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Es kam Stara vor, als wären Jahre
vergangen, seit sie sich das letzte Mal in einem überfüllten Raum
aufgehalten hatte. Neun Frauen saßen um sie herum, einige
plauderten miteinander, andere hörten still zu. Die jüngste war
erst zwölf, wenn auch viel zu weise und selbstbeherrscht für ihr
Alter. Die älteste war etwa in Voras Alter und hatte mehr graue
Strähnen im Haar als diese, aber eine Energie, um die Stara sie
beneidete. Stara vermutete, dass es ihr schwergefallen wäre, die
Frau zu beschäftigen, wäre da nicht die Arbeit gewesen, die die
anderen Frauen mitgebracht hatten.
Da bei den Verräterinnen alle Frauen gleich
behandelt wurden, hatten auch die freien Frauen praktische Arbeit
geleistet. Sie bekamen jedoch keine unangenehmen oder körperlich
beanspruchenden Aufgaben, da dies ein zu großer Schock für Frauen
gewesen wäre, die noch nie zuvor gearbeitet hatten. Stattdessen
lehrte man sie Fähigkeiten wie das Nähen und Weben, das Kochen und
Konservieren von Nahrungsmitteln. Obwohl sie in aller Eile aus der
Zuflucht geflohen waren, hatte jede von ihnen es geschafft,
Werkzeuge für ihre Arbeit zwischen die Kleider und Nahrungsmittel
zu packen, die sie mitgebracht hatten, und nachdem sie in Kachiros
Haus angekommen waren, nahmen sie schon bald neue Projekte in
Angriff.
Es war einfach gewesen, Kachiro dazu zu überreden,
die Frauen in seinem Haus aufzunehmen. Stora hatte ihm erzählt, sie
kämen von Landgütern, seien vor den Kyraliern geflohen und
Freundinnen der Ehefrauen seiner Freunde. Außerdem hatte sie
gesagt, dass diese Frauen wieder fortgehen würden, sobald das
Problem mit den Kyraliern bereinigt wäre. Da seine Freunde entweder
nicht genau wussten oder sich nicht dafür interessierten, wie viele
Freundinnen ihre Frauen hatten, hatte er die Halbwahrheit ohne
weitere Fragen hingenommen.
Sie musste das Wagnis eingehen, darauf zu setzen,
dass er Nachira nicht erkennen würde, aber er neigte ohnehin dazu,
Frauen so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen, und hatte ihre
Schwägerin kaum eines Blickes gewürdigt. Außerdem war er abgelenkt
durch die Neuigkeit, dass die Kyralier sich der Stadt näherten, und
häufig verschwand er stundenlang, um mit seinen Freunden Pläne zu
erörtern.
Nachira war sehr unglücklich gewesen, als sie
gehört hatte, dass Ikaro wahrscheinlich tot war. Sie hatten
zusammen geweint, und Stara hatte zu ihrer Überraschung
festgestellt, dass ihre Trauer größer war, als sie erwartet hatte.
Sie hatte damit gerechnet, dass sie Nachira ständig würde
beschwichtigen und trösten müssen, aber die früher so passive Frau
schien jetzt, da sie nicht mehr ständig mit einer Ermordung rechnen
musste, einiges Selbstvertrauen gewonnen zu haben. Der Verlust
ihres Ehemannes schmerzte sie offenkundig tief, aber sie
lebte und war entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie auch am
Leben blieb.
Was werde ich empfinden, falls Kachiro nicht
zurückkommt?, fragte sich Stara Er war vor einigen Stunden
aufgebrochen, um sich seinen Freunden anzuschließen, die allesamt
fest entschlossen waren, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um
die Stadt zu verteidigen. Er hat gesagt, die Kyralier hätten
keine Chance, aber ich kann nicht umhin, mir Sorgen zu machen.
Schließlich wären sie nicht hergekommen, wenn sie nicht dächten,
sie könnten uns besiegen. Ich hoffe, er ist vorsichtig. Er mag
nicht ganz ehrlich zu mir gewesen sein, aber er ist kein schlechter
Mann. Nur ein Mann, der in einer voreingenommenen Gesellschaft
überleben will. Genau wie ich - und ich war auch nicht ganz ehrlich
zu ihm.
Noch nie war sie so sehr in Versuchung gewesen, ihm
von ihren magischen Fähigkeiten zu erzählen. Hätte sie nicht die
Pflicht gehabt, die Frauen zu schützen, wäre sie mit ihm gegangen,
um den Eindringlingen das wenige an Magie entgegenzuschleudern, das
sie besaß. Als lautes Donnern und Krachen vernehmbar gewesen war,
hatte es sie ihre ganze Willenskraft gekostet, sitzen zu bleiben.
Sklaven hatten berichtet, dass sie einige Straßen entfernt
Kampflärm gehört hätten, der aber inzwischen weitergezogen
war.
»Sorgst du dich wieder um Kachiro?«, erklang eine
Stimme neben ihr.
Stara zuckte zusammen und blickte zur Seite. »Vora!
Du bist zurück!« Die anderen Frauen sahen auf, und ihre Ausrufe
bewahrten Stara davor, Voras Frage beantworten zu müssen.
»Ja.« Vora trat in den Kreis der Frauen. »Und ich
habe Neuigkeiten.«
»Erzähle«, murmelte eine der Frauen. Sie alle
schauten Vora erwartungsvoll an.
»Die Kyralier sind in der Stadt«, bestätigte Vora
ihre Vermutungen mit ernster Miene.
»Nein!«
»Aber... wie?«
»Sind viele gestorben?«
Vora hob die Hände, und die Frauen wurden still.
»Ein Drittel
der Verteidiger ist gefallen.« Sie sah eine der Frauen bekümmert
an. »Es tut mir leid, Atarca.« Die Frau ließ den Kopf hängen und
nickte, sagte jedoch nichts. »Die Übrigen...«, fuhr Vora fort. »Als
feststand, dass sie überwältigt werden würden, haben sie sich
zurückgezogen. Glücklicherweise hatten sie Vorkehrungen für eine
solche Situation getroffen. Sie begannen die Kyralier von
versteckten Positionen anzugreifen. Ich bin ihnen etwa eine Stunde
lang in einigem Abstand gefolgt. Als ich wusste, dass sie sich dem
Palast näherten, bin ich hierher zurückgekehrt.« Sie hielt inne, um
tief Luft zu holen. »Ich denke, wir sollten die Stadt verlassen,
solange wir noch können.«
Die Frauen starrten sie schweigend an, dann
überschlugen sich ihre Fragen.
»Die Feinde haben also gesiegt?«
»Wohin werden wir gehen?«
»Denkt Tavara ebenfalls, dass wir gehen
sollten?«
»Was würde geschehen, wenn wir hierblieben?«
Ein kalter Schauder überlief Stara. Es bestand
bereits die Gefahr, dass jene in der Stadt, vor denen die Frauen
geflohen waren, sie entdecken und erkennen würden. Jetzt mussten
sie mit der wahrscheinlichen Bedrohung rechnen, dass die
Eindringlinge sich an den Bewohnern Arvices rächen würden. Und ohne
Magier, die die Gesetze durchsetzten, bestand obendrein die Gefahr
eines Angriffs durch gesetzlose freie Männer, die sich das Chaos
zunutze machten. Die sie vergewaltigen und ausrauben und später
behaupten würden, es seien die Kyralier gewesen.
Hier sind wir wahrscheinlich in
Sicherheit... solange Kachiro zurückkehrt. Was werden die
Kyralier mit den Magiern tun, die die Schlacht überleben? Selbst
wenn sie Kachiro nicht töten, bezweifle ich, dass er uns vor ihnen
beschützen könnte...
Das sprach dafür, die Stadt zu verlassen. Sie
verringerten ihr Risiko auf das einer Entdeckung und der Begegnung
mit gesetzlosen freien Männern. Oder mit verzweifelten Männern.
Oder Sklaven. Die Sklaven würden die Arbeit vielleicht einstellen,
sobald kein Herr mehr da war, der ihnen Befehle erteilte,
und ohne Sklaven, die sich ums Vieh kümmerten und Nahrungsmittel
lieferten, würde in Arvice eine Hungersnot ausbrechen.
Wir könnten unterwegs durchaus verzweifelten
oder gesetzlosen Menschen begegnen, aber ich sollte in der Lage
sein, sie mit Magie abzuschrecken. Doch wohin können wir
gehen?
Sie dachte an Elyne und an ihre Mutter. Aber sie
hatte versprochen, den Verräterinnen zu helfen, und sie konnte sie
nicht dorthin bringen. Nicht jetzt, da Geschichten über die
Ermordung von Sachakanern in Capia hier in Arvice die Runde
machten. Hoffentlich erinnert sich niemand daran, dass Mutter
mit einem Sachakaner verheiratet war, was sie in den Augen eines
Fanatikers ebenfalls zu einer Sachakanerin machen könnte.
Kachiro hatte eine Botschaft nach Elyne geschickt, um
Nachforschungen über das Schicksal ihrer Mutter anzustellen, aber
es war keine Antwort gekommen.
»Viele, viele andere Sachakaner verlassen die
Stadt«, berichtete Vora weiter. »Auf jeder Straße, die aus der
Stadt hinausführt, haben sich lange Reihen von Wagen und Menschen
gebildet.«
»Wohin gehen sie?«
»Wer weiß?«, antwortete Vora. »Vielleicht wollen
sie Zuflucht bei Freunden in deren Domänen suchen? Oder Sachaka
überhaupt verlassen?«
»Haben wir Freunde auf dem Land? Oder werden wir in
unsere Zuflucht zurückkehren?«
»Die Zuflucht liegt zu dicht an der Straße nach
Kyralia«, meldete Nachira sich zu Wort. »Wenn es irgendwo anders
eine Möglichkeit gegeben hätte, hätte Tavara uns dorthin geschickt,
statt uns in die Stadt zurückzubringen.«
Vora nickte. »Ich fürchte, das ist zutreffend.« Sie
hielt inne. »Wohin wir auch gehen, wir werden für eine Weile für
uns selbst sorgen müssen.«
»Wir sind es gewohnt zu arbeiten«, stellte die
ältere Frau fest.
»Aber wir sind es nicht gewohnt, Felder zu
bestellen oder Vieh zu versorgen«, rief Vora ihr ins Gedächtnis.
Dann lächelte
sie. »Doch ich bin davon überzeugt, dass wir zurechtkommen werden.
Schwieriger wird es sein, andere davon abzuhalten, uns das
wegzunehmen, was wir haben.«
»Stara verfügt über Magie. Sie kann sie
aufhalten.«
Stara spürte, dass ihr Gesicht warm wurde, als alle
Frauen sich zu ihr umdrehten, um sie anzulächeln.
»Sie hat nur ihre eigene Magie«, warnte Vora sie.
»Magier, die die Stärke von Sklaven genommen haben, werden stärker
sein als sie.«
»Warum geben wir ihr dann nicht unsere Stärke?«,
fragte Nachira. Die Frauen verfielen in Schweigen, während sie
fragende Blicke tauschten. Alle nickten. »Die meisten Magier werden
ihre Macht ohnehin während der Schlacht verbraucht haben«, fuhr
Nachira fort. »Am Ende wird Stara stärker sein als sie.«
Die ältere Frau runzelte die Stirn. »Es ist besser,
wenn sie nie erfahren, dass wir etwas haben, das sie wollen«, sagte
sie düster. »Besser, wenn wir irgendwo ein Versteck finden.«
»Oh«, sagte Stara.
Ein Versteck. Unauffindbar...
»Ich kenne einen Ort.« Staras Puls beschleunigte
sich. »Einen Ort in den Bergen. Aber ich weiß nicht, wie man
dorthin gelangt.« Mutlos ließ sie die Schultern sinken.
Vielleicht könnte ich Chavoris Karten benutzen? Ich müsste sie
zuerst in die Hände bekommen. Sie blinzelte, als ihr bewusst
wurde, dass sie aufgestanden war. Die Frauen sahen sie
erwartungsvoll an. Diese erstaunlichen Frauen. Anpassungsfähig.
Stark. Wir werden es schaffen. Wir werden fortgehen und unsere
eigene Zuflucht gründen. Sie wandte sich an Vora.
»Kannst du die Ehefrauen holen?«
Vora zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann es
versuchen.«
»Dann versuch es. Erklär ihnen, was wir vorhaben,
und stell fest, ob sie mitkommen wollen. Ich werde... etwas...
holen. Während ich fort bin, werdet ihr alle«, sie sah die Frauen
an, »nur so viel einpacken, wie ihr tragen könnt, und Reisekleider
anziehen. Freie Frauen. Sklavinnen. Jeder, der mit uns fliehen
will. Wenn ich zurückkomme...« Sie hielt inne, um tief
durchzuatmen.
»Wenn ich zurückkomme, werden wir Arvice verlassen. Und wir werden
in die Berge gehen.«
Als die Frauen sich zerstreuten, um ihre Habe
zusammenzusuchen, eilte Stara in ihr Schlafzimmer. Sie öffnete
Truhen und suchte nach dunklen Kleidern. Es würde schon bald Nacht
sein, und sie wollte nicht gesehen werden. Sie hörte Schritte
hinter sich.
»Ich habe den Ehefrauen eine Nachricht geschickt«,
sagte Vora und trat vor eine andere Truhe. »Hast du das vor, was
ich glaube?«
»Was glaubst du denn, das ich vorhabe?
»Einen kleinen abendlichen Diebeszug. Für den du
deine elynische Haut wirst bedecken müssen.« Vora nahm etwas aus
der Truhe und hielt es ihr hin. Es war ein dunkelgrünes
Wickelkleid, lang genug, um ihre Beine zu bedecken. Stara nahm es
entgegen und zog sich um.
Sie lächelte. »Ich würde sagen, dass ich mir etwas
borge, ohne zuvor die Erlaubnis dafür eingeholt zu haben.« Sie
griff nach einer dunkelblauen Decke, die eine der Frauen gewebt und
ihr zum Dank für ihre Hilfe geschenkt hatte, und warf sie sich um
die Schultern. Dann schob sie die Füße in ein Paar Sandalen und
eilte aus dem Raum. »Begleitest du mich?«, fragte sie Vora, die ihr
gefolgt war.
»Natürlich.«
Stara blickte über ihre Schulter und lächelte.
»Danke.«
Die Luft draußen war angenehm warm, aber
geschwängert von Rauchgeruch. Die Sonne hing dicht über dem
Horizont. Schon bald würde sich Dunkelheit über die Stadt senken.
Was genau der richtige Zeitpunkt sein wird, um
davonzuschlüpfen.
Der Innenhof lag verlassen. Stara fragte sich, wo
die Sklaven geblieben waren, während sie und Vora durch die Türen
auf die Straße hinaustraten. Sie eilten davon, wobei sie sich in
den Schatten hielten, die die hohen Stadtmauern warfen. Die
dunklere Haut der Sklavin und ihre triste Kleidung machten sie in
dem schummrigen Licht noch unauffälliger als Stara.
Das unheimliche Schweigen wurde ab und zu durch
eilige Schritte oder einen vorbeirollenden Wagen durchbrochen. Sie
erreichten eine Hauptstraße, und plötzlich waren sie umgeben von
Lärm. Menschen bevölkerten die Durchgangsstraße. Karren, beladen
mit Besitztümern und Menschen, fuhren klappernd vorbei. Alle waren
sie auf dem Weg hinaus aus der Stadt.
Sie und Vora mussten sich zwischen Tieren und
Menschen hindurchschlängeln. Auf der anderen Seite fanden sie sich
abermals in leeren Straßen wieder, obwohl einmal eine Tür geöffnet
wurde und ein Pulk von Wagen herausrollte, auf dem Weg in Richtung
Hauptstraße.
»Nachts wird vielleicht weniger Gedränge
herrschen«, bemerkte sie laut.
»Das bezweifle ich«, murmelte Vora.
Schließlich erreichten sie das Haus des jüngsten
Freundes ihres Mannes, das Stara einmal zusammen mit Kachiro
besucht hatte. Es hatte sie überrascht, dass Chavori in einem so
aufsehenerregenden Haus lebte. Aber es hatte sich herausgestellt,
dass das Haus seinem Vater gehörte und Chavori in einem einzigen
Raum im hinteren Teil des Besitzes lebte, außer Sicht und leicht
erreichbar durch einen Sklaveneingang. Dies zeigte mit
schmerzlicher Klarheit, was seine Familie von seiner Neigung hielt,
Karten zu zeichnen.
Stara stellte fest, dass die Tür zum Sklaveneingang
offen und unverschlossen war.
»Das ist eigenartig«, murmelte sie.
Vora zuckte die Achseln und spähte hinein. »Die
Sklaven sind vielleicht geflohen. Sie hätten sich kaum damit
aufgehalten, die Tür hinter sich abzuschließen.«
Sie schlüpften hinein. Staras Herz hämmerte jetzt.
Wenn irgendjemand sie fand... nun, sie konnte so tun, als habe sie
nach einem Ort gesucht, an dem sie sich verstecken konnte. Ihre
Kleider verrieten, dass sie eine freie Frau war. Oder sie konnte
behaupten, sie suche nach Kachiro. Sie würden sich vielleicht nicht
an sie persönlich erinnern, aber Kachiro war ein regelmäßiger
Gast.
Chavoris Raum befand sich am unteren Ende eines
langen Flurs, der aussah, als hätte er schon vor einiger Zeit neu
gestrichen werden müssen. Sie schlich so leise sie konnte durch den
Gang. Als sie die Tür erreichte, stellte sie zu ihrer
Erleichterung fest, dass auch diese offen war. Sie brauchte nicht
einzubrechen, um hineinzugelangen. Aber was war, wenn schon ein
anderer die Karten gestohlen hatte? Der Gedanke ließ sie
innehalten, eine Hand an der Tür. Dann wurde ihr bewusst, dass sie
Schluchzen hören konnte und die Stimme eines Mannes, der einen
Namen wiederholte.
Und diese Stimme war ihr vertraut. Allzu
vertraut.
Sie tauschte einen Blick mit Vora, dann trat sie
durch die Tür. Der Raum war so klein und wohlgeordnet, wie sie ihn
in Erinnerung gehabt hatte. Ein großer, mit Pergamenten und
Schreibutensilien bedeckter Schreibtisch zog sich über eine Seite
des Raums. An der gegenüberliegenden Wand stand ein schmales Bett.
Auf dem Bett saß ihr Mann und wiegte den bewusstlosen Chavori in
den Armen.
Nicht bewusstlos, korrigierte sie sich, als
sie das Blut sah, das seine Brust und ein Teil seines Gesichtes
bedeckte. Tot.
Kachiro blickte zu ihr auf, und ihr Herz krampfte
sich zusammen beim Anblick der Trauer, die sie in seinen Zügen sah.
Er blinzelte, und ein Ausdruck des Erkennens trat in seine Augen,
die sich vor Überraschung weiteten.
»Stara?«
»Kachiro«, flüsterte sie, eilte zu ihm und kniete
vor ihm nieder. »Oh, Kachiro. Es tut mir so leid.«
Er schaute auf Chavori hinab, und sie konnte den
Kampf sehen, der folgte. Furcht, weil er bloßgestellt worden war,
vermutete sie. Dann Hass, wahrscheinlich auf sich selbst, weil er
diese Furcht empfand. Dann füllten seine Augen sich mit Tränen, und
er schlug sich eine blutbefleckte Hand vors Gesicht. Sie beugte
sich vor, um ihm über den Kopf zu streichen.
»Ich weiß, dass du ihn geliebt hast«, sagte sie.
»Ich weiß … alles.« Er zuckte zusammen und starrte sie an. »Vergiss
nicht, dass ich in Elyne aufgewachsen bin.« Sie lächelte schief.
»Du brauchst nicht zu befürchten, dass ich dich verurteile. Ich
verstehe sogar, warum du mich geheiratet hast.«
»Es tut mir leid«, stieß er heiser hervor. »Ich bin
ein schrecklicher Ehemann.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich verzeihe dir. Wie
könnte ich das nicht tun? Du bist ein guter Mann, Kachiro. Du hast
ein gutes Herz. Ich bin stolz darauf, deine Frau zu sein.« Dann
stand sie auf und streckte ihm die Hand hin. »Komm mit nach
Hause.«
Er sah abermals Chavori an, dann stieß er einen
tiefen Seufzer aus. »Ich will ihm eine anständige
Leichenverbrennung verschaffen. Die Kyralier werden nicht wissen,
wer er ist. Sie werden ihn begraben.«
Ein kalter Schauder überlief Stara. Sie hatte diese
sachakanische Sitte ganz vergessen. Dann schauderte sie abermals.
Selbst Kachiro glaubt, dass die Kyralier gesiegt
haben.
»Ist seine Familie hier?«, fragte sie.
»Nein. Sie sind alle fort. Oder tot. Genau wie die
anderen. Motaro. Dashina. Sie alle. Ich bin der Einzige...« Er
schloss die Augen und verzog das Gesicht.
»Tu es«, drängte sie ihn. »Wenn du nichts dagegen
hast, werde ich hier warten. Ich bin nicht sicher, ob ich so weit
bin, dies mit anzusehen.«
Er nickte, dann hob er den toten Chavori hoch und
trug ihn hinaus. Der junge Mann wirkte plötzlich sehr gebrechlich
und klein.
Sobald er fort war, wandte sie sich den Karten zu
und begann, sie durchzusehen.
»Ich will sichergehen, dass keine Kopien
zurückbleiben«, flüsterte sie Vora zu. »Keine Notizen oder Skizzen.
Nichts, das irgendjemandem verrät, dass dieser Ort, den er mir
beschrieben hat, existiert.«
Die Karten auf dem Tisch zeigten Vulkane im Norden,
mit Lavaströmen, die durch gekräuselte, rote Linien angedeutet
wurden. Als ihr klar wurde, wie nahe er dem Vulkan gekommen sein
musste, um diese Karte zu zeichnen, hielt sie inne. Er war
mutiger, als er zu sein schien. Ein Stich der Trauer
durchzuckte sie. Was hätte er sonst noch erfunden und entdeckt,
hätten die Kyralier seinem Leben nicht allzu früh ein Ende
gemacht?
In der Ecke des Raums standen mehrere Röhren wie
diejenigen, in denen Chavori seine Karten transportiert hatte.
Stara nahm eine davon, öffnete ein Ende und kippte die
Pergamentrollen
auf den Tisch. Eine nach der anderen rollte sie sie auf. Sie
zeigten die Küste Sachakas. Sie fluchte leise. Wir lange würde
Kachiro brauchen, um Chavoris Leichnam zu verbrennen und
zurückzukehren?
Als sie einen unglücklichen Seufzer von Vora hörte,
drehte sie sich um. Die alte Frau durchblätterte Pergamentbündel in
einer kleinen Truhe, öffnete die Deckel und schüttelte den
Kopf.
»Er hat eine schreckliche Handschrift«, sagte die
Sklavin. »Es könnte Wochen dauern, all das zu lesen.«
»Können wir sie mitnehmen?«
Vora blickte in die Truhe und verzog das Gesicht.
»Sie wird schwer sein.«
Stara griff nach einer weiteren Röhre. »Können wir
jemanden herschicken, der sie holt?«
»Was machst du da?«, erklang Kachiros Stimme von
der Tür.
Stara erstarrte, den Rücken ihm zugewandt. »Wir
dürfen nicht zulassen, dass all seine Arbeit verloren geht«,
antwortete sie. Die Lüge stieß ihr sauer auf. Aber auf eine
gewisse Art ist es die Wahrheit. Wer weiß, was aus den Karten
würde, wenn wir sie hierließen? Vielleicht retten wir sie vor der
Zerstörung.
»Du hast recht«, hörte sie ihn sagen. »Das wäre
nicht in seinem Sinne. Leg sie zurück in die Röhren.«
Als sie seine Schritte näher kommen hörte, drehte
sie sich mit einem hohlen Lächeln zu ihm um. Er nahm die Karten vom
Tisch, rollte sie zusammen und schob sie zurück in die Röhre. Die
Hälfte der Röhren reichte er Stara, die andere Hälfte gab er Vora,
dann hob er mit einem Ächzen die Truhe hoch.
»Lasst uns diese Dinge an einen sicheren Ort
schaffen«, sagte er und ging durch die Tür.
Das Tempo, das er auf dem Rückweg vorgab, war sehr
schnell, und obwohl Stara und Vora eine geringere Last zu tragen
hatten, hatten sie Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Die Sonne war
untergegangen, und im Zwielicht verblassten alle Farben. Endlich
erreichten sie Kachiros Haus und schlüpften hinein. Stara sah die
Überraschung auf seinem Gesicht, als er
die große Schar von Frauen im Herrenzimmer sah, die allesamt für
die Reise gekleidet waren. Auch die Ehefrauen waren nun dort, ihre
Kinder ebenfalls. Stara hatte keine Ahnung, ob sie etwas über das
Schicksal ihrer Männer wussten. Diese Neuigkeiten würden später
überbracht werden müssen. Mehrere Frauen in der Gruppe waren
Sklavinnen, wie Stara wusste, Sklavinnen, die jetzt ähnlich
gekleidet waren wie freie Frauen. Tavara war nicht unter ihnen. Aus
irgendeinem Grund erfüllte dieser Umstand Stara mit
Erleichterung.
Kachiro stellte die Truhe ab. »Wohin geht
ihr?«
»Fort aus der Stadt«, antwortete Stara ihm. Sie
legte die Karten nieder, trat vor ihn hin und sah ihn forschend an.
»Ich wusste nicht, wann oder... ob du zurückkommen würdest, daher
habe ich begonnen, unsere Flucht zu organisieren. Ich denke, wir
werden für eine Weile außerhalb von Arvice sicherer sein. Chiara
hat Freundinnen auf dem Land.« Diese letzten Worte waren natürlich
eine Lüge.
Er zog die Augenbrauen hoch und nickte langsam.
»Ja. Es wäre sicherer für euch alle. Und du solltest die da
mitnehmen.« Er deutete auf die Truhe.
Sie runzelte die Stirn. »Was ist mit dir? Du kommst
nicht mit uns?«
Kachiro zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein. Die Kyralier können nicht jeden sachakanischen Magier töten
und erwarten, dass die Sklaven weiterarbeiten werden. Irgendjemand
muss zurückbleiben und versuchen, etwas von dem zu retten, was wir
haben, sonst werden wir verhungern.« Er verzog das Gesicht. »Und
obwohl ich für Verhandlungen besser tauge als zum Kämpfen, will ich
hier sein, falls sich die Chance bietet, sie zu vertreiben oder
sogar ein wenig Rache zu üben.«
Ein wehmütiger Stolz durchfuhr Stara. Sie küsste
ihn auf die Wange, und als er sie überrascht ansah, bedachte sie
ihn mit einem strengen Blick. »Pass auf dich auf. Ich werde dir
eine Nachricht schicken, wenn wir Chiaras Freunde erreicht
haben.«
Er nickte und lächelte erschöpft. »Pass du auch auf
dich auf. Ich sollte mit dir gehen, um dich zu beschützen...«
»Wir werden zusammenhalten, und wir haben Sklaven
bei uns, die uns verteidigen«, versicherte Chiara ihm.
»Nun, es ist dunkel draußen, und wir wollen ein
wenig Abstand zwischen uns und Arvice bringen, bevor der neue Tag
beginnt«, sagte Stara und drehte sich zu den Frauen um. Sie griff
nach den Röhren und verteilte sie, dann bückte sie sich, öffnete
die Truhe und verteilte auch die gebündelten Notizen.
»Diese Dinge werden doch gewiss die Sklaven für
euch tragen«, sagte Kachiro.
Stara brachte es nicht übers Herz, ihm zu erzählen,
wie viele Sklaven davongelaufen waren. Sie hatte bereits ein
schlechtes Gewissen, dass sie ihn hier zurückließ, in der Stadt.
Einen Moment lang fühlte sie sich versucht, ihn zum Mitkommen zu
überreden, aber in ihrem Traum von einer wahren Zuflucht kamen
Männer nicht vor.
»Mir wäre es lieber, sie würden Proviant und andere
notwendige Dinge tragen«, antwortete sie. »Keine Sorge, so schwer
sind die Papiere nicht, wenn man sie aufteilt.« Die Frauen sahen
sie jetzt erwartungsvoll an. Sie lächelte Kachiro zu und berührte
seine Wange. »Leb wohl.«
Er lächelte schwach, griff nach ihrer Hand und
küsste sie. »Danke.«
Sie sahen einander noch einen Moment länger an,
dann riss sie sich los. »Kommt«, sagte sie und deutete auf die Tür.
Die Frauen brachten ein Lächeln und sogar einige unbeschwerte
Bemerkungen zustande, als sie Stara nach draußen folgten, sodass
das Ganze wirkte, als brächen sie zu einem fröhlichen Ausflug auf.
Stara drehte sich nicht um, denn sie wollte Kachiro nicht allein
dastehen sehen, wie er ihnen nachschaute.
Sobald sie das Haus verlassen hatten, stieß sie
einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, dann gab sie ein
flottes, aber nicht allzu ermüdendes Tempo vor. Die Frauen wurden
still, alle geheuchelte Fröhlichkeit war vergessen. Vora ging neben
Stara her.
»Welche Richtung sollen wir nehmen, was denkst
du?«, murmelte die Sklavin.
»Die Straße nach Kyralia«, erwiderte Stara. »Alle
anderen Straßen werden überfüllt sein. Es ist offenkundig, dass wir
eine Gruppe freier Frauen sind, die ohne Beschützer reisen. Ich
würde lieber keine Magie benutzen müssen, solange es nicht
unbedingt sein muss. Die Menschen werden den Weg, den die Kyralier
genommen haben, vielleicht meiden.«
»Ich schätze, falls die Kyralier gesiegt haben,
werden sie keinen Grund haben, die Stadt zu verlassen.«
»Und wenn sie verloren haben, sind sie tot.«
Sie eilten weiter, und die einzigen Geräusche waren
das Rascheln von Kleidern, das Tappen von Füßen und der Atem der
Frauen. Ferne Laute kamen aus allen Richtungen. Ein dumpfes
Donnern. Ein wütender Ausruf. Ein Schrei, bei dem sie alle
schaudernd innehielten. Stara spürte, wie die Spannung in ihr
wuchs. Sie widerstand dem Drang, loszulaufen.
Außerdem stellte sie fest, dass sie den Vorrat an
Magie in ihr immer wieder sachte berührte, um sich davon zu
überzeugen, dass er noch dort war, bereit, benutzt zu werden. Es
war eine Verlockung zu versuchen, sie alle mit einem Schild zu
umgeben, aber obwohl sie als Teil ihrer einfachen Ausbildung
gelernt hatte, das zu tun, hatte sie sich seit Jahren nicht mehr
die Mühe gemacht und war sich nicht sicher, wie viel Macht sie
verbrauchen würde, wenn sie den Schild ausdehnte, um so viele
Menschen zu schützen. Trotzdem war sie darauf gefasst, eine Mauer
hochzuziehen. Und darauf gefasst, selbst einen Schlag zu führen,
wenn es sein musste.
Sie näherten sich jetzt der Straße. Stara
verlangsamte ihren Schritt, als sie die Trümmer sah, die dort
verstreut lagen. Zu beiden Seiten der Straße standen Häuser in
Flammen und tauchten ihre Umgebung in ein flackerndes, heißes
Licht. Die Frauen gaben erstickte Laute von sich, als sie die
Zerstörung bemerkten. Alle blieben an der Ecke stehen, um sich in
grimmigem Schweigen umzusehen.
Stara hörte kaum wahrnehmbare Geräusche rechts von
ihr. Dann tat ihr Herz plötzlich einen Satz, als sie begriff, dass
die Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln gesehen hatte, nicht das
Flackern von Schatten war, die das Feuer warf. Sie riss die
Arme hoch, machte einen Schritt nach hinten und drängte die Frauen
zurück.
Aber sie hatten die Gefahr nicht gesehen und
bewegten sich zu langsam. Zwei Gestalten erschienen auf der Straße
vor ihnen; sie gingen langsam und schauten sich nach allen Seiten
um. Ein Mann und eine Frau. Ihrer Kleidung nach waren sie Kyralier.
Stara erstarrte und hörte, wie die Frauen nach Luft
schnappten.
Dann entdeckte der Mann sie und fuhr zu ihnen
herum. Eine Woge der Furcht schlug über Stara zusammen, und sie
ließ Magie los, die sie instinktiv zu einer Macht formte, um die
Eindringlinge wegzustoßen.
Und es funktionierte. Die beiden Fremden wurden
über die Straße geschleudert und landeten wie Puppen auf dem
Boden.
Sind sie tot? dachte Stara. Sie starrte die
Kyralier an und wartete darauf, dass sie sich bewegten. Während die
Zeit sich dehnte, drang das keuchende, verängstigte Atmen der
Frauen um sie herum in ihr Bewusstsein. Selbst Vora stöhnte vor
Angst.
»Sie bewegen sich nicht«, sagte Chiara. Sie machte
einen Schritt nach vorne. »Ich glaube, du hast sie erwischt.«
»Du solltest dich besser davon überzeugen«, riet
Tashana ihr.
Stara holte tief Luft und bewegte sich vorwärts.
Die Frauen folgten ihr. Sie erreichten den Mann. Staras Herz setzte
einen Schlag aus, als sie sah, dass er bei Bewusstsein war. Sofort
schirmte sie sich mit einem magischen Schild ab. Der Kyralier war
an einer Mauer gelandet. Als sie näher trat, bewegte er sich, zog
sich hoch und rollte sich dann auf den Rücken. Die vordere Seite
seines Gewandes war voller Blut, das durch die Fasern sickerte. Als
sie zu der Mauer blickte, sah sie das verbogene Ende eines
Lampenhakens, der feucht glänzte.
Sein Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht. Stara
griff nach Magie und machte sich bereit, ihm den Rest zu geben.
Aber dann glitt ein Ausdruck des Wiedererkennens und der
Überraschung über seine Züge.
»Ihr...«, sagte er, den Blick auf die Frauen hinter
ihr gerichtet. Seine Stimme stockte vor Schmerz.
»Das ist der Magier, der uns nicht verraten hat«,
murmelte Nachira. »Der Mann, der uns in der Zuflucht gefunden und
uns zurückgelassen hat, ohne den anderen davon zu erzählen.«
Entsetzen stieg in Stara auf. Warum hatte sie von
allen Eindringlingen gerade den einzigen niedergeschlagen, der
Barmherzigkeit und Mitgefühl gezeigt hatte?
»Aber eine Frau habe ich nicht dort gesehen«, fügte
Nachira hinzu.
Als Stara an dem jungen Mann vorbeischaute,
bemerkte sie eine Frau, die mit geschlossenen Augen auf der Seite
lag. Sie haben sich nicht verteidigt. Vielleicht hatten sie
keine Macht mehr zur Verfügung. Es war unmöglich zu erkennen,
ob die Frau bewusstlos oder tot war. Sie verzog das Gesicht.
Seufzend wandte sie sich ab.
»Lasst uns von hier verschwinden«, sagte sie, schob
alle Zweifel beiseite und machte sich auf den Weg die Straße
hinunter. Als sie die Stadt ihrer Geburt verließ, blickte sie nicht
zurück. Stattdessen hob sie die Kartenröhre, sodass sie auf einer
Schulter zu liegen kam, und konzentrierte sich auf ihren Traum von
einer Zuflucht für Frauen, die alle gleichberechtigt und frei
waren. Und die Frauen, mit denen sie sich hier angefreundet hatte
und die ihre Führung annahmen, folgten ihr.
Baumreihen, die von Beeten blühender Pflanzen
umgeben waren, säumten die breite Straße zum Kaiserpalast. Sobald
die Armee diese Durchgangsstraße erreicht hatte, hatten die
Angriffe aufgehört. Dakon bezweifelte, dass die einheimischen
Magier sich zurückhielten, weil sie das Straßenbild nicht ruinieren
wollten. Höchstwahrscheinlich begaben sie sich eilends zu einer
letzten Verteidigungslinie an den Palasttoren, um dort
weiterzukämpfen.
Er blickte abermals über seine Schulter und suchte
nach der Stelle, wo sie auf diese Prachtstraße eingebogen waren. Er
fand sie und hielt Ausschau nach Bewegung.
»Macht Euch keine Sorgen um sie«, sagte Narvelan.
»Die beiden sind klug. Sie werden sich versteckt halten, bis wir
zurückkehren und sie holen können.«
Falls sie noch leben, fügte Dakon im Stillen
hinzu. Er seufzte und wandte sich wieder nach vorne. Aber wenn
sie nicht mehr leben... Mein Verstand weiß, dass Narvelan
recht hat, aber mein Herz sagt etwas anderes.
»Ich sollte zurückkehren«, bemerkte er zum
hundersten Mal.
»Ihr würdet sterben«, erwiderte Narvelan. »Was
ihnen nicht das Geringste nutzen würde.«
»Ich könnte gehen«, meldete sich eine andere Stimme
zu Wort.
Dakon und Narvelan drehten sich zu Mikken um, der
links neben Dakon ritt.
»Nein«, sagten die beiden Magier wie aus einem
Mund.
»Wenn es dunkel wird«, erklärte der Meisterschüler.
»Ich werde mich im Schatten halten. Es spielt keine so große Rolle,
wenn ich sterbe - und ich hätte bei Jayan bleiben müssen...«
»Nein«, wiederholte Narvelan. »Du bist Jayan lebend
von größerem Nutzen. Wenn jemand sich bei Nacht zurückschleicht,
dann werden wir alle es sein, und dazu noch einige weitere Männer
als zusätzlicher Schutz.«
Mikkens Schultern sackten herab, und er
nickte.
Sie näherten sich jetzt dem Palast. Als Dakon zu
dem Gebäude emporblickte, sah er, dass es eine größere, prächtigere
Version der Villen war, die sie bisher gesehen hatten. Die Mauern
waren verputzt, weiß gestrichen, aber weit dicker und höher;
darüber erhoben sich hie und da von Kuppeln überwölbte Türme.
Als die Armee sich den Toren näherte, nahmen die
Magier ohne ein Wort ihre Kampfpositionen ein. Aus dem Gebäude
drang kein Laut. Niemand trat vor, um sich ihnen
entgegenzustellen.
Sie hörten ein gedämpftes Klirren, dann schwangen
die Tore auf.
»Der Kaiser lädt Euch ein, den Palast zu betreten«,
rief eine Stimme.
Dakon hörte zu, während der König, Sabin und der
Dem die verschiedenen Möglichkeiten erörterten. »Wir sollten hier
draußen bleiben und warten, bis jemand herauskommt«, sagte Sabin.
»Wir könnten auch alle hineingehen. Oder einige von uns könnten mit
einem Blutjuwelenring hineingehen und uns mitteilen, ob der Weg
sicher ist.«
Er drehte sich um, auf der Suche nach einem
Freiwilligen.
»Ich werde gehen«, erklärte Narvelan. »Ich habe
ohnehin bereits einen Ring.«
Dakon beobachtete den Magier, wie er zu den Toren
hinaufging und im Palast verschwand. Lange, schweigsame Minuten
verstrichen. Dann lachte Sabin plötzlich leise.
»Der Weg ist frei. Er hat die Gedanken einiger
Menschen gelesen. Der Kaiser hat befohlen, uns keine Falle zu
stellen.« Er drehte sich zu den Dienern und den Wagen um. »Trotzdem
denke ich, die Hälfte von uns sollte draußen bleiben, um die Diener
zu schützen, und sich für einen Kampf bereithalten, falls dies hier
sich zu einer Schlacht entwickeln sollte.«
Weitere Zeit verstrich, während die notwendigen
Vorkehrungen getroffen wurden. Endlich waren sie bereit. Sabin gab
den Befehl, und Dakon betrat mit vierzig anderen Magiern den
Kaiserpalast von Sachaka.