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Tessia wurde klar, dass sie nicht wieder einschlafen würde, nur indem sie das Dach des Zeltes anstarrte. Seufzend drehte sie sich auf die Seite und betrachtete die anderen jungen Frauen, die schlafend auf ihren Pritschen lagen. Jetzt, da weitere weibliche Meisterschüler bei der Armee waren, hatte irgendjemand beschlossen, dass sie alle sich ein Zelt teilen sollten. Sie waren zu sechst, Tessia eingeschlossen, und die Jüngste von ihnen war vierzehn, die Älteste fünfundzwanzig.
Sind das wirklich alle weiblichen Meisterschüler in Kyralia? Es musste mehr als siebzig männliche Meisterschüler geben, obwohl sie sich nicht sicher war, ob einige Magier diese Zahl verfälscht hatten, indem sie neue Meisterschüler aufgenommen hatten, um sich in Vorbereitung auf den Krieg zu stärken. Wie viele Frauen haben magisches Talent, das sie jedoch niemals entwickeln? Wie viele erfahren niemals, dass sie es besitzen?
Sie fragte sich, warum gerade diese Mädchen Meisterschülerinnen geworden waren. Einige von ihnen hatten in der Nacht zuvor ihre Geschichte erzählt. Mehrere hatten Mütter, die Magier waren, obwohl sie nicht alle von ihren Müttern ausgebildet wurden. Eine bezeichnete sich selbst als einen »Sohnersatz«, da sie nur Schwestern hatte. Die Übrigen schienen die Magie als eine Art Hobby zu betrachten.
Alle waren ein wenig verängstigt, dass sie in einen Krieg hineingeraten waren, vermutete Tessia. Selbst jene, die sich schnippisch oder begeistert geäußert hatten, einen Kampf beobachten zu können.
Und doch hat sich niemand darüber beklagt, dass hier Meisterschüler herumsitzen und warten, während unsere Meister in den Kampf ziehen.
Heiße Furcht stieg in Tessia auf. Beim letzten Mal war keiner der Magier gestorben, aber das bedeutete nicht, dass es diesmal genauso werden würde. Fehler waren immer möglich. Die Sachakaner würden es den Kyraliern diesmal vielleicht nicht gestatten, den Rückzug anzutreten, falls es so weit kam.
Aber zumindest brauchte sie sich keine Sorgen um Jayan zu machen. Einmal mehr hatte man ihm, obwohl er jetzt ein höherer Magier war, die Verantwortung für die Meisterschüler übertragen. Er war die logische Besetzung für diese Rolle, da er die Meisterschüler schon früher angeführt hatte und sie alle ihn als Helden betrachteten, seit er drei Sachakaner »ganz allein« in dem Lagerhaus »besiegt« hatte. Sie musste zugeben, dass seine Lösung sehr klug gewesen war, und sie bewunderte seine Geistesgegenwart.
Und jetzt sind die Mädchen noch mehr geneigt, ihm verzückt nachzugaffen. Sie dachte an das Gespräch zurück, das sie in der vergangenen Nacht mit den Meisterschülerinnen geführt hatte. Jetzt haben sie auch noch mit Mikken angefangen und erzählen sich seufzend von seiner tragischen, aber mutigen Flucht von dem Pass, dass er sich ganz allein durchgeschlagen und sich der Armee wieder angeschlossen habe, obwohl er nach Imardin hätte zurückkehren können. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Trotzdem, man konnte wirklich nicht anders, als ihn dafür zu bewundern.
Tessia seufzte. Sie würde nicht wieder einschlafen. Ich kann genauso gut aufstehen und schauen, ob ich mich nützlich machen kann.
So leise sie es vermochte, erhob sie sich und legte sich ihre Decke um die Schultern. Dann griff sie nach ihren Stiefeln, trug sie aus dem Zelt und setzte sich auf eine Kiste, um sie anzuziehen. Es herrschte nicht mehr die tiefe Dunkelheit der Nacht und noch nicht das Zwielicht der beginnenden Dämmerung, aber sie konnte in der Ferne Gestalten sehen, die die Grenzen des Lagers abschritten, und andere Zelte. In den Feuern erstarb langsam die Glut. Lampen flackerten, durstig nach Öl.
Schließlich stand sie auf und begann umherzuschlendern, ohne ein Ziel im Sinn zu haben. Nur eine Runde durch das Lager, beschloss sie. Die männlichen Meisterschüler schliefen entweder im Zelt ihres Meisters oder hatten ihre eigenen Quartiere. Sie kam an einer kleinen Gruppe von ihnen vorbei, die irgendeine Art von Spiel spielten. Als sie sie sahen, winkten sie sie heran, aber abgesehen von einem Lächeln ignorierte sie sie und ging weiter.
Eine wohl zehn Schritt breite Bahn nackten Bodens zog sich in einem Bogen durchs Lager, und erst als sie sie überquert hatte und an einigen weiteren Zelten vorbeigekommen war, begriff sie, dass sie die Magier und Meisterschüler vom Lager der Diener trennte. Die Zelte hier waren gewiss schlichter und außerdem rechteckig. Sie sah Tische, auf denen Töpfe, Pfannen und Kessel standen, außerdem Körbe und Kisten mit Säcken, Früchten, Gemüse und anderen Nahrungsmitteln. Einige Menschen schliefen Schulter an Schulter und hatten nur Decken oder Matten aus getrocknetem Gras zwischen sich und dem Boden. Sie bemerkte den Geruch von Tieren, die in Pferchen oder Käfigen gehalten wurden.
Dann erregte eine vertraute Mischung von Gerüchen ihre Aufmerksamkeit. Sie hielt inne, als sie den Zwillingsduft von Krankheit und Heilmitteln erkannte, und beschleunigte ihren Schritt. Vor ihr tauchte ein großes, rechteckiges Zelt auf. Sie ging am Eingang vorbei und nahm die primitiven Betten aus Grasmatten und Decken wahr, die kranken Männer und Frauen, die Schüsseln für Exkremente oder Waschwasser und den Tisch mit Heilmitteln, von denen einige angemischt waren, andere nicht und wieder andere erst halb fertig.
In der Dunkelheit im hinteren Teil des Zeltes beugte sich jemand über einen Patienten. Tessia konnte das schnarrende Geräusch von Atem hören. Sie trat in das Zelt und ging auf den Kranken zu.
»Ich habe in meinem Zelt etwas Frischrindensalbe«, sagte sie. »Soll ich sie holen?«
Die Gestalt richtete sich auf und wandte sich dann zu Tessia um. Statt das überraschte Gesicht eines Mannes vor sich zu sehen, wurde ihr ein strahlendes, vertrautes Lächeln zuteil.
»Tessia!«, rief Kendaria aus. »Ich habe gehört, dass Ihr hier seid. Ich wollte Euch heute Nacht suchen gehen, aber die Heiler haben mir den Nachtdienst zugeteilt.«
»Allein?« Tessia betrachtete die anderen Patienten. »Ohne auch nur einen Gehilfen?«
Kendaria zog die Brauen zusammen. »Das ist meine Strafe dafür, dass ich es wage, eine Frau zu sein. Außerdem gelingt es den meisten Patienten zu schlafen, bis auf diesen Burschen hier.« Sie griff nach Tessias Arm und führte sie aus dem Zelt. »Und er wird nicht mehr sehr lange leben, ganz gleich, wer über ihn wacht«, fügte sie leise hinzu. »Der arme Mann.«
»Ich kann meine Tasche holen«, erbot Tessia sich. »Vielleicht könnte ich seinen Schmerz lindern.«
Kendaria schüttelte den Kopf. »Was ich ihm gegeben habe, wird vollkommen genügen. Also, wie geht es Euch? Ich habe so viele Geschichten über die Jagd auf Sachakaner gehört, über Schlachten und dergleichen mehr, und Ihr seid von Anfang an dabei gewesen. Wie seid Ihr damit fertig geworden?«
Tessia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt damit fertig geworden bin. Wo immer Lord Dakon hingegangen ist, bin ich ebenfalls hingegangen. Und er ist dorthin gegangen, wo immer Lord Werrin hingegangen ist und später Magier Sabin und jetzt der König. Und sie sind hingegangen, wo immer die Sachakaner sie hinzugehen gezwungen haben.« Sie drehte sich noch einmal zu dem Zelt um. »Ihr habt es offensichtlich geschafft, die Gilde dazu zu überreden, Euch ein wenig Heilkunst ausüben zu lassen.«
»Nur die langweiligen oder unangenehmen Arbeiten, die sie nicht verrichten wollen.« Kendarias Miene verdüsterte sich. »Meistens behandeln sie mich wie eine Dienerin und schicken mich aus, um ihnen zu essen oder zu trinken zu holen. Einer dachte sogar, er könne sich die Freiheit nehmen, in mein Bett zu schlüpfen, aber seine Absichten waren so durchschaubar, dass ich etwas Papeagewürz unter mein Kissen gelegt und es ihm in die Augen geblasen habe. Sie haben noch tagelang getränt.«
»Das ist ja schrecklich!«, stieß Tessia hervor. »Habt Ihr Euch über sein Benehmen beschwert?«
»Natürlich, aber der Gildenmeister hat mir erklärt, dass die meisten Menschen denken, die einzigen Frauen, die sich in der Nähe von Armeen aufhalten, seien dabei, um den Männern zu dienen, und dass es mich daher nicht überraschen dürfe, wenn Männer gewisse Schlüsse über mich zögen.«
Tessia starrte sie mit offenem Mund an. »Er hat was gesagt? Zieht er die gleiche Art von Schlüssen, was mich betrifft? Oder die anderen weiblichen Meisterschüler und Magier?« Sie schüttelte den Kopf. »Oder die Dienerinnen? Arbeiten sie so hart, um uns zu unterstützen, nur um behandelt zu werden wie... wie...?«
Kendaria verzog das Gesicht und nickte. »Es waren nicht wenige Frauen, die zu mir gekommen sind, um mich nach einem Mittel zur Empfängnisverhütung zu fragen. Was glaubt Ihr, wer mir das Papeagewürz besorgt hat? Das ist keine Zutat für ein Heilmittel.«
Tessia konnte vor Entsetzen nicht sprechen. Sie zog es in Erwägung, Lord Dakon davon zu berichten. Er würde es an Magier Sabin weitergeben, davon war sie überzeugt. Aber würde irgendjemand irgendetwas deswegen unternehmen? Selbst wenn sie es untersagten, würden die Männer, die die Dienerinnen ausnutzten, nichts darum geben.
»Ist es wahr, was sie über Euch erzählen?«, fragte Kendaria ein wenig zögerlich.
Tessia schüttelte ihre Gedanken ab und sah die Heilerin ab. »Was sagen sie denn über mich?«
»Dass Ihr mit Magie heilen könnt. Dass Ihr einen gebrochenen Rücken wieder in Ordnung gebracht habt.«
»Oh.« Tessia lächelte. »Es ist wahr, und es ist auch wieder nicht wahr. Ich habe versucht, Magie zu benutzen, um zu heilen, aber noch habe ich keine Möglichkeit dazu gefunden. Ich konnte nicht mehr tun, als gebrochene Knochen wieder an die richtige Stelle zu bringen, eine Wunde geschlossen zu halten, während sie vernäht wurde, oder eine Blutung zu stillen. Und ich habe vor kurzem herausgefunden, wie ich die Schmerzpfade zusammendrücken muss, um einen bestimmten Teil des Körpers zu betäuben. Aber das ist alles.«
»Also, wie habt Ihr den gebrochenen Rücken geheilt?«
»Er war nicht gebrochen. Die Knochen waren nur verschoben.«
»Aber... woher habt Ihr gewusst, dass sie nicht gebrochen waren?«
Tessia hielt inne. Natürlich, gewöhnliche Heiler konnten nicht in die Körper ihrer Patienten hineinschauen. Mir war gar nicht bewusst, was für ein großer Vorteil das ist. Ich habe eine geringere Meinung von den Heilern gehabt, weil sie falsche Diagnosen stellen, obwohl sie in Wirklichkeit gar keine Schuld daran trifft.
»Ich bin in der Lage, in Menschen hineinzuschauen«, erklärte sie.
Kendaria lächelte. »Ihr mögt vielleicht nicht in der Lage sein, mit Magie tatsächlich zu heilen, aber was Ihr tun könnt, ist wunderbar.« Dann verblasste ihr Lächeln ein wenig. »Was der Grund ist, warum die Heiler nicht glücklich über das sind, was Ihr tut. Seid nicht überrascht, wenn sie versuchen, Euch aufzuhalten. Sie machen sich Sorgen, dass sie ihre reicheren Kunden verlieren werden, wenn Magier heilen können.«
»Wie könnten sie mich aufhalten?«
»Indem sie den König davon überzeugen, dass Ihr, weil Ihr nicht von der Gilde ausgebildet wurdet, aus Unwissenheit mehr Schaden als Nutzen stiften könntet. Oder dass Magier den Heilern alle Arbeit wegnehmen werden, was dazu führen wird, dass sie es sich nicht mehr leisten können, gute Werke zu tun und Menschen zu heilen, die es sich nicht leisten können, Magier zu bezahlen. Nicht dass sie das besonders häufig täten.«
Tessia lachte leise. »Mit anderen Worten, sie haben Angst, dass sie am Ende nichts Besseres mehr sein werden als ein niederer Dorfheiler.«
»Ja.« Kendaria sah sie ernst an. »Unterschätzt sie nicht. Sie sind die mächtigste Gilde in der Stadt. Sie würden nicht kampflos aufgeben, was sie haben.«
»Ich werde vorsichtig sein«, versicherte Tessia ihr. »Ich werde keinen Aufruhr in der Gilde stiften und dann verschwinden, wie mein Großvater es getan hat. Er sagte immer, sein Fehler sei es gewesen zu versuchen, sie allzu schnell zu verändern. Er hätte mehr Erfolg gehabt, wenn er seine Veränderungen so langsam vollzogen hätte, dass sie sie gar nicht bemerkt hätten. Aber er war jung und ungeduldig, und Menschen starben … Was ist das für ein Geschrei?«
Die Rufe im Hintergrund wurden stetig lauter und zahlreicher. Kendaria lauschte stirnrunzelnd.
»Lauft! Steigt in die Wagen!«
»Sie kommen!«
»Lasst alles liegen! Lauft einfach!«
Plötzlich waren überall Menschen, die schreiend zwischen den Zelten umherhuschten. Diener kamen zum Vorschein. Aus dem Zelt der Heiler drangen fragende Rufe. Ein Mann eilte auf Kendaria zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie kreischte vor Schreck auf.
»Die Armee ist auf dem Weg hierher, und die Sachakaner sind dicht dahinter. Wir müssen alle in die Wagen schaffen und aufbrechen. Es wird nichts eingepackt. Bringt nur die Menschen weg.« Er sah Tessia an und blinzelte. »Meisterschülerin Tessia? Meister Jayan sucht nach Euch.« Er deutete auf die Mitte des Lagers.
»Danke«, sagte Tessia. Sie blickte noch einmal zu Kendaria hinüber. »Viel Glück.«
»Euch auch.«
Tessia wandte sich ab und lief zwischen den Zelten hindurch. Sie musste mehrmals zur Seite springen, als Männer und Frauen zum Rand des Lagers rannten, wo Pferde und Gorin so schnell wie möglich vor die Karren gespannt werden mussten. Sobald sie den Bereich der Magier erreicht hatte, folgte sie den anderen Meisterschülern, die alle in die gleiche Richtung liefen.
Als sie auf die Straße kam, auf den Platz vor dem Zelt des Königs, sah sie Jayan auf einer großen Kiste stehen. Er rief Befehle und wiederholte dieselben Informationen wieder und wieder, um die hektischen Fragen der Meisterschüler zu beantworten.
»Unsere Armee zieht sich zurück. Die Sachakaner verfolgen sie. Sie werden bald hier sein. Wir müssen bereit sein. Die Diener bringen die Pferde herbei.« Er hielt inne und sah einen der Meisterschüler stirnrunzelnd an. »Hör auf, Zeit mit törichten Fragen zu verschwenden, und schau, ob dein Pferd hier ist!«, fuhr er den Jungen an. Dann drehte er sich um und streckte die Hand aus. »Du da! Arlenin. Ich sehe jemanden dein Pferd herbringen. Ja, dieses hässliche Tier würde ich noch erkennen, wenn es sich auf der anderen Seite des Lagers befände. Geh es holen.«
Tessia legte eine Hand auf den Mund, um nicht laut loszulachen, dann stieg eine Woge der Zuneigung zu ihm in ihr auf. Er hatte nichts übrig für Narren. Obwohl dies in Friedenszeiten nicht immer eine gute Eigenschaft darstellte, war seine Ungeduld jetzt jedoch genau das, was die Meisterschüler brauchten, um ihre Panik zu vergessen und alles Notwendige zu regeln.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber binnen weniger Minuten saßen fast alle auf ihren Pferden und warteten. Als die Menge rund um Jayan sich allmählich zerstreute, konnte sie näher an ihn herantreten. Ein Diener kam, um Jayan mitzuteilen, dass die Karren beladen waren und bereitstanden. Jayan hielt einen Moment lang inne.
»Dann geh. Ihr werdet langsamer reisen als wir. Gibt es eine andere Straße, abgesehen von der Hauptstraße, die euch nicht direkt zu den Sachakanern führt?«
»Ja. Die Straße ist bereits ausgewählt worden, für den Fall, dass es notwendig werden würde.«
»Gut. Dann geh.«
Der Mann machte eine knappe Verbeugung, dann eilte er davon. Aus irgendeinem Grund überlief Tessia bei diesem Bild ein Schauder. Es ist schwer genug, sich daran zu gewöhnen, dass Jayan sich wie ein höherer Magier benimmt und wie ein solcher behandelt wird, aber ihn in der Rolle eines Anführers zu beobachten, ist in der Tat ausgesprochen seltsam!
»Jayan«, rief sie. Er drehte den Kopf in ihre Richtung, doch dann lenkte ein weiterer Ruf seine Aufmerksamkeit ab. Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Als sie sich umdrehte, sah sie Ullan, Dakons Diener und ehemaligen Stallburschen, der ihr die Zügel ihres Pferdes hinhielt. Als sie die Zügel nahm, lächelte er ihr zu, dann rannte er davon.
Erst jetzt betrachtete sie den Sattel und begriff, dass die Tasche ihres Vaters nicht dort war. Sie lag noch im Zelt.
»Die Armee!«, schrie jemand, und der Ruf wurde von mehreren Stimmen aufgegriffen. Tessia versuchte, an den Meisterschülern vorbei zur Straße zu blicken, aber es bestand keine Hoffnung, inmitten der vielen Pferde, die ihr die Sicht versperrten, etwas zu erkennen. Sie drehte sich um, schwang sich in den Sattel und blickte dann zurück.
Vor ihnen bewegte sich ein dunkler Schatten über die Straße, und er kam sehr schnell näher.
Einen Moment lang legte sich eine unheimliche Stille über das Lager, in der sie die fernen Rufe von Wagenlenkern hören konnte, das Brüllen von Gorin irgendwo hinter dem Meer aus Zelten und das Donnern galoppierender Hufe. Die Zeltbahnen klatschten in der kräftigen Brise. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Sonne aufgegangen war und sie es nicht bemerkt hatte.
»Wo ist die Tasche deines Vaters?«, erklang eine vertraute Stimme.
Als Tessia sich umdrehte, sah sie Jayan neben sich, Mikken auf seiner anderen Seite.
»Noch im Zelt. Ich hatte keine Zeit, sie zu holen.«
Jayan musterte sie eindringlich, dann drehte er sich um und blickte der näher kommenden Armee entgegen. »Vielleicht ist doch noch Zeit.«
»Nein«, entgegnete sie energisch. »Es ist nichts darin, das ich nicht ersetzen kann.«
Er sah sie abermals an und öffnete den Mund, um zu sprechen, aber in diesem Moment kam ein anderer Meisterschüler näher.
»Was werden wir tun?«, fragte er. »Sollen wir vor ihnen hergaloppieren? Oder zur Seite weichen und sie vorbeilassen?«
»Sie werden langsamer«, sagte Mikken.
Er hatte recht. Die Pferde an der Spitze hatten vom Galopp in den Trab gewechselt und gingen schließlich im Schritt. Lord Sabin und der König ritten voraus. Sie ließ den Blick über die Gesichter wandern und seufzte vor Erleichterung, als sie Lord Dakon entdeckte. Er ritt auf einem anderen Pferd, wie ihr auffiel.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Wo war der Rest der Armee? Als ihr klar wurde, wo er geblieben sein musste, begann sie ihr Gedächtnis zu durchforsten nach den Namen jener, die gefallen sein mussten. Den Namen der Toten.
Als die Magier stehen blieben, sahen sie einander an, dann wandten sie ihre Köpfe und begannen zu zählen. Tessia las die gleiche erschrockene Erkenntnis in ihren Gesichtern. Einige blinzelten sogar gegen Tränen an.
Ein Drittel, durchzuckte es sie. Wir haben ein Drittel verloren. Und wo ist Lord Werrin?
Sie sah, wie der König sich zu Sabin vorbeugte und zurück auf die Straße deutete. Sabin nickte und richtete sich in den Steigbügeln auf.
»Meisterschüler, schließt euch euren Meistern an«, befahl er. »Wir reiten nach Imardin.«
Als er sein Pferd vorwärtsdrängte, hörte Tessia Jayan fluchen. Er ließ sich in den Sattel zurückfallen, nachdem er kurz zuvor aufgestanden war, um über die Köpfe der Magier hinwegzuschauen.
»Was ist?«, fragte sie.
»Sie kommen«, antwortete er. »Die Sachakaner kommen. Wir hätten Kaltbrücken räumen lassen sollen. Jetzt ist es zu spät dafür.«
Gleichzeitig griffen sie nach den Zügeln, schlugen ihren Pferden die Fersen in die Flanken, und ihre Reittiere stürmten los.
 
Die Sklavin hatte gesagt, Stara solle in einer Stunde gut gekleidet im Herrenzimmer erscheinen, um ihrem Mann zu helfen, ihren Gast, Chavori, zu unterhalten. Vora war erheitert gewesen, denn diese Stunde Zeit, die er seiner Frau jetzt zur Vorbereitung ließ, war die Spanne, die Stara auf ihre Veranlassung hin benötigt hatte, um sich für den Besuch bei Meister Motara zurechtzumachen. »Er lernt schnell«, bemerkte sie, während sie zwei kunstvoll bestickte Wickeltücher aufs Bett legte. »Das blaue oder das orangefarbene?«
»Das blaue«, antwortete Stara.
»Ich gebe Euch recht. Das orangefarbene ist besser geeignet für größere Zusammenkünfte, bei denen Ihr vielleicht Aufmerksamkeit auf Euch lenken wollt. Das blaue Tuch ist von einer ruhigeren Farbe und besser geeignet für einen Abend mit nur einem Besucher.«
Als Stara angekleidet und behängt war mit Schmuck, erklärte Vora, sie sei bereit. »Vergesst meinen Rat nicht, Herrin«, sagte die Sklavin und drohte Stara spielerisch mit einem Finger.
Stara kicherte. »Wie könnte ich? Er ist gut aussehend, aber er ist nicht so gut aussehend. Hast du etwas von Nachira gehört?«
»Nicht mehr seit ihrer letzten Nachricht.« Vora seufzte. »Die Sklaven erzählen, sie sei krank, aber es widerstrebt ihnen, mehr zu sagen.«
»Was nicht überraschend ist, wenn Vater vielleicht ihre Gedanken liest und sie dafür tötet, dass sie seine Pläne verraten haben. Ich kann noch immer nicht glauben, dass er und Ikaro nach Kyralia aufgebrochen sind, ohne es mir mitzuteilen.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich direkt nach meiner Hochzeit auf den Weg gemacht haben, aber Vater hat kein Wort gesagt.«
»Den Sklaven zufolge ist Nachiro ebenfalls am Tag nach Eurer Hochzeit erkrankt.«
Stara sah Vora an. »Gibt es irgendetwas, das wir tun können?«
»Die Hoffnung nicht aufgeben?«, meinte Vora seufzend, dann deutete sie auf die Tür. »Euer Ehemann und sein Gast warten.«
Obwohl Stara den Weg inzwischen kannte, führte die Sklavin sie durch die Flure zum Herrenzimmer. Als sie die Tür erreichten, traten sie ein, und Vora warf sich zu Boden. Kachiro und Chavori betrachteten soeben eins der Möbelstücke, die Motara entworfen hatte. Stara schüttelte einen Arm, sodass ihre Armbänder gegeneinanderklirrten. Die beiden Männer blickten auf.
»Ah«, sagte Kachiro. »Meine Frau ist endlich erschienen.«
Kachiro streckte lächelnd die Arme nach ihr aus und winkte sie heran. Sie ging auf ihn zu und ergriff seine Hände. Er küsste ihre Knöchel, dann ließ er eine Hand los und drehte sich um, sodass sie vor Chavori standen. Der junge Mann lächelte ein wenig nervös.
»Es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen, Stara«, sagte er.
»Und für mich ist es eine Freude, Euch einmal mehr zu begegnen«, erwiderte sie und senkte den Blick.
»Lasst uns Platz nehmen und reden«, erklärte Kachiro und geleitete Stara zu dem am weitesten entfernten der drei Stühle im Herrenzimmer. Davor stand ein kleiner Tisch, auf dem Schalen mit Nüssen im Licht von Kachiros magischer Kugel glänzten. Er trat zurück und bedeutete Chavori, in der Mitte Platz zu nehmen, dann setzte er sich auf die andere Seite des jungen Mannes. »Erzähl uns von deiner Reise in die Berge. Stara weiß nichts über deine Fähigkeiten und deine Abenteuer, Chavori, und ich bin mir sicher, sie würde gern etwas darüber hören.«
Der junge Mann sah Stara an, dann errötete er tatsächlich. »Ich... wir... ich schätze, ich sollte zuerst erklären, was ich tue. Ich zeichne Karten, aber statt zu kopieren, was andere gezeichnet haben, bereise ich die Orte, von denen ich eine Karte zeichnen will, und messe die Entfernungen und Positionen - so gut ich das eben kann mit den Methoden, die mich Seeleute gelehrt haben, und einigen weiteren, die ich selbst entwickelt habe.«
Stara bemerkte, dass er einige Male zu einem großen Metallzylinder hinüberblickte, der an einer Wand lehnte. Er sah sehr schwer aus.
»Habt Ihr irgendwelche Karten hier?«, fragte sie.
»Oh ja!« Er sprang auf und ging zu dem Zylinder hinüber. Nachdem er ihn hochgehoben hatte, trug er ihn zurück zu den Stühlen und setzte sich wieder. Aber er öffnete den Zylinder nicht, sondern liebkoste mit seinen langen Fingern das Metall. Er hat elegante Hände für einen Sachakaner, dachte Stara. So viele von ihnen haben Hände, die zu ihren Schultern passen, breit und stark. Tatsächlich ähnelt er von seinem Körperbau eher einem Kyralier, auch wenn sein Teint der eines Sachakaners ist. Ich frage mich...
»Bist du mit der Karte fertig, die du für den Kaiser gezeichnet hast?«, erkundigte Kachiro sich.
Chavori nickte. »Zumindest soweit es mir mit den Informationen, die mir zur Verfügung standen, möglich war.« Er drehte sich zu Stara um. »Die meisten Menschen finden Karten verwirrend, daher habe ich alles auf eine einzige, simplere Karte übertragen. Aber es gibt leere Flecken. Ich weigere mich, Einzelheiten in meine Karten einzufügen, von denen ich mich nicht selbst überzeugt habe.«
»Zeig sie uns«, drängte Kachiro seinen Gast.
Chavori strahlte ihn an, dann ergriff er das Ende der Röhre. Der Deckel sprang mit einem melodischen Ploppen ab. Der junge Mann griff hinein und zog eine dicke Rolle Papier heraus.
Nachdem er sie ein Stück weit aufgerollt hatte, löste sich ein Blatt daraus, das sich sofort wieder einrollte. Kachiro schob den Tisch beiseite, sodass Chavori die Karte auf dem Teppich ausbreiten konnte. Kachiro schaute sich kurz um, dann griff er nach den Schalen mit Nüssen und beschwerte damit die beiden gegenüberliegenden Ecken. Danach zog er einen Schuh aus und stellte ihn auf die Ecke an seiner Seite, woraufhin Chavori die Nase rümpfte. Stara streifte ein Armband ab und ließ es auf die andere Ecke fallen, was ihr ein anerkennendes Lächeln von dem jungen Mann eintrug.
Das Papier war bedeckt mit feinen Tintenlinien. Als Stara genauer hinschaute, stieß sie einen leisen Seufzer des Entzückens aus. Sie blickte auf winzige Zeichnungen von Bergen, Ansammlungen von Häusern und Booten und auf eine verschnörkelte Grenzlinie, die die Karte umrahmte.
»Sie ist wunderschön!«, sagte sie.
»Chavori ist ein echter Künstler«, pflichtete Kachiro ihr bei und sah seinen Freund voller Zuneigung an.
Chavori zuckte die Achseln. »Ja, die Menschen bevorzugen dergleichen Dinge, aber ich finde sie ziemlich töricht. Es ist schwierig, genau zu sein.«
Stara deutete auf eine große Gruppe von Gebäuden, die durch eine breite Allee getrennt waren, und den Kaiserpalast. »Das ist also Arvice.«
»Ja.«
Sie betrachtete die Linien der Berge. Am oberen Rand der Karte befand sich eine größere blaue Fläche, und bei einigen Bergen sah Stara, dass sich rote Linien von ihrem Gipfel an den Flanken herabzogen. »Was ist das?«
»Der Jenna-See«, antwortete Chavori. »Und die nördlichen Vulkane. Sie speien Feuer und Asche und das, was die Duna-Stämme Erdblut nennen.«
»Das Rote?«
»Ja. Es spritzt heraus und läuft an den Bergen hinunter, so heiß, dass man sich verbrennen würde, wenn man in die Nähe käme. Wenn es sich abkühlt, verfestigt es sich zu seltsamen Steinen.«
»Leben dort Menschen?«
»Nein. Es ist zu gefährlich. Aber die Stämme riskieren es ab und zu, dort Edelsteine zu ernten, denen sie magische Eigenschaften nachsagen. Ich habe solche Edelsteine in einigen der Höhlen weiter südlich gefunden und keine Magie in ihnen gespürt.«
»Ich will sie abbauen«, erklärte Kachiro ihr. »Wenn wir von den Duna-Stämmen das Geheimnis ihrer Verwendung erfahren, werden wir sie vielleicht zu hohen Preisen verkaufen können. Aber selbst wenn uns das nicht gelingt, können wir sie immer noch mit einem guten Gewinn an Juweliere verkaufen.«
»Du solltest feststellen, ob Motara ebenso gute Schmuckstücke entwirft wie Möbel«, schlug sie vor.
Seine Augen leuchteten interessiert auf. »Das ist eine Idee...«
Chavori zuckte die Achseln. »Solange wir nur genug dabei verdienen, dass ich meine Arbeit fortsetzen kann. Und nun lass mich Stara zeigen, wie eine richtige Karte aussieht.«
Er griff nach der Papierrolle, löste einen weiteren Bogen daraus und legte ihn über den ersten. Dieser war nicht so künstlerisch gezeichnet, und die Hälfte der Karte war leer. Statt durch kleine Bilder waren Berge jetzt durch ein Bündel von Linien dargestellt, die von dem Gipfel als Mittelpunkt ausgingen. Städte mit einzelnen Gebäuden waren nun zu Punkten geschrumpft.
»Diese Karte zeigt Euch nicht nur, wo jeder Berg steht, sondern auch, wo die Täler zwischen ihnen verlaufen«, erklärte Chavori ihr. Er zeichnete mit dem Finger die feien Bahnen zwischen den Bergen nach. »Ich kann nicht nur das Tal zeigen, sondern auch die Breite des Tales andeuten, indem ich breitere Freiräume lasse. Seht Ihr dies hier?« Er zeigte auf eine große weiße Lücke, durch die sich eine blaue Linie schlängelte. »Es ist wahrscheinlich das schönste Tal, das Ihr jemals zu Gesicht bekommen könntet. Keine Felder, nur wilde Enka, die dort grasen. Dieser Fluss strömt mitten hindurch. Berge zu allen Seiten.« Er deutete mit einer anmutigen Bewegung nach oben, dann breitete er die Arme aus. »Und der mächtigste blaue Himmel darüber.«
Seine Augen waren bei der Erinnerung trüb geworden, und ein Stich der Sehnsucht durchzuckte Stara. Würde sie jemals wieder das Land jenseits der Stadt durchstreifen? War die Reise von Elyne nach Sachaka ihre letzte gewesen?
Sie blickte hinab und suchte nach den Buchstaben des Wortes »Elyne«. Sie waren seitlich eingezeichnet, entlang einer roten Linie, die den Bergen am oberen linken Rand der Karte folgte. Die rote Linie musste die Grenze sein, überlegte sie. Und wenn eine blaue Linie einen Fluss anzeigte, stand dann diese dicke schwarze Linie, die sich durch die Berge von der elynischen Grenze nach Arvice zog, für die Straße? Wieder betrachtete sie die Berge, und plötzlich wirkte die Karte, als hätte sie eine gewiss Tiefe gewonnen.
»Ah«, sagte sie. »Jetzt erkenne ich die Illusion. Es ist so, als betrachteten wir das Land von oben. Der zentrale Punkt, an dem sich die Berglinien treffen, ist der Gipfel.«
»Ja!« Chavori wandte sich an Kachiro. »Du hattest recht: Deine Ehefrau ist außerordentlich klug.«
Kachiro lächelte breit. »Ja, nicht wahr?«, erwiderte er selbstgefällig.
Chavori sah zuerst Stara an, dann wieder Kachiro. »Was kann ich Euch sonst noch zeigen?«
Kachiro musterte die Karte nachdenklich. »Hast du auch Karten von Kyralia mitgebracht?«
Das triumphierende Lächeln auf Chavoris Gesicht erstarb, und an seine Stelle trat eine duldsame Grimasse. »Natürlich. Heutzutage will jeder Karten von Kyralia.«
»Wir stehen im Krieg mit ihnen«, bemerkte Kachiro.
»Ich weiß, ich weiß.« Chavori seufzte und griff abermals nach der Rolle. Nachdem er einige weitere Blätter wie das letzte herausgelöst hatte, breitete er schließlich eine weitere der schön verzierten Karten aus, mit Zeichnungen von Städten und Bergen.
Kachiro deutete auf den Pass, dann hielt er die Hand über die Berge, die Kyralia von Elyne trennten. »Nach allem, was ich gehört habe, haben sich die Ichani unter der Führung von Ashaki Takado etwa hier versammelt. Als ihre Zahl groß genug war, um eine Armee zu bilden, zogen sie in die ländlichen Gebiete im Norden und nahmen Dörfer und Städte ein.«
Chavori schüttelte den Kopf. »Die Berichte, die mir zu Ohren gekommen sind, besagen, dass sie sich nicht die Mühe machen, an irgendeinem Ort zu verweilen, um die Menschen zu beherrschen. Stattdessen haben sie die Städte zerstört und die Menschen vertrieben.«
»Ich bezweifle, dass sie sie vertreiben«, bemerkte Kachiro. »Wahrscheinlich töten sie sie und nehmen ihre Stärke. Wenn sie sie der kyralischen Armee entgegentrieben, würden sie ihren Feinden lediglich weitere Menschen zur Verfügung stellen, von denen sie Stärke aufnehmen können. Warum sollten sie ihnen zusätzliche Macht geben, wenn sie sie für sich selbst nutzen können?«
Chavori zuckte die Achseln. »Ja, du hast sicher recht.« Er deutete mit weit ausholender Geste von den Bergen zu der Ansammlung von Gebäuden, über denen der Name »Imardin« stand. »Sie werden auf dem Weg zur Hauptstadt sein. Aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen...« Er blickte zu Kachiro auf. »Ich habe dir erzählt, dass ich auf dem Rückweg nach Arvice an Nomakos Armee vorbeigekommen bin. Erinnerst du dich?«
Kachiro nickte. »Ja.«
»Damals ist mir aufgefallen, dass die Armee in drei Verbände aufgeteilt war. Nomako an der Spitze der ersten Gruppe, während zwei andere kleinere Gruppen angeführt haben.« Chavori schaute wieder auf die Karte hinab. »Vermutlich sollten diese drei Abteilungen getrennt marschieren, sobald sie die Grenze überquert hatten.«
»Warum sollten sie das tun?«, fragte Kachiro.
Chavori hob die Schultern. »Damit sie durch verschiedene Regionen Kyralias ziehen und dabei Stärke von den Menschen aufnehmen können. Die Kyralier werden ihre Streitkräfte nicht in drei Teile aufspalten wollen - oder in vier, schließlich ist da auch noch Takados Armee -, um es mit ihnen aufzunehmen.«
»Dann werden alle Gruppen gleichzeitig in Imardin eintreffen.«
»Jene, die nicht auf Widerstand gestoßen sind, werden immer noch stark sein und bereit für die Schlacht.«
»Hmm.« Kachiro betrachtete mit schmalen Augen die Karte. »Und bei welcher Gruppe ist es am wahrscheinlichsten, dass sie auf Widerstand stoßen wird?«
Chavoris Augen weiteten sich. »Bei Takados Armee! Er war als Erster dort, und wenn Nomako den richtigen Zeitpunkt wählt, wird Takado bereits das Ziel der Kyralier gewesen sein. Wenn er sich Nomakos Armeen anschließt, wird seine Gruppe die schwächste sein.«
»Nomako wird Imardin erobern und anstelle von Takado als Held nach Hause zurückkehren. Selbst wenn die Menschen das durchschauen, werden sie Kaiser Vochira dafür bewundern, dass er ihn überlistet hat.« Er sah Chavori beeindruckt an. »Du hast einen guten Kopf für Schlachtstrategien. Vielleicht solltest du die Armee anführen?«
Der junge Mann errötete abermals. Ein oder zwei Sekunden lang sahen sie einander an, dann senkten beide den Blick wieder auf die Karte.
Stara runzelte die Stirn. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie soeben etwas verpasst. Aber andererseits war sie keine Expertin, wenn es um Kriegsführung ging. Obwohl sie davon überzeugt war, alles verstanden zu haben, was Chavori gesagt hatte, konnte ihr irgendeine Nuance entgangen sein, die beiden Männern aufgefallen war.
»Darf ich eine Frage zum Krieg stellen?«, warf sie ein.
»Selbstverständlich«, antwortete Kachiro.
»Warum bist weder du noch einer deiner Freunde Teil der Armee?« Das Lächeln in Kachiros Zügen zerfiel. »Ich bin erleichtert, dass du dein Leben nicht aufs Spiel setzt«, versicherte sie ihm. »Mir ist es viel lieber, dass du hier bist. Aber ich vermute, dass es politische Gründe hat, und ich würde die sachakanische Politik gern besser verstehen.«
Kachiro nickte. »Einige der Gründe sind politischer Natur, andere sind es nicht. Mein Vater war vor vielen Jahren wegen eines Feuers in unserem Lager außerstande, eine Bestellung des Kaisers auszuliefern, und er hat Jahre darauf verwandt, die Schuld dafür zurückzuzahlen. Kurz nachdem er die letzte Zahlung geleistet hatte, ist er gestorben. Meine Familie war lange Zeit in Ungnade gefallen, obwohl die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen mit der Zeit einfacher wurde.«
Sein Gesichtsausdruck war so bekümmert, dass Stara bereute, die Frage gestellt zu haben.
»Einige andere meiner Freunde sind ebenfalls in Ungnade gefallen, obwohl Chavoris Familie großes Ansehen genießt«, fuhr er fort. Dann lächelte er. »Das Ganze hat auch einen Vorteil: Wenn unsere Familie weder Achtung noch Respekt genießt, brauchen wir uns der Armee auch nicht anzuschließen, um die Familienehre zu schützen. Ich vermute allerdings, dass man unsere Hilfe angenommen hätte, hätten wir sie angeboten.«
Chavori nickte. »Ich habe meinem Vater die Dinge sehr einfach auseinandergesetzt: Wenn er mir nicht den Respekt erweist, den ich verdiene, gibt es nichts, für dessen Schutz ich mein Leben riskiere. Er hat mich einen Feigling genannt.« Er zuckte die Achseln. »Ich nehme an, er hat gehofft, ich würde in den Krieg ziehen und getötet werden, dann wäre er meiner ledig gewesen.«
Ein Stich des Mitgefühls für diesen jungen Mann durchzuckte sie, der so talentiert war, aber offenkundig einen Vater hatte, der ihn ebenso wenig zu schätzen wusste, wie ihr Vater sie.
»Kann ich dir diese Karte abkaufen?«, fragte Kachiro.
Chavori klappte der Unterkiefer nach unten. »Du willst sie kaufen?«
»Ja. Oder brauchst du sie?«
»Nein«, sagte Chavori schnell. »Ich mache diese Karten, um sie zu verkaufen. Ich verkaufe sie ständig. Nun, nicht ständig - vielleicht einige pro Jahr.«
»Dann kann ich sie kaufen?« Kachiro blickte zu der gegenüberliegenden Wand des Raumes. »Ich denke, ich werde außerdem noch weitere kaufen. Vielleicht eine von jedem Land, sodass ich mir die Karten an die Wand hängen kann. Es wäre nützlich, um Gespräche mit Gästen in Schwung zu bringen, vor allem wenn Sachaka weitere Länder zurückerobert, die es früher einmal beherrscht hat. Wie viel willst du dafür haben?«
Ein kalter Schauder überlief Stara, und sie hörte nicht, welchen Preis Chavori verlangte oder wie viel Kachiro bezahlen wollte. Meint er Elyne? Nun, natürlich tut er das. Elyne war Teil des Reiches, genau wie Kyralia. Beide haben zur gleichen Zeit ihre Unabhängigkeit erhalten. Beim Gedanken an einen Krieg in Elyne krampfte sich ihr Herz zusammen.
Kachiro erhob sich. »Ich hole es gleich.« Er schritt zur Tür. Dort blieb er stehen, drehte sich noch einmal zu Stara um und lächelte ihr zu, bevor er verschwand.
Das Lächeln weckte in ihr sowohl Erheiterung wie Unbehagen. Es lag etwas Schelmisches darin. Etwas beinahe Herausforderndes. Hoffte er, dass sie Chavori an Ort und Stelle verführen würde?
So dumm bin ich gewiss nicht, dachte sie. Sie wandte sich dem jungen Mann zu.
»Wann werdet Ihr Eure Karten dem Kaiser bringen?«, erkundigte sie sich.
Er verzog das Gesicht. »Sobald er mir eine Audienz gewährt. Ich versuche schon seit Wochen, ihn zu treffen. Vermutlich fordert der Krieg seine gesamte Aufmerksamkeit. Aber der Krieg ist genau der Grund, warum er die Karten sehen muss.«
»Weshalb das?«
Seine Miene wurde ernst. »Weil es Orte in den Bergen gibt, an denen sich ein Feind mühelos verstecken und leben könnte. Höhlen und Täler, in denen er Ackerbau betreiben und viel zum Verzehr züchten könnte. Von dort aus könnte ein Feind Sachaka angreifen und wieder verschwinden. Wenn die Ichani diese Orte fänden...« Er schauderte. »Sobald der Krieg mit Kyralia vorüber ist, wird Kaiser Vochira zu viel damit zu tun haben, dieses Land ganz seiner Herrschaft zu unterwerfen. Seine Kräfte werden nicht ausreichen, um sich gleichzeitig um Angriffe aus den Bergen zu kümmern.«
Stara runzelte die Stirn. »Das ist ein erschreckender Gedanke. Aber wenn es diese Orte gibt, warum sind sie dann nicht bereits bewohnt? Warum haben die Ichani sich nicht bereits dort niedergelassen?«
»Man erreicht diese Orte durch eine Höhle, durch die ein Fluss fließt. Ich vermute, dass der Fluss kürzlich seinen Lauf verändert hat - ich habe Spuren eines trockenen Flussbettes gefunden, wo ein Erdrutsch vor einigen Jahren den Fluss blockiert hat. Das Wasser muss die Höhle geschaffen oder verbreitert haben...«
»Bitteschön.« Kachiro trat in den Raum, einen kleinen Beutel in Händen, in dem es leise klimperte. Chavori erhob sich und lächelte mit einer Mischung aus Verlegenheit und Dankbarkeit, als Kachiro ihm den Beutel in die Hand drückte. »Und nun möchte ich dir etwas zeigen.« Kachiro sah Stara an. »Ich fürchte, dich würde es nicht interessieren, meine Liebe«, sagte er entschuldigend.
Sie lächelte. »Dann werde ich in mein Zimmer zurückkehren, wenn du es so wünscht.«
Er nickte.
»Danke, dass Ihr solches Interesse an meinen Karten gezeigt habt«, meinte Chavori, der sie ein wenig jämmerlich ansah. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht gelangweilt.«
»Nein, ganz und gar nicht«, versicherte sie ihm. »Die Karten waren faszinierend. Ich freue mich schon darauf, weitere an unseren Wänden zu sehen und zu hören, wie sie hergestellt werden.«
Er strahlte sie an. Sie wandte sich lächelnd ab und verließ den Raum. Einen Moment später schlüpfte Vora aus einem Seitenflur und schloss sich ihr an. »Was haltet Ihr von unserem Gast, Herrin?«
»Er ist ein überraschend angenehmer Gesellschafter.« Stara kicherte. »Ein intelligenter Mann, auch wenn er im Umgang mit anderen ein wenig linkisch wirkt. Ich nehme an, er wird diesem Problem mit der Zeit entwachsen.«
Vora murmelte etwas Nichtssagendes. Als sie Staras Zimmer erreichten, schloss die Sklavin die Tür hinter ihnen.
»Also, Herrin, denkt Ihr, er ist die Art von Mann, die zugeben würde, Vater Eures Kindes zu sein, sollte man ihn bestechen oder erpressen?«
Stara lächelte kläglich. »So feinsinnig wie immer, Vora. Ja, die Art von Mann ist er«, antwortete sie. »Wenn man ihm mit einer Entehrung drohte oder ihn in Versuchung führte, seine Arbeit zu finanzieren, würde er es tun. Keine Bange. Ich werde mich nicht in ihn verlieben.«
»Das ist gut. Obwohl...« Die Sklavin runzelte die Stirn.
»Was?«
Vora blickte zu Stara auf und kniff nachdenklich die Augen zusammen.
»Der Grund, warum Ihr nicht kinderlos bleiben solltet, existiert vielleicht nicht mehr.«
Stara spürte, dass ihr Herz einen Moment lang aussetzte und dann zu rasen begann. »Nachira? Du hast Neuigkeiten? Ist sie... ist sie tot?«
Vora lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte Stara sich aufs Bett. »Was ist es dann?« Eine Möglichkeit kam ihr in den Sinn, und ein Prickeln der Aufregung durchlief sie. »Ist sie schwanger?«
»Soweit ich weiß, nicht.« Vora kicherte.
»Was ist es dann?« Stara musterte die Sklavin mit gerunzelter Stirn. »Hör auf, mit mir zu spielen! Dies ist sehr ernst!«
Vora hielt inne; ihr Blick wurde nachdenklich und zu Staras Bestürzung wachsam. Dann seufzte sie. »Nachira ist verschwunden. Sie ist entweder fortgegangen, oder jemand hat sie aus dem Haus Eures Vaters geholt.«
Stara starrte die alte Frau an. »Ich verstehe. Du wirkst darüber nicht so erschrocken, wie du es sein solltest.«
»Ihr irrt Euch«, versicherte Vora ihr.
»Nein. Ich irre mich nicht.« Stara erhob sich und trat vor die Sklavin hin. »Was verschweigst du mir?«
Ein Anflug von Furcht trat in Voras Augen. »Vertraut Ihr mir, Herrin?«
Stara zog die Brauen zusammen. Tue ich das? Sie nickte. »Ja, aber es gibt Grenzen, Vora.«
Die Sklavin nickte ebenfalls, dann senkte sie den Blick. »Es gibt einige Dinge, die ich durch... durch neue Verbindungen zu den Sklaven Eures Ehemannes erfahren habe... Dinge, die ich Euch nicht eröffnen kann, weil Menschen sterben werden, falls ich es tue und Euer Gemahl oder Euer Vater Eure Gedanken lesen. Menschen, die Gutes getan haben. Und Menschen, denen sie geholfen haben, wie Nachira.« Sie sah zu Stara auf. »Ich kann Euch nur so viel sagen: Nachira ist in Sicherheit.«
Stara sah der Frau forschend in die Augen, und Vora hielt ihrem Blick ohne einen Wimpernschlag stand. Vertraue ich ihr genug, um dies zu akzeptieren? fragte sie sich. Ich glaube, sie liebt Ikaro und ist ihm treu ergeben, und daher gilt das Gleiche für Nachira. Ich bin mir nicht so sicher, ob sie mich genauso sehr liebt, aber es wäre nachvollziehbar, wenn sie das nicht täte, da sie mich nicht genauso gut kennt. Und doch denke ich, sie würde versuchen, die Notwendigkeit zu vermeiden, zwischen uns zu wählen. Was bedeuten könnte, dass sie mir Informationen vorenthalten muss.
Ich könnte versuchen, ihre Gedanken zu lesen. Aber ich will ihr das nicht antun. Und ist es das Risiko wert, Nachira in Gefahr zu bringen, nur um herauszufinden, was ihr zugestoßen ist?
»Ich hoffe um deinetwillen, dass sie tatsächlich in Sicherheit ist«, erklärte Stara. »Und sobald du mir erzählen kannst, wo sie sich aufhält, erwarte ich von dir, dass du das tust.«
Voras Augen füllten sich mit Tränen. »Das werde ich tun. Ich verspreche es. Danke, Herrin.«
»Weiß Ikaro schon Bescheid?«
»Das wäre unmöglich. Sie ist erst gestern Nacht verschwunden. Kein Bote hätte ihm die Nachricht so schnell überbringen können, selbst wenn er wüsste, wo in Kyralia Ikaro sich aufhält.«
Stara ging zum Bett zurück und legte sich hin. »Armer Ikaro. Ich hoffe, es geht ihm gut.«
»Ich auch«, versicherte Vora ihr. »Ich auch.«
Magie
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