rief
Ikaro ihnen leise nach.
»Wir dürfen nicht zu lange mit einer Entscheidung
warten, Stara. Es gibt Gerüchte, nach denen Kaiser Vochira
möglicherweise gegen Kyralia in den Krieg ziehen wird. Wenn Vater
mich fortschickt, um zu kämpfen, werde ich niemanden beschützen
oder unterrichten können.«
Stara drehte sich um, begegnete seinem Blick und
nickte ernst. Dann folgte sie Vora zurück in ihre Räume, wobei sich
ihre Gedanken langsam, aber unaufhörlich um die Wahl drehten, die
sie jetzt treffen musste.