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Tessia wurde klar, dass sie nicht wieder
einschlafen würde, nur indem sie das Dach des Zeltes anstarrte.
Seufzend drehte sie sich auf die Seite und betrachtete die anderen
jungen Frauen, die schlafend auf ihren Pritschen lagen. Jetzt, da
weitere weibliche Meisterschüler bei der Armee waren, hatte
irgendjemand beschlossen, dass sie alle sich ein Zelt teilen
sollten. Sie waren zu sechst, Tessia eingeschlossen, und die
Jüngste von ihnen war vierzehn, die Älteste fünfundzwanzig.
Sind das wirklich alle weiblichen Meisterschüler
in Kyralia? Es musste mehr als siebzig männliche Meisterschüler
geben, obwohl sie sich nicht sicher war, ob einige Magier diese
Zahl verfälscht hatten, indem sie neue Meisterschüler aufgenommen
hatten, um sich in Vorbereitung auf den Krieg zu stärken. Wie
viele Frauen haben magisches Talent, das sie jedoch niemals
entwickeln? Wie viele erfahren niemals, dass sie es
besitzen?
Sie fragte sich, warum gerade diese Mädchen
Meisterschülerinnen geworden waren. Einige von ihnen hatten in der
Nacht zuvor ihre Geschichte erzählt. Mehrere hatten Mütter, die
Magier waren, obwohl sie nicht alle von ihren Müttern ausgebildet
wurden. Eine bezeichnete sich selbst als einen »Sohnersatz«, da sie
nur Schwestern hatte. Die Übrigen schienen die Magie als eine Art
Hobby zu betrachten.
Alle waren ein wenig verängstigt, dass sie in einen
Krieg hineingeraten waren, vermutete Tessia. Selbst jene, die sich
schnippisch oder begeistert geäußert hatten, einen Kampf beobachten
zu können.
Und doch hat sich niemand darüber beklagt, dass
hier Meisterschüler herumsitzen und warten, während unsere Meister
in den Kampf ziehen.
Heiße Furcht stieg in Tessia auf. Beim letzten Mal
war keiner der Magier gestorben, aber das bedeutete nicht, dass es
diesmal genauso werden würde. Fehler waren immer möglich. Die
Sachakaner würden es den Kyraliern diesmal vielleicht nicht
gestatten, den Rückzug anzutreten, falls es so weit kam.
Aber zumindest brauchte sie sich keine Sorgen um
Jayan zu machen. Einmal mehr hatte man ihm, obwohl er jetzt ein
höherer Magier war, die Verantwortung für die Meisterschüler
übertragen. Er war die logische Besetzung für diese Rolle, da er
die Meisterschüler schon früher angeführt hatte und sie alle ihn
als Helden betrachteten, seit er drei Sachakaner »ganz allein« in
dem Lagerhaus »besiegt« hatte. Sie musste zugeben,
dass seine Lösung sehr klug gewesen war, und sie bewunderte seine
Geistesgegenwart.
Und jetzt sind die Mädchen noch mehr geneigt,
ihm verzückt nachzugaffen. Sie dachte an das Gespräch zurück,
das sie in der vergangenen Nacht mit den Meisterschülerinnen
geführt hatte. Jetzt haben sie auch noch mit Mikken angefangen
und erzählen sich seufzend von seiner tragischen, aber mutigen
Flucht von dem Pass, dass er sich ganz allein durchgeschlagen und
sich der Armee wieder angeschlossen habe, obwohl er nach Imardin
hätte zurückkehren können. Sie konnte sich ein Lächeln nicht
verkneifen. Trotzdem, man konnte wirklich nicht anders, als ihn
dafür zu bewundern.
Tessia seufzte. Sie würde nicht wieder einschlafen.
Ich kann genauso gut aufstehen und schauen, ob ich mich nützlich
machen kann.
So leise sie es vermochte, erhob sie sich und legte
sich ihre Decke um die Schultern. Dann griff sie nach ihren
Stiefeln, trug sie aus dem Zelt und setzte sich auf eine Kiste, um
sie anzuziehen. Es herrschte nicht mehr die tiefe Dunkelheit der
Nacht und noch nicht das Zwielicht der beginnenden Dämmerung, aber
sie konnte in der Ferne Gestalten sehen, die die Grenzen des Lagers
abschritten, und andere Zelte. In den Feuern erstarb langsam die
Glut. Lampen flackerten, durstig nach Öl.
Schließlich stand sie auf und begann
umherzuschlendern, ohne ein Ziel im Sinn zu haben. Nur eine Runde
durch das Lager, beschloss sie. Die männlichen Meisterschüler
schliefen entweder im Zelt ihres Meisters oder hatten ihre eigenen
Quartiere. Sie kam an einer kleinen Gruppe von ihnen vorbei, die
irgendeine Art von Spiel spielten. Als sie sie sahen, winkten sie
sie heran, aber abgesehen von einem Lächeln ignorierte sie sie und
ging weiter.
Eine wohl zehn Schritt breite Bahn nackten Bodens
zog sich in einem Bogen durchs Lager, und erst als sie sie
überquert hatte und an einigen weiteren Zelten vorbeigekommen war,
begriff sie, dass sie die Magier und Meisterschüler vom Lager der
Diener trennte. Die Zelte hier waren gewiss schlichter und außerdem
rechteckig. Sie sah Tische, auf denen Töpfe, Pfannen
und Kessel standen, außerdem Körbe und Kisten mit Säcken,
Früchten, Gemüse und anderen Nahrungsmitteln. Einige Menschen
schliefen Schulter an Schulter und hatten nur Decken oder Matten
aus getrocknetem Gras zwischen sich und dem Boden. Sie bemerkte den
Geruch von Tieren, die in Pferchen oder Käfigen gehalten
wurden.
Dann erregte eine vertraute Mischung von Gerüchen
ihre Aufmerksamkeit. Sie hielt inne, als sie den Zwillingsduft von
Krankheit und Heilmitteln erkannte, und beschleunigte ihren
Schritt. Vor ihr tauchte ein großes, rechteckiges Zelt auf. Sie
ging am Eingang vorbei und nahm die primitiven Betten aus
Grasmatten und Decken wahr, die kranken Männer und Frauen, die
Schüsseln für Exkremente oder Waschwasser und den Tisch mit
Heilmitteln, von denen einige angemischt waren, andere nicht und
wieder andere erst halb fertig.
In der Dunkelheit im hinteren Teil des Zeltes
beugte sich jemand über einen Patienten. Tessia konnte das
schnarrende Geräusch von Atem hören. Sie trat in das Zelt und ging
auf den Kranken zu.
»Ich habe in meinem Zelt etwas Frischrindensalbe«,
sagte sie. »Soll ich sie holen?«
Die Gestalt richtete sich auf und wandte sich dann
zu Tessia um. Statt das überraschte Gesicht eines Mannes vor sich
zu sehen, wurde ihr ein strahlendes, vertrautes Lächeln
zuteil.
»Tessia!«, rief Kendaria aus. »Ich habe gehört,
dass Ihr hier seid. Ich wollte Euch heute Nacht suchen gehen, aber
die Heiler haben mir den Nachtdienst zugeteilt.«
»Allein?« Tessia betrachtete die anderen Patienten.
»Ohne auch nur einen Gehilfen?«
Kendaria zog die Brauen zusammen. »Das ist meine
Strafe dafür, dass ich es wage, eine Frau zu sein. Außerdem gelingt
es den meisten Patienten zu schlafen, bis auf diesen Burschen
hier.« Sie griff nach Tessias Arm und führte sie aus dem Zelt. »Und
er wird nicht mehr sehr lange leben, ganz gleich, wer über ihn
wacht«, fügte sie leise hinzu. »Der arme Mann.«
»Ich kann meine Tasche holen«, erbot Tessia sich.
»Vielleicht könnte ich seinen Schmerz lindern.«
Kendaria schüttelte den Kopf. »Was ich ihm gegeben
habe, wird vollkommen genügen. Also, wie geht es Euch? Ich habe so
viele Geschichten über die Jagd auf Sachakaner gehört, über
Schlachten und dergleichen mehr, und Ihr seid von Anfang an dabei
gewesen. Wie seid Ihr damit fertig geworden?«
Tessia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob ich
überhaupt damit fertig geworden bin. Wo immer Lord Dakon
hingegangen ist, bin ich ebenfalls hingegangen. Und er ist dorthin
gegangen, wo immer Lord Werrin hingegangen ist und später Magier
Sabin und jetzt der König. Und sie sind hingegangen, wo immer die
Sachakaner sie hinzugehen gezwungen haben.« Sie drehte sich noch
einmal zu dem Zelt um. »Ihr habt es offensichtlich geschafft, die
Gilde dazu zu überreden, Euch ein wenig Heilkunst ausüben zu
lassen.«
»Nur die langweiligen oder unangenehmen Arbeiten,
die sie nicht verrichten wollen.« Kendarias Miene verdüsterte sich.
»Meistens behandeln sie mich wie eine Dienerin und schicken mich
aus, um ihnen zu essen oder zu trinken zu holen. Einer dachte
sogar, er könne sich die Freiheit nehmen, in mein Bett zu
schlüpfen, aber seine Absichten waren so durchschaubar, dass ich
etwas Papeagewürz unter mein Kissen gelegt und es ihm in die Augen
geblasen habe. Sie haben noch tagelang getränt.«
»Das ist ja schrecklich!«, stieß Tessia hervor.
»Habt Ihr Euch über sein Benehmen beschwert?«
»Natürlich, aber der Gildenmeister hat mir erklärt,
dass die meisten Menschen denken, die einzigen Frauen, die sich in
der Nähe von Armeen aufhalten, seien dabei, um den Männern zu
dienen, und dass es mich daher nicht überraschen dürfe, wenn Männer
gewisse Schlüsse über mich zögen.«
Tessia starrte sie mit offenem Mund an. »Er hat
was gesagt? Zieht er die gleiche Art von Schlüssen, was mich
betrifft? Oder die anderen weiblichen Meisterschüler und Magier?«
Sie schüttelte den Kopf. »Oder die Dienerinnen? Arbeiten sie so
hart, um uns zu unterstützen, nur um behandelt zu werden wie...
wie...?«
Kendaria verzog das Gesicht und nickte. »Es waren
nicht
wenige Frauen, die zu mir gekommen sind, um mich nach einem Mittel
zur Empfängnisverhütung zu fragen. Was glaubt Ihr, wer mir das
Papeagewürz besorgt hat? Das ist keine Zutat für ein
Heilmittel.«
Tessia konnte vor Entsetzen nicht sprechen. Sie zog
es in Erwägung, Lord Dakon davon zu berichten. Er würde es an
Magier Sabin weitergeben, davon war sie überzeugt. Aber würde
irgendjemand irgendetwas deswegen unternehmen? Selbst wenn sie es
untersagten, würden die Männer, die die Dienerinnen ausnutzten,
nichts darum geben.
»Ist es wahr, was sie über Euch erzählen?«, fragte
Kendaria ein wenig zögerlich.
Tessia schüttelte ihre Gedanken ab und sah die
Heilerin ab. »Was sagen sie denn über mich?«
»Dass Ihr mit Magie heilen könnt. Dass Ihr einen
gebrochenen Rücken wieder in Ordnung gebracht habt.«
»Oh.« Tessia lächelte. »Es ist wahr, und es ist
auch wieder nicht wahr. Ich habe versucht, Magie zu benutzen, um zu
heilen, aber noch habe ich keine Möglichkeit dazu gefunden. Ich
konnte nicht mehr tun, als gebrochene Knochen wieder an die
richtige Stelle zu bringen, eine Wunde geschlossen zu halten,
während sie vernäht wurde, oder eine Blutung zu stillen. Und ich
habe vor kurzem herausgefunden, wie ich die Schmerzpfade
zusammendrücken muss, um einen bestimmten Teil des Körpers zu
betäuben. Aber das ist alles.«
»Also, wie habt Ihr den gebrochenen Rücken
geheilt?«
»Er war nicht gebrochen. Die Knochen waren nur
verschoben.«
»Aber... woher habt Ihr gewusst, dass sie nicht
gebrochen waren?«
Tessia hielt inne. Natürlich, gewöhnliche Heiler
konnten nicht in die Körper ihrer Patienten hineinschauen. Mir
war gar nicht bewusst, was für ein großer Vorteil das ist. Ich habe
eine geringere Meinung von den Heilern gehabt, weil sie falsche
Diagnosen stellen, obwohl sie in Wirklichkeit gar keine Schuld
daran trifft.
»Ich bin in der Lage, in Menschen hineinzuschauen«,
erklärte sie.
Kendaria lächelte. »Ihr mögt vielleicht nicht in
der Lage sein, mit Magie tatsächlich zu heilen, aber was Ihr tun
könnt, ist wunderbar.« Dann verblasste ihr Lächeln ein wenig. »Was
der Grund ist, warum die Heiler nicht glücklich über das sind, was
Ihr tut. Seid nicht überrascht, wenn sie versuchen, Euch
aufzuhalten. Sie machen sich Sorgen, dass sie ihre reicheren Kunden
verlieren werden, wenn Magier heilen können.«
»Wie könnten sie mich aufhalten?«
»Indem sie den König davon überzeugen, dass Ihr,
weil Ihr nicht von der Gilde ausgebildet wurdet, aus Unwissenheit
mehr Schaden als Nutzen stiften könntet. Oder dass Magier den
Heilern alle Arbeit wegnehmen werden, was dazu führen wird, dass
sie es sich nicht mehr leisten können, gute Werke zu tun und
Menschen zu heilen, die es sich nicht leisten können, Magier zu
bezahlen. Nicht dass sie das besonders häufig täten.«
Tessia lachte leise. »Mit anderen Worten, sie haben
Angst, dass sie am Ende nichts Besseres mehr sein werden als ein
niederer Dorfheiler.«
»Ja.« Kendaria sah sie ernst an. »Unterschätzt sie
nicht. Sie sind die mächtigste Gilde in der Stadt. Sie würden nicht
kampflos aufgeben, was sie haben.«
»Ich werde vorsichtig sein«, versicherte Tessia
ihr. »Ich werde keinen Aufruhr in der Gilde stiften und dann
verschwinden, wie mein Großvater es getan hat. Er sagte immer, sein
Fehler sei es gewesen zu versuchen, sie allzu schnell zu verändern.
Er hätte mehr Erfolg gehabt, wenn er seine Veränderungen so langsam
vollzogen hätte, dass sie sie gar nicht bemerkt hätten. Aber er war
jung und ungeduldig, und Menschen starben … Was ist das für ein
Geschrei?«
Die Rufe im Hintergrund wurden stetig lauter und
zahlreicher. Kendaria lauschte stirnrunzelnd.
»Lauft! Steigt in die Wagen!«
»Sie kommen!«
»Lasst alles liegen! Lauft einfach!«
Plötzlich waren überall Menschen, die schreiend
zwischen den Zelten umherhuschten. Diener kamen zum Vorschein. Aus
dem Zelt der Heiler drangen fragende Rufe. Ein Mann
eilte auf Kendaria zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Sie kreischte vor Schreck auf.
»Die Armee ist auf dem Weg hierher, und die
Sachakaner sind dicht dahinter. Wir müssen alle in die Wagen
schaffen und aufbrechen. Es wird nichts eingepackt. Bringt nur die
Menschen weg.« Er sah Tessia an und blinzelte. »Meisterschülerin
Tessia? Meister Jayan sucht nach Euch.« Er deutete auf die Mitte
des Lagers.
»Danke«, sagte Tessia. Sie blickte noch einmal zu
Kendaria hinüber. »Viel Glück.«
»Euch auch.«
Tessia wandte sich ab und lief zwischen den Zelten
hindurch. Sie musste mehrmals zur Seite springen, als Männer und
Frauen zum Rand des Lagers rannten, wo Pferde und Gorin so schnell
wie möglich vor die Karren gespannt werden mussten. Sobald sie den
Bereich der Magier erreicht hatte, folgte sie den anderen
Meisterschülern, die alle in die gleiche Richtung liefen.
Als sie auf die Straße kam, auf den Platz vor dem
Zelt des Königs, sah sie Jayan auf einer großen Kiste stehen. Er
rief Befehle und wiederholte dieselben Informationen wieder und
wieder, um die hektischen Fragen der Meisterschüler zu
beantworten.
»Unsere Armee zieht sich zurück. Die Sachakaner
verfolgen sie. Sie werden bald hier sein. Wir müssen bereit sein.
Die Diener bringen die Pferde herbei.« Er hielt inne und sah einen
der Meisterschüler stirnrunzelnd an. »Hör auf, Zeit mit törichten
Fragen zu verschwenden, und schau, ob dein Pferd hier ist!«, fuhr
er den Jungen an. Dann drehte er sich um und streckte die Hand aus.
»Du da! Arlenin. Ich sehe jemanden dein Pferd herbringen. Ja,
dieses hässliche Tier würde ich noch erkennen, wenn es sich auf der
anderen Seite des Lagers befände. Geh es holen.«
Tessia legte eine Hand auf den Mund, um nicht laut
loszulachen, dann stieg eine Woge der Zuneigung zu ihm in ihr auf.
Er hatte nichts übrig für Narren. Obwohl dies in Friedenszeiten
nicht immer eine gute Eigenschaft darstellte, war
seine Ungeduld jetzt jedoch genau das, was die Meisterschüler
brauchten, um ihre Panik zu vergessen und alles Notwendige zu
regeln.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber binnen
weniger Minuten saßen fast alle auf ihren Pferden und warteten. Als
die Menge rund um Jayan sich allmählich zerstreute, konnte sie
näher an ihn herantreten. Ein Diener kam, um Jayan mitzuteilen,
dass die Karren beladen waren und bereitstanden. Jayan hielt einen
Moment lang inne.
»Dann geh. Ihr werdet langsamer reisen als wir.
Gibt es eine andere Straße, abgesehen von der Hauptstraße, die euch
nicht direkt zu den Sachakanern führt?«
»Ja. Die Straße ist bereits ausgewählt worden, für
den Fall, dass es notwendig werden würde.«
»Gut. Dann geh.«
Der Mann machte eine knappe Verbeugung, dann eilte
er davon. Aus irgendeinem Grund überlief Tessia bei diesem Bild ein
Schauder. Es ist schwer genug, sich daran zu gewöhnen, dass
Jayan sich wie ein höherer Magier benimmt und wie ein solcher
behandelt wird, aber ihn in der Rolle eines Anführers zu
beobachten, ist in der Tat ausgesprochen seltsam!
»Jayan«, rief sie. Er drehte den Kopf in ihre
Richtung, doch dann lenkte ein weiterer Ruf seine Aufmerksamkeit
ab. Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Als sie sich umdrehte, sah
sie Ullan, Dakons Diener und ehemaligen Stallburschen, der ihr die
Zügel ihres Pferdes hinhielt. Als sie die Zügel nahm, lächelte er
ihr zu, dann rannte er davon.
Erst jetzt betrachtete sie den Sattel und begriff,
dass die Tasche ihres Vaters nicht dort war. Sie lag noch im
Zelt.
»Die Armee!«, schrie jemand, und der Ruf wurde von
mehreren Stimmen aufgegriffen. Tessia versuchte, an den
Meisterschülern vorbei zur Straße zu blicken, aber es bestand keine
Hoffnung, inmitten der vielen Pferde, die ihr die Sicht
versperrten, etwas zu erkennen. Sie drehte sich um, schwang sich in
den Sattel und blickte dann zurück.
Vor ihnen bewegte sich ein dunkler Schatten über
die Straße, und er kam sehr schnell näher.
Einen Moment lang legte sich eine unheimliche
Stille über das Lager, in der sie die fernen Rufe von Wagenlenkern
hören konnte, das Brüllen von Gorin irgendwo hinter dem Meer aus
Zelten und das Donnern galoppierender Hufe. Die Zeltbahnen
klatschten in der kräftigen Brise. Plötzlich wurde ihr bewusst,
dass die Sonne aufgegangen war und sie es nicht bemerkt
hatte.
»Wo ist die Tasche deines Vaters?«, erklang eine
vertraute Stimme.
Als Tessia sich umdrehte, sah sie Jayan neben sich,
Mikken auf seiner anderen Seite.
»Noch im Zelt. Ich hatte keine Zeit, sie zu
holen.«
Jayan musterte sie eindringlich, dann drehte er
sich um und blickte der näher kommenden Armee entgegen. »Vielleicht
ist doch noch Zeit.«
»Nein«, entgegnete sie energisch. »Es ist nichts
darin, das ich nicht ersetzen kann.«
Er sah sie abermals an und öffnete den Mund, um zu
sprechen, aber in diesem Moment kam ein anderer Meisterschüler
näher.
»Was werden wir tun?«, fragte er. »Sollen wir vor
ihnen hergaloppieren? Oder zur Seite weichen und sie
vorbeilassen?«
»Sie werden langsamer«, sagte Mikken.
Er hatte recht. Die Pferde an der Spitze hatten vom
Galopp in den Trab gewechselt und gingen schließlich im Schritt.
Lord Sabin und der König ritten voraus. Sie ließ den Blick über die
Gesichter wandern und seufzte vor Erleichterung, als sie Lord Dakon
entdeckte. Er ritt auf einem anderen Pferd, wie ihr auffiel.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Wo war der Rest der
Armee? Als ihr klar wurde, wo er geblieben sein musste, begann sie
ihr Gedächtnis zu durchforsten nach den Namen jener, die gefallen
sein mussten. Den Namen der Toten.
Als die Magier stehen blieben, sahen sie einander
an, dann wandten sie ihre Köpfe und begannen zu zählen. Tessia las
die gleiche erschrockene Erkenntnis in ihren Gesichtern. Einige
blinzelten sogar gegen Tränen an.
Ein Drittel, durchzuckte es sie. Wir
haben ein Drittel verloren. Und wo ist Lord Werrin?
Sie sah, wie der König sich zu Sabin vorbeugte und
zurück auf die Straße deutete. Sabin nickte und richtete sich in
den Steigbügeln auf.
»Meisterschüler, schließt euch euren Meistern an«,
befahl er. »Wir reiten nach Imardin.«
Als er sein Pferd vorwärtsdrängte, hörte Tessia
Jayan fluchen. Er ließ sich in den Sattel zurückfallen, nachdem er
kurz zuvor aufgestanden war, um über die Köpfe der Magier
hinwegzuschauen.
»Was ist?«, fragte sie.
»Sie kommen«, antwortete er. »Die Sachakaner
kommen. Wir hätten Kaltbrücken räumen lassen sollen. Jetzt ist es
zu spät dafür.«
Gleichzeitig griffen sie nach den Zügeln, schlugen
ihren Pferden die Fersen in die Flanken, und ihre Reittiere
stürmten los.
Die Sklavin hatte gesagt, Stara solle in einer
Stunde gut gekleidet im Herrenzimmer erscheinen, um ihrem Mann zu
helfen, ihren Gast, Chavori, zu unterhalten. Vora war erheitert
gewesen, denn diese Stunde Zeit, die er seiner Frau jetzt zur
Vorbereitung ließ, war die Spanne, die Stara auf ihre Veranlassung
hin benötigt hatte, um sich für den Besuch bei Meister Motara
zurechtzumachen. »Er lernt schnell«, bemerkte sie, während sie zwei
kunstvoll bestickte Wickeltücher aufs Bett legte. »Das blaue oder
das orangefarbene?«
»Das blaue«, antwortete Stara.
»Ich gebe Euch recht. Das orangefarbene ist besser
geeignet für größere Zusammenkünfte, bei denen Ihr vielleicht
Aufmerksamkeit auf Euch lenken wollt. Das blaue Tuch ist von einer
ruhigeren Farbe und besser geeignet für einen Abend mit nur einem
Besucher.«
Als Stara angekleidet und behängt war mit Schmuck,
erklärte Vora, sie sei bereit. »Vergesst meinen Rat nicht, Herrin«,
sagte die Sklavin und drohte Stara spielerisch mit einem
Finger.
Stara kicherte. »Wie könnte ich? Er ist gut
aussehend, aber er ist nicht so gut aussehend. Hast du etwas
von Nachira gehört?«
»Nicht mehr seit ihrer letzten Nachricht.« Vora
seufzte. »Die Sklaven erzählen, sie sei krank, aber es widerstrebt
ihnen, mehr zu sagen.«
»Was nicht überraschend ist, wenn Vater vielleicht
ihre Gedanken liest und sie dafür tötet, dass sie seine Pläne
verraten haben. Ich kann noch immer nicht glauben, dass er und
Ikaro nach Kyralia aufgebrochen sind, ohne es mir mitzuteilen.« Sie
schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich direkt nach meiner Hochzeit
auf den Weg gemacht haben, aber Vater hat kein Wort gesagt.«
»Den Sklaven zufolge ist Nachiro ebenfalls am Tag
nach Eurer Hochzeit erkrankt.«
Stara sah Vora an. »Gibt es irgendetwas, das wir
tun können?«
»Die Hoffnung nicht aufgeben?«, meinte Vora
seufzend, dann deutete sie auf die Tür. »Euer Ehemann und sein Gast
warten.«
Obwohl Stara den Weg inzwischen kannte, führte die
Sklavin sie durch die Flure zum Herrenzimmer. Als sie die Tür
erreichten, traten sie ein, und Vora warf sich zu Boden. Kachiro
und Chavori betrachteten soeben eins der Möbelstücke, die Motara
entworfen hatte. Stara schüttelte einen Arm, sodass ihre Armbänder
gegeneinanderklirrten. Die beiden Männer blickten auf.
»Ah«, sagte Kachiro. »Meine Frau ist endlich
erschienen.«
Kachiro streckte lächelnd die Arme nach ihr aus und
winkte sie heran. Sie ging auf ihn zu und ergriff seine Hände. Er
küsste ihre Knöchel, dann ließ er eine Hand los und drehte sich um,
sodass sie vor Chavori standen. Der junge Mann lächelte ein wenig
nervös.
»Es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen,
Stara«, sagte er.
»Und für mich ist es eine Freude, Euch einmal mehr
zu begegnen«, erwiderte sie und senkte den Blick.
»Lasst uns Platz nehmen und reden«, erklärte
Kachiro und geleitete Stara zu dem am weitesten entfernten der drei
Stühle im Herrenzimmer. Davor stand ein kleiner Tisch, auf dem
Schalen mit Nüssen im Licht von Kachiros magischer Kugel glänzten.
Er trat zurück und bedeutete Chavori, in der Mitte Platz zu nehmen,
dann setzte er sich auf die andere Seite des jungen Mannes. »Erzähl
uns von deiner Reise in die Berge. Stara weiß nichts über deine
Fähigkeiten und deine Abenteuer, Chavori, und ich bin mir sicher,
sie würde gern etwas darüber hören.«
Der junge Mann sah Stara an, dann errötete er
tatsächlich. »Ich... wir... ich schätze, ich sollte zuerst
erklären, was ich tue. Ich zeichne Karten, aber statt zu kopieren,
was andere gezeichnet haben, bereise ich die Orte, von denen ich
eine Karte zeichnen will, und messe die Entfernungen und Positionen
- so gut ich das eben kann mit den Methoden, die mich Seeleute
gelehrt haben, und einigen weiteren, die ich selbst entwickelt
habe.«
Stara bemerkte, dass er einige Male zu einem großen
Metallzylinder hinüberblickte, der an einer Wand lehnte. Er sah
sehr schwer aus.
»Habt Ihr irgendwelche Karten hier?«, fragte
sie.
»Oh ja!« Er sprang auf und ging zu dem Zylinder
hinüber. Nachdem er ihn hochgehoben hatte, trug er ihn zurück zu
den Stühlen und setzte sich wieder. Aber er öffnete den Zylinder
nicht, sondern liebkoste mit seinen langen Fingern das Metall.
Er hat elegante Hände für einen Sachakaner, dachte Stara.
So viele von ihnen haben Hände, die zu ihren Schultern passen,
breit und stark. Tatsächlich ähnelt er von seinem Körperbau eher
einem Kyralier, auch wenn sein Teint der eines Sachakaners ist. Ich
frage mich...
»Bist du mit der Karte fertig, die du für den
Kaiser gezeichnet hast?«, erkundigte Kachiro sich.
Chavori nickte. »Zumindest soweit es mir mit den
Informationen, die mir zur Verfügung standen, möglich war.« Er
drehte sich zu Stara um. »Die meisten Menschen finden Karten
verwirrend, daher habe ich alles auf eine einzige, simplere
Karte übertragen. Aber es gibt leere Flecken. Ich weigere mich,
Einzelheiten in meine Karten einzufügen, von denen ich mich nicht
selbst überzeugt habe.«
»Zeig sie uns«, drängte Kachiro seinen Gast.
Chavori strahlte ihn an, dann ergriff er das Ende
der Röhre. Der Deckel sprang mit einem melodischen Ploppen ab. Der
junge Mann griff hinein und zog eine dicke Rolle Papier
heraus.
Nachdem er sie ein Stück weit aufgerollt hatte,
löste sich ein Blatt daraus, das sich sofort wieder einrollte.
Kachiro schob den Tisch beiseite, sodass Chavori die Karte auf dem
Teppich ausbreiten konnte. Kachiro schaute sich kurz um, dann griff
er nach den Schalen mit Nüssen und beschwerte damit die beiden
gegenüberliegenden Ecken. Danach zog er einen Schuh aus und stellte
ihn auf die Ecke an seiner Seite, woraufhin Chavori die Nase
rümpfte. Stara streifte ein Armband ab und ließ es auf die andere
Ecke fallen, was ihr ein anerkennendes Lächeln von dem jungen Mann
eintrug.
Das Papier war bedeckt mit feinen Tintenlinien. Als
Stara genauer hinschaute, stieß sie einen leisen Seufzer des
Entzückens aus. Sie blickte auf winzige Zeichnungen von Bergen,
Ansammlungen von Häusern und Booten und auf eine verschnörkelte
Grenzlinie, die die Karte umrahmte.
»Sie ist wunderschön!«, sagte sie.
»Chavori ist ein echter Künstler«, pflichtete
Kachiro ihr bei und sah seinen Freund voller Zuneigung an.
Chavori zuckte die Achseln. »Ja, die Menschen
bevorzugen dergleichen Dinge, aber ich finde sie ziemlich töricht.
Es ist schwierig, genau zu sein.«
Stara deutete auf eine große Gruppe von Gebäuden,
die durch eine breite Allee getrennt waren, und den Kaiserpalast.
»Das ist also Arvice.«
»Ja.«
Sie betrachtete die Linien der Berge. Am oberen
Rand der Karte befand sich eine größere blaue Fläche, und bei
einigen Bergen sah Stara, dass sich rote Linien von ihrem Gipfel an
den Flanken herabzogen. »Was ist das?«
»Der Jenna-See«, antwortete Chavori. »Und die
nördlichen Vulkane. Sie speien Feuer und Asche und das, was die
Duna-Stämme Erdblut nennen.«
»Das Rote?«
»Ja. Es spritzt heraus und läuft an den Bergen
hinunter, so heiß, dass man sich verbrennen würde, wenn man in die
Nähe käme. Wenn es sich abkühlt, verfestigt es sich zu seltsamen
Steinen.«
»Leben dort Menschen?«
»Nein. Es ist zu gefährlich. Aber die Stämme
riskieren es ab und zu, dort Edelsteine zu ernten, denen sie
magische Eigenschaften nachsagen. Ich habe solche Edelsteine in
einigen der Höhlen weiter südlich gefunden und keine Magie in ihnen
gespürt.«
»Ich will sie abbauen«, erklärte Kachiro ihr. »Wenn
wir von den Duna-Stämmen das Geheimnis ihrer Verwendung erfahren,
werden wir sie vielleicht zu hohen Preisen verkaufen können. Aber
selbst wenn uns das nicht gelingt, können wir sie immer noch mit
einem guten Gewinn an Juweliere verkaufen.«
»Du solltest feststellen, ob Motara ebenso gute
Schmuckstücke entwirft wie Möbel«, schlug sie vor.
Seine Augen leuchteten interessiert auf. »Das ist
eine Idee...«
Chavori zuckte die Achseln. »Solange wir nur genug
dabei verdienen, dass ich meine Arbeit fortsetzen kann. Und nun
lass mich Stara zeigen, wie eine richtige Karte aussieht.«
Er griff nach der Papierrolle, löste einen weiteren
Bogen daraus und legte ihn über den ersten. Dieser war nicht so
künstlerisch gezeichnet, und die Hälfte der Karte war leer. Statt
durch kleine Bilder waren Berge jetzt durch ein Bündel von Linien
dargestellt, die von dem Gipfel als Mittelpunkt ausgingen. Städte
mit einzelnen Gebäuden waren nun zu Punkten geschrumpft.
»Diese Karte zeigt Euch nicht nur, wo jeder Berg
steht, sondern auch, wo die Täler zwischen ihnen verlaufen«,
erklärte Chavori ihr. Er zeichnete mit dem Finger die feien Bahnen
zwischen den Bergen nach. »Ich kann nicht nur das Tal zeigen,
sondern auch die Breite des Tales andeuten, indem ich breitere
Freiräume lasse. Seht Ihr dies hier?« Er zeigte auf eine große
weiße Lücke, durch die sich eine blaue Linie schlängelte. »Es ist
wahrscheinlich das schönste Tal, das Ihr jemals zu Gesicht bekommen
könntet. Keine Felder, nur wilde Enka, die dort grasen. Dieser
Fluss strömt mitten hindurch. Berge zu allen Seiten.« Er deutete
mit einer anmutigen Bewegung nach oben, dann breitete er die Arme
aus. »Und der mächtigste blaue Himmel darüber.«
Seine Augen waren bei der Erinnerung trüb geworden,
und ein Stich der Sehnsucht durchzuckte Stara. Würde sie jemals
wieder das Land jenseits der Stadt durchstreifen? War die Reise von
Elyne nach Sachaka ihre letzte gewesen?
Sie blickte hinab und suchte nach den Buchstaben
des Wortes »Elyne«. Sie waren seitlich eingezeichnet, entlang einer
roten Linie, die den Bergen am oberen linken Rand der Karte folgte.
Die rote Linie musste die Grenze sein, überlegte sie. Und wenn eine
blaue Linie einen Fluss anzeigte, stand dann diese dicke schwarze
Linie, die sich durch die Berge von der elynischen Grenze nach
Arvice zog, für die Straße? Wieder betrachtete sie die Berge, und
plötzlich wirkte die Karte, als hätte sie eine gewiss Tiefe
gewonnen.
»Ah«, sagte sie. »Jetzt erkenne ich die Illusion.
Es ist so, als betrachteten wir das Land von oben. Der zentrale
Punkt, an dem sich die Berglinien treffen, ist der Gipfel.«
»Ja!« Chavori wandte sich an Kachiro. »Du hattest
recht: Deine Ehefrau ist außerordentlich klug.«
Kachiro lächelte breit. »Ja, nicht wahr?«,
erwiderte er selbstgefällig.
Chavori sah zuerst Stara an, dann wieder Kachiro.
»Was kann ich Euch sonst noch zeigen?«
Kachiro musterte die Karte nachdenklich. »Hast du
auch Karten von Kyralia mitgebracht?«
Das triumphierende Lächeln auf Chavoris Gesicht
erstarb, und an seine Stelle trat eine duldsame Grimasse.
»Natürlich. Heutzutage will jeder Karten von Kyralia.«
»Wir stehen im Krieg mit ihnen«, bemerkte
Kachiro.
»Ich weiß, ich weiß.« Chavori seufzte und griff
abermals nach der Rolle. Nachdem er einige weitere Blätter wie das
letzte herausgelöst hatte, breitete er schließlich eine weitere der
schön verzierten Karten aus, mit Zeichnungen von Städten und
Bergen.
Kachiro deutete auf den Pass, dann hielt er die
Hand über die Berge, die Kyralia von Elyne trennten. »Nach allem,
was ich gehört habe, haben sich die Ichani unter der Führung von
Ashaki Takado etwa hier versammelt. Als ihre Zahl groß genug war,
um eine Armee zu bilden, zogen sie in die ländlichen Gebiete im
Norden und nahmen Dörfer und Städte ein.«
Chavori schüttelte den Kopf. »Die Berichte, die mir
zu Ohren gekommen sind, besagen, dass sie sich nicht die Mühe
machen, an irgendeinem Ort zu verweilen, um die Menschen zu
beherrschen. Stattdessen haben sie die Städte zerstört und die
Menschen vertrieben.«
»Ich bezweifle, dass sie sie vertreiben«, bemerkte
Kachiro. »Wahrscheinlich töten sie sie und nehmen ihre Stärke. Wenn
sie sie der kyralischen Armee entgegentrieben, würden sie ihren
Feinden lediglich weitere Menschen zur Verfügung stellen, von denen
sie Stärke aufnehmen können. Warum sollten sie ihnen zusätzliche
Macht geben, wenn sie sie für sich selbst nutzen können?«
Chavori zuckte die Achseln. »Ja, du hast sicher
recht.« Er deutete mit weit ausholender Geste von den Bergen zu der
Ansammlung von Gebäuden, über denen der Name »Imardin« stand. »Sie
werden auf dem Weg zur Hauptstadt sein. Aber ich kann nicht umhin,
mich zu fragen...« Er blickte zu Kachiro auf. »Ich habe dir
erzählt, dass ich auf dem Rückweg nach Arvice an Nomakos Armee
vorbeigekommen bin. Erinnerst du dich?«
Kachiro nickte. »Ja.«
»Damals ist mir aufgefallen, dass die Armee in drei
Verbände aufgeteilt war. Nomako an der Spitze der ersten Gruppe,
während zwei andere kleinere Gruppen angeführt haben.« Chavori
schaute wieder auf die Karte hinab. »Vermutlich sollten
diese drei Abteilungen getrennt marschieren, sobald sie die Grenze
überquert hatten.«
»Warum sollten sie das tun?«, fragte Kachiro.
Chavori hob die Schultern. »Damit sie durch
verschiedene Regionen Kyralias ziehen und dabei Stärke von den
Menschen aufnehmen können. Die Kyralier werden ihre Streitkräfte
nicht in drei Teile aufspalten wollen - oder in vier, schließlich
ist da auch noch Takados Armee -, um es mit ihnen
aufzunehmen.«
»Dann werden alle Gruppen gleichzeitig in Imardin
eintreffen.«
»Jene, die nicht auf Widerstand gestoßen sind,
werden immer noch stark sein und bereit für die Schlacht.«
»Hmm.« Kachiro betrachtete mit schmalen Augen die
Karte. »Und bei welcher Gruppe ist es am wahrscheinlichsten, dass
sie auf Widerstand stoßen wird?«
Chavoris Augen weiteten sich. »Bei Takados Armee!
Er war als Erster dort, und wenn Nomako den richtigen Zeitpunkt
wählt, wird Takado bereits das Ziel der Kyralier gewesen sein. Wenn
er sich Nomakos Armeen anschließt, wird seine Gruppe die schwächste
sein.«
»Nomako wird Imardin erobern und anstelle von
Takado als Held nach Hause zurückkehren. Selbst wenn die Menschen
das durchschauen, werden sie Kaiser Vochira dafür bewundern, dass
er ihn überlistet hat.« Er sah Chavori beeindruckt an. »Du hast
einen guten Kopf für Schlachtstrategien. Vielleicht solltest du die
Armee anführen?«
Der junge Mann errötete abermals. Ein oder zwei
Sekunden lang sahen sie einander an, dann senkten beide den Blick
wieder auf die Karte.
Stara runzelte die Stirn. Sie hatte das Gefühl, als
hätte sie soeben etwas verpasst. Aber andererseits war sie keine
Expertin, wenn es um Kriegsführung ging. Obwohl sie davon überzeugt
war, alles verstanden zu haben, was Chavori gesagt hatte, konnte
ihr irgendeine Nuance entgangen sein, die beiden Männern
aufgefallen war.
»Darf ich eine Frage zum Krieg stellen?«, warf sie
ein.
»Selbstverständlich«, antwortete Kachiro.
»Warum bist weder du noch einer deiner Freunde Teil
der Armee?« Das Lächeln in Kachiros Zügen zerfiel. »Ich bin
erleichtert, dass du dein Leben nicht aufs Spiel setzt«,
versicherte sie ihm. »Mir ist es viel lieber, dass du hier bist.
Aber ich vermute, dass es politische Gründe hat, und ich würde die
sachakanische Politik gern besser verstehen.«
Kachiro nickte. »Einige der Gründe sind politischer
Natur, andere sind es nicht. Mein Vater war vor vielen Jahren wegen
eines Feuers in unserem Lager außerstande, eine Bestellung des
Kaisers auszuliefern, und er hat Jahre darauf verwandt, die Schuld
dafür zurückzuzahlen. Kurz nachdem er die letzte Zahlung geleistet
hatte, ist er gestorben. Meine Familie war lange Zeit in Ungnade
gefallen, obwohl die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen mit der
Zeit einfacher wurde.«
Sein Gesichtsausdruck war so bekümmert, dass Stara
bereute, die Frage gestellt zu haben.
»Einige andere meiner Freunde sind ebenfalls in
Ungnade gefallen, obwohl Chavoris Familie großes Ansehen genießt«,
fuhr er fort. Dann lächelte er. »Das Ganze hat auch einen Vorteil:
Wenn unsere Familie weder Achtung noch Respekt genießt, brauchen
wir uns der Armee auch nicht anzuschließen, um die Familienehre zu
schützen. Ich vermute allerdings, dass man unsere Hilfe angenommen
hätte, hätten wir sie angeboten.«
Chavori nickte. »Ich habe meinem Vater die Dinge
sehr einfach auseinandergesetzt: Wenn er mir nicht den Respekt
erweist, den ich verdiene, gibt es nichts, für dessen Schutz ich
mein Leben riskiere. Er hat mich einen Feigling genannt.« Er zuckte
die Achseln. »Ich nehme an, er hat gehofft, ich würde in den Krieg
ziehen und getötet werden, dann wäre er meiner ledig
gewesen.«
Ein Stich des Mitgefühls für diesen jungen Mann
durchzuckte sie, der so talentiert war, aber offenkundig einen
Vater hatte, der ihn ebenso wenig zu schätzen wusste, wie ihr Vater
sie.
»Kann ich dir diese Karte abkaufen?«, fragte
Kachiro.
Chavori klappte der Unterkiefer nach unten. »Du
willst sie kaufen?«
»Ja. Oder brauchst du sie?«
»Nein«, sagte Chavori schnell. »Ich mache diese
Karten, um sie zu verkaufen. Ich verkaufe sie ständig. Nun, nicht
ständig - vielleicht einige pro Jahr.«
»Dann kann ich sie kaufen?« Kachiro blickte zu der
gegenüberliegenden Wand des Raumes. »Ich denke, ich werde außerdem
noch weitere kaufen. Vielleicht eine von jedem Land, sodass ich mir
die Karten an die Wand hängen kann. Es wäre nützlich, um Gespräche
mit Gästen in Schwung zu bringen, vor allem wenn Sachaka weitere
Länder zurückerobert, die es früher einmal beherrscht hat. Wie viel
willst du dafür haben?«
Ein kalter Schauder überlief Stara, und sie hörte
nicht, welchen Preis Chavori verlangte oder wie viel Kachiro
bezahlen wollte. Meint er Elyne? Nun, natürlich tut er das.
Elyne war Teil des Reiches, genau wie Kyralia. Beide haben zur
gleichen Zeit ihre Unabhängigkeit erhalten. Beim Gedanken an
einen Krieg in Elyne krampfte sich ihr Herz zusammen.
Kachiro erhob sich. »Ich hole es gleich.« Er
schritt zur Tür. Dort blieb er stehen, drehte sich noch einmal zu
Stara um und lächelte ihr zu, bevor er verschwand.
Das Lächeln weckte in ihr sowohl Erheiterung wie
Unbehagen. Es lag etwas Schelmisches darin. Etwas beinahe
Herausforderndes. Hoffte er, dass sie Chavori an Ort und Stelle
verführen würde?
So dumm bin ich gewiss nicht, dachte sie.
Sie wandte sich dem jungen Mann zu.
»Wann werdet Ihr Eure Karten dem Kaiser bringen?«,
erkundigte sie sich.
Er verzog das Gesicht. »Sobald er mir eine Audienz
gewährt. Ich versuche schon seit Wochen, ihn zu treffen. Vermutlich
fordert der Krieg seine gesamte Aufmerksamkeit. Aber der Krieg ist
genau der Grund, warum er die Karten sehen muss.«
»Weshalb das?«
Seine Miene wurde ernst. »Weil es Orte in den
Bergen gibt, an denen sich ein Feind mühelos verstecken und leben
könnte. Höhlen und Täler, in denen er Ackerbau betreiben und viel
zum Verzehr züchten könnte. Von dort aus könnte ein Feind
Sachaka angreifen und wieder verschwinden. Wenn die Ichani diese
Orte fänden...« Er schauderte. »Sobald der Krieg mit Kyralia
vorüber ist, wird Kaiser Vochira zu viel damit zu tun haben, dieses
Land ganz seiner Herrschaft zu unterwerfen. Seine Kräfte werden
nicht ausreichen, um sich gleichzeitig um Angriffe aus den Bergen
zu kümmern.«
Stara runzelte die Stirn. »Das ist ein
erschreckender Gedanke. Aber wenn es diese Orte gibt, warum sind
sie dann nicht bereits bewohnt? Warum haben die Ichani sich nicht
bereits dort niedergelassen?«
»Man erreicht diese Orte durch eine Höhle, durch
die ein Fluss fließt. Ich vermute, dass der Fluss kürzlich seinen
Lauf verändert hat - ich habe Spuren eines trockenen Flussbettes
gefunden, wo ein Erdrutsch vor einigen Jahren den Fluss blockiert
hat. Das Wasser muss die Höhle geschaffen oder verbreitert
haben...«
»Bitteschön.« Kachiro trat in den Raum, einen
kleinen Beutel in Händen, in dem es leise klimperte. Chavori erhob
sich und lächelte mit einer Mischung aus Verlegenheit und
Dankbarkeit, als Kachiro ihm den Beutel in die Hand drückte. »Und
nun möchte ich dir etwas zeigen.« Kachiro sah Stara an. »Ich
fürchte, dich würde es nicht interessieren, meine Liebe«, sagte er
entschuldigend.
Sie lächelte. »Dann werde ich in mein Zimmer
zurückkehren, wenn du es so wünscht.«
Er nickte.
»Danke, dass Ihr solches Interesse an meinen Karten
gezeigt habt«, meinte Chavori, der sie ein wenig jämmerlich ansah.
»Ich hoffe, ich habe Euch nicht gelangweilt.«
»Nein, ganz und gar nicht«, versicherte sie ihm.
»Die Karten waren faszinierend. Ich freue mich schon darauf,
weitere an unseren Wänden zu sehen und zu hören, wie sie
hergestellt werden.«
Er strahlte sie an. Sie wandte sich lächelnd ab und
verließ den Raum. Einen Moment später schlüpfte Vora aus einem
Seitenflur und schloss sich ihr an. »Was haltet Ihr von unserem
Gast, Herrin?«
»Er ist ein überraschend angenehmer
Gesellschafter.« Stara kicherte. »Ein intelligenter Mann, auch wenn
er im Umgang mit anderen ein wenig linkisch wirkt. Ich nehme an, er
wird diesem Problem mit der Zeit entwachsen.«
Vora murmelte etwas Nichtssagendes. Als sie Staras
Zimmer erreichten, schloss die Sklavin die Tür hinter ihnen.
»Also, Herrin, denkt Ihr, er ist die Art von Mann,
die zugeben würde, Vater Eures Kindes zu sein, sollte man ihn
bestechen oder erpressen?«
Stara lächelte kläglich. »So feinsinnig wie immer,
Vora. Ja, die Art von Mann ist er«, antwortete sie. »Wenn man ihm
mit einer Entehrung drohte oder ihn in Versuchung führte, seine
Arbeit zu finanzieren, würde er es tun. Keine Bange. Ich werde mich
nicht in ihn verlieben.«
»Das ist gut. Obwohl...« Die Sklavin runzelte die
Stirn.
»Was?«
Vora blickte zu Stara auf und kniff nachdenklich
die Augen zusammen.
»Der Grund, warum Ihr nicht kinderlos bleiben
solltet, existiert vielleicht nicht mehr.«
Stara spürte, dass ihr Herz einen Moment lang
aussetzte und dann zu rasen begann. »Nachira? Du hast Neuigkeiten?
Ist sie... ist sie tot?«
Vora lächelte und schüttelte den Kopf.
»Nein.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte Stara
sich aufs Bett. »Was ist es dann?« Eine Möglichkeit kam ihr in den
Sinn, und ein Prickeln der Aufregung durchlief sie. »Ist sie
schwanger?«
»Soweit ich weiß, nicht.« Vora kicherte.
»Was ist es dann?« Stara musterte die
Sklavin mit gerunzelter Stirn. »Hör auf, mit mir zu spielen! Dies
ist sehr ernst!«
Vora hielt inne; ihr Blick wurde nachdenklich und
zu Staras Bestürzung wachsam. Dann seufzte sie. »Nachira ist
verschwunden. Sie ist entweder fortgegangen, oder jemand hat sie
aus dem Haus Eures Vaters geholt.«
Stara starrte die alte Frau an. »Ich verstehe. Du
wirkst darüber nicht so erschrocken, wie du es sein
solltest.«
»Ihr irrt Euch«, versicherte Vora ihr.
»Nein. Ich irre mich nicht.« Stara erhob sich und
trat vor die Sklavin hin. »Was verschweigst du mir?«
Ein Anflug von Furcht trat in Voras Augen.
»Vertraut Ihr mir, Herrin?«
Stara zog die Brauen zusammen. Tue ich das?
Sie nickte. »Ja, aber es gibt Grenzen, Vora.«
Die Sklavin nickte ebenfalls, dann senkte sie den
Blick. »Es gibt einige Dinge, die ich durch... durch neue
Verbindungen zu den Sklaven Eures Ehemannes erfahren habe... Dinge,
die ich Euch nicht eröffnen kann, weil Menschen sterben werden,
falls ich es tue und Euer Gemahl oder Euer Vater Eure Gedanken
lesen. Menschen, die Gutes getan haben. Und Menschen, denen sie
geholfen haben, wie Nachira.« Sie sah zu Stara auf. »Ich kann Euch
nur so viel sagen: Nachira ist in Sicherheit.«
Stara sah der Frau forschend in die Augen, und Vora
hielt ihrem Blick ohne einen Wimpernschlag stand. Vertraue ich
ihr genug, um dies zu akzeptieren? fragte sie sich. Ich
glaube, sie liebt Ikaro und ist ihm treu ergeben, und daher gilt
das Gleiche für Nachira. Ich bin mir nicht so sicher, ob sie mich
genauso sehr liebt, aber es wäre nachvollziehbar, wenn sie das
nicht täte, da sie mich nicht genauso gut kennt. Und doch denke
ich, sie würde versuchen, die Notwendigkeit zu vermeiden, zwischen
uns zu wählen. Was bedeuten könnte, dass sie mir Informationen
vorenthalten muss.
Ich könnte versuchen, ihre Gedanken zu lesen.
Aber ich will ihr das nicht antun. Und ist es das Risiko wert,
Nachira in Gefahr zu bringen, nur um herauszufinden, was ihr
zugestoßen ist?
»Ich hoffe um deinetwillen, dass sie tatsächlich in
Sicherheit ist«, erklärte Stara. »Und sobald du mir erzählen
kannst, wo sie sich aufhält, erwarte ich von dir, dass du das
tust.«
Voras Augen füllten sich mit Tränen. »Das werde ich
tun. Ich verspreche es. Danke, Herrin.«
»Weiß Ikaro schon Bescheid?«
»Das wäre unmöglich. Sie ist erst gestern Nacht
verschwunden. Kein Bote hätte ihm die Nachricht so schnell
überbringen können, selbst wenn er wüsste, wo in Kyralia Ikaro sich
aufhält.«
Stara ging zum Bett zurück und legte sich hin.
»Armer Ikaro. Ich hoffe, es geht ihm gut.«
»Ich auch«, versicherte Vora ihr. »Ich auch.«