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Tessia schlüpfte durch die Vordertür von
Lord Dakons Haus in die hell erleuchtete Empfangshalle. In letzter
Zeit bestand der Magier darauf, dass sie den Haupteingang benutzte,
wobei er darauf hinwies, dass er und Jayan ihn ebenfalls benutzten
und dass die Dorfbewohner denken würden, er behandele sie nicht
ihrem neuen Rang entsprechend, wenn sie weiter den
Dienstboteneingang benutzte. In diesem Teil des Hauses war alles
viel eleganter. Eine Treppe, so breit, dass zwei oder drei Menschen
nebeneinander gehen konnten, führte in den nächsten Stock hinauf.
Breite Öffnungen zu beiden Seiten lockten Besucher in Nebenflure,
von denen aus sie Zugang zum Speisezimmer und zu einem
repräsentativen Wohnraum hatten.
Als Tessia die Tür schloss, kam Keron gerade aus
einem der Flure, lächelte sie an, nickte höflich und zog sich dann
wieder zurück. Tessia ging zur Treppe hinüber.
Oben hielt sie inne. Dakon hatte ihr den Vorschlag
gemacht, ihr letztes Abendessen vor ihrer Abreise aus Mandryn mit
ihren Eltern einzunehmen. Die beiden hatten ihre Aufregung über die
bevorstehende Reise auf die jeweils für sie typische Art und Weise
bekundet - ihre Mutter war in Entzückungsrufe ausgebrochen, und ihr
Vater hatte ihr leise Ratschläge erteilt, wie man sich in der Stadt
benahm. Es war schön gewesen, aber auch anstrengend. Sie fühlte
sich versucht, sich in ihr Zimmer hinaufzustehlen und zu Bett zu
gehen.
Aus der Tür der Bibliothek strömte Licht, und
Stimmen drangen an ihre Ohren. Statt sich auf den Weg zu ihrem
Zimmer zu machen, schlenderte Tessia auf die Tür zu. Trotz ihrer
Müdigkeit bezweifelte sie, dass sie einschlafen würde.
Wahrscheinlich würde sie wach liegen, so wie sie es während der
beiden letzten Nächte getan hatte, und an die vor ihr liegende
Reise denken und daran, was in der Stadt vielleicht geschehen
würde. Außerdem hatte Dakon vielleicht letzte Anweisungen für
sie.
Als sie in die Tür trat, blickten Dakon und Jayan
auf. Beide Männer hielten Bücher in der Hand, aber da sie zuvor
Stimmen gehört hatte, vermutete sie, dass die beiden ihre Lektüre
unterbrochen hatten, um miteinander zu reden. Der Magier lächelte,
aber auf Jayans Stirn erschien eine Falte, die sich alsbald wieder
glättete.
»Ah, Tessia«, sagte Dakon. »Wie war der Abend bei
deinen Eltern?«
»Schön, Lord Dakon. Sie hatten viele Ratschläge für
mich.« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher, wie
nützlich sie sein werden, selbst wenn sie in der besten Absicht
erteilt wurden.«
Er kicherte. »Davon bin ich überzeugt. Deine Mutter
war nie in Imardin, nicht wahr?«
»Nein. Vater war dort, aber das ist schon mehr als
zehn Jahre her. Das scheint ihm jetzt zu schaffen zu machen. Ich
fürchte, Ihr habt ihn da auf eine Idee gebracht.«
»Hm. Vielleicht hätte ich ihn einladen sollen, sich
uns anzuschließen. Ich nehme an, dafür ist es jetzt zu spät.«
Sie hielt den Atem an. Es wäre wunderbar gewesen,
mit ihrem Vater nach Imardin zu reisen. Es hätte ihm Spaß gemacht,
davon war sie überzeugt. Aber es war sehr wahrscheinlich, dass er
die Möglichkeit abgelehnt hätte, weil der Heiler das Dorf nicht
alleinlassen wollte.
Ein kurzes Schweigen folgte. Sie überlegte, was sie
sagen konnte. »Muss sonst noch etwas getan werden, bevor wir morgen
früh aufbrechen?«
Dakon schüttelte den Kopf, aber als er sie ansah,
wurde seine Miene nachdenklich. »Eine Sache wäre da noch.« Er hielt
inne. »Jetzt, da du die Kontrolle über deine Macht gewonnen hast,
wird es Zeit, dass wir mit dem Ritual höherer Magie
beginnen.«
Tessia blinzelte, dann stiegen prickelnde Aufregung
und Furcht in ihr auf. »Heute Abend?« Ihr Herzschlag beschleunigte
sich. »Jetzt?«
»Ja.«
»Nun denn.« Sie trat in den Raum. »Wie...
funktioniert es?«
»Vielleicht wäre es einfacher, es ihr zu zeigen«,
schlug Jayan vor. Tessia zuckte überrascht zusammen. Sie hatte
beinahe vergessen, dass er ebenfalls im Raum war.
Dakon drehte sich zu dem Meisterschüler um. Die
beiden tauschten einen undeutbaren Blick, dann nickte Dakon
langsam. »Ja, das wäre möglich.«
Er erhob sich von seinem Platz und trat zwischen
die Sessel.
Jayan legte sein Buch beiseite, gähnte und stand auf. Er lächelte
schwach, dann legte sich ein Ausdruck, den sie noch nie zuvor
gesehen hatte, auf sein Gesicht. Er wirkte älter und würdevoller.
Schließlich trat er vor Dakon und senkte den Blick. Dann kniete er
nieder und hob die Hände auf die Höhe seines Kopfes.
Ein Schauder überlief Tessia. Jayan war nicht mehr
nur ein hochmütiger junger Mann, sondern ein unterwürfiger,
gehorsamer Meisterschüler. Dakon war nicht länger der gütige Lord
des Lehens und des Dorfes, sondern der Meistermagier. Dies ist
die Welt der Magier, die gewöhnliche Menschen nicht zu sehen
bekommen, ging es ihr durch den Kopf. Eine Welt, die sie bisher
für sich behalten hatten. Eine Welt, von der sie ein Teil war. Der
Gedanke erschien ihr unwirklich. Unglaublich. Aber vielleicht würde
sie, nachdem sie an dem Ritual teilgenommen hat, ein wenig mehr das
Gefühl haben, in diese Welt zu gehören.
Dakon griff in sein Hemd und zog etwas Kleines,
Schmales daraus hervor. Als er es auseinanderschob, begriff Tessia,
dass es sich um eine winzige Klinge handelte. Dakon berührte die
Innenflächen von Jayans Händen kurz mit der Messerspitze. Wenn es
wehtat, wusste Jayan den Schmerz gut zu verbergen. Dann steckte der
Magier das Messer wieder ein, legte seine Hände auf die Jayans und
schloss die Augen.
Tessia hielt den Atem an. Ihr Herz schlug immer
noch sehr schnell. Einen Moment später hob Dakon die Hände,
lächelte und murmelte etwas. Der Ritus war vorüber.
Das war es, dachte sie. Nein, natürlich
ist das nicht alles. Wenn es um Magie geht, steckt immer viel mehr
dahinter.
Jayan stand auf, klopfte sich versonnen mit dem
Handrücken die Knie seiner Hose ab, dann zog er ein Tuch aus seiner
Kleidung hervor und wischte sich die Hände ab. Er schaute sie an
und zuckte die Achseln. »Siehst du? Es ist nichts dabei.«
Nichts, das man mit bloßem Auge sehen
könnte, dachte sie ironisch. Aber es war beruhigend zu sehen,
dass er das Ritual wohlgemut überstanden hatte. Sie unterdrückte
ein plötzliches Widerstreben, schluckte ihre Nervosität hinunter
und
trat vor. Jayan machte ihr Platz, und Dakon schenkte ihr sein
gewohntes, ermutigendes Lächeln. Sie stellte sich vor ihn hin und
schaute hoch, dann wandte sie den Blick wieder ab, als ihr klar
wurde, dass es, je länger sie den nächsten Teil hinauszögerte, umso
unangenehmer werden würde. Hastig ließ sie sich auf die Knie
nieder, hob die Hände, hielt den Blick gesenkt und versuchte, sich
nicht vorzustellen, dass sie genauso unterwürfig wirkte, wie Jayan
es getan hatte.
Unterwürfig und doch respektvoll, ging es
ihr plötzlich durch den Kopf. Ich nehme an, dem Ritus wohnt eine
gewisse Würde inne. Ich frage mich, wie die Sachakaner es tun.
Wahrscheinlich haben sie überhaupt kein Ritual. Sie entreißen ihren
Sklaven einfach nur die Macht, wann immer sie es wollen. Also ist
es etwas Gutes, dass es für alle kyralischen Magier ein Ritual
gibt. Ein Zeichen von Respekt den Meisterschülern
gegenüber...
Sie spürte ein Brennen in einer Handfläche und
widerstand dem Drang aufzublicken. Der zweite kurze Stich kam. Dann
lagen Dakons Hände auf ihren.
Als Nächstes stellte sich ein schwaches
Schwindelgefühl ein. Dann war das Gefühl plötzlich nicht mehr so
schwach. Sie spürte, dass sie zur Seite kippte, und versuchte, das
Gleichgewicht zu halten, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Hände
packten sie an den Schultern und stützten sie. Das Gefühl von
Schwäche wurde deutlicher, und als sie sich konzentrierte, spürte
sie, dass ein anderer Wille nach ihrer Macht griff. Obwohl sie
Dakons Präsenz spürte, leistete sie instinktiv Widerstand...
vergeblich. Zum ersten Mal, seit sie die Kontrolle über ihre Macht
gewonnen hatte, entzog sie sich ihrem Willen.
Dann bekam sie abrupt die Kontrolle zurück. In
ihrem Versuch, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, schoss sie über
das Ziel hinaus und drohte in die entgegengesetzte Richtung zu
fallen.
»Keine Bange. Du wirst noch lernen, wie du
verhindern kannst umzufallen.«
Die Stimme gehörte Jayan und erklang hinter ihr. Er
war es, der sie stützte. Plötzlich wollte sie nur wieder auf den
Beinen sein und alles andere tun, als auf dem Boden zu knien und
sich darauf zu verlassen, dass Jayan sie aufrecht hielt. Sie
entschlüpfte seinem Griff, stand auf und streckte die Hand nach
einem Sessel aus, als eine Woge des Schwindels sie überfiel.
»Langsam«, meinte Dakon. »Du hast deine Sache gut
gemacht, aber es kann ein Schock für den Körper sein, bis er sich
daran gewöhnt.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Es hat also
funktioniert? Ich habe nichts falsch gemacht?«
Er lächelte. »Nein. Es hat funktioniert. Wie Jayan
sagte, dein Körper wird lernen, wie er sich selbst stützen kann.
Auch dein Geist wird sich daran gewöhnen. Wie fühlst du
dich?«
Sie zuckte die Achseln. »Gut. Es war interessant.
Erträglich.« Sie sah Jayan an, der sie mit einem schwachen Lächeln
beobachtete. »Ich werde schon zurechtkommen.«
Dakon griff abermals in seine Jacke, aber diesmal
holte er ein kleines weißes Tuch hervor. Er reichte es ihr. Als sie
es entgegennahm, stellte sie fest, dass sich ein dünner Blutfaden
über ihre Hand erstreckte.
»Irgendwelche Fragen?«, erkundigte er sich
erwartungsvoll.
»Warum ist es notwendig, den Meisterschüler zu
schneiden?«, fragte sie, während sie sich die Hände abwischte und
auf die winzigen Schnitte in jeder Handinnenfläche drückte. Die
Wunden hatten bereits zu bluten aufgehört.
»Die Haut von Menschen und Tieren ist eine Art
Grenze«, erklärte er ihr. »Wir haben über alles innerhalb unserer
Haut die Kontrolle. Das ist der Grund, warum ein Magier nicht in
den Körper eines anderen Menschen hineingreifen und ihn beschädigen
kann, ganz gleich, wie mächtig er oder sie ist. Er kann den Körper
von außen angreifen, aber ihn nicht von innen beeinflussen.« Dakon
kehrte zu seinem Stuhl zurück und setzte sich, und Jayan folgte
seinem Beispiel. »Um Kontrolle zu gewinnen, müssen wir die Barriere
durchbrechen.«
Tessia dachte über diese Information nach, während
sie zu ihrem gewohnten Platz ging. »Hat der Magier, der Macht
nimmt, immer die Kontrolle über das Geschehen? Was passiert, wenn
die Person, die er zu beherrschen versucht, ebenfalls ein höherer
Magier ist?«
»Derjenige, der Macht nimmt, hat nach wie vor eine
undurchbrochene Barriere«, bemerkte Dakon. »Selbst wenn es anders
wäre, könnte er, sobald er Magie aufnimmt, den Spender körperlich
schwächen. Wie sehr, hängt von dem Talent und der Absicht des
Magiers ab, der höhere Magie benutzt. Wenn es ein wohlwollender
Austausch ist, so wenig wie möglich. Wenn der Austausch böswillig
ist, kann der höhere Magier sein Opfer lähmen und es ihm schwer
machen, auch nur zu denken.«
Tessia schauderte. Das Ritual höherer Magie war so
simpel, aber es war eine gezähmte Version eines Aktes der Gewalt
und des Todes. Ebenso gut könnte man Meisterschüler bitten,
regelmäßig die entblößte Kehle dem frisch geschärften Schwert des
Meisters darzubieten, voller Vertrauen, dass sie nicht
aufgeschlitzt werden würde.
Aber kein Schwert nahm seinen Opfern Kraft. Kein
Schwert, selbst wenn es sanft benutzt wurde, konnte seinem Besitzer
solchen Lohn eintragen, wie die höhere Magie es vermochte. Das
Ritual war außerdem ein Austausch von Macht, von Vertrauen und
Respekt. Im Gegenzug lernten Meisterschüler, Magie zu benutzen. Sie
bekamen eine jahrelange Ausbildung und gewannen Kenntnisse, die sie
anderenfalls aus Experimenten hätten beziehen müssen. Außerdem
hatten sie, während sie lernten, ausreichend Nahrung und ein Dach
über dem Kopf, ebenso wie schöne Kleider... und gelegentliche
Besuche in Imardin, wo sie mit den Mächtigen und den
Einflussreichen verkehrten. Vielleicht sogar mit dem König.
Plötzlich kam es ihr nicht mehr so vor, als bekäme
Dakon im Gegenzug für seine Zeit und Energie allzu viel von ihr.
Nur Magie. Wenn er diese zusätzliche Magie nicht aus einem
bestimmten Grund benötigte, könnte man den Eindruck gewinnen, als
lohne es den Aufwand und die Zeit nicht. Kein Wunder, dass einige
Magier es vorzogen, keinen Meisterschüler anzunehmen.
Aber als die Schnitte in Tessias Händen leise zu
jucken begannen, räumte sie ein wenig kläglich ein, dass es Zeiten
geben würde, in denen sie ihm als Gegenleistung für ihre Ausbildung
eine Menge geben würde, und sie nahm sich vor, sich vor ihrem
Aufbruch ein wenig Wundbalsam zu beschaffen.
Unter dem Licht einer Öllampe und des Halbmondes
rieben Hanara und zwei der jüngeren Stallburschen sorgfältig Fett
in das Leder der Rüstungen oder polierten die Zierleisten von Lord
Dakons Wagen.
Seit er Lord Dakons Angebot, für ihn zu arbeiten,
angenommen hatte und in die Stallquartiere umgezogen war, fühlte
Hanara sich erheblich wohler in seiner Umgebung. Der Umgang mit den
Stalldienern erfüllte ihn jedoch mit einigem Unbehagen. Sie waren
ständig in ein neckisches Geplänkel verstrickt, das kein
sachakanischer Herr gutgeheißen hätte. Hanara wusste nicht, wie er
darauf reagieren sollte, daher beschloss er, so zu tun, als
verstünde er ihren Akzent und ihre Sitten nicht so gut, wie es
wirklich der Fall war. Wann immer sie ihm ihre törichten Streiche
spielten, tat er das Gelächter mit einem Achselzucken ab. Er hatte
weit schlimmere Würdelosigkeiten ertragen, und seine gelangweilte
Duldung ihrer Streiche führte dazu, dass sie ihn auf eine seltsame
Art und Weise respektierten.
Ich war Quellsklave eines Ashaki, rief er
sich ins Gedächtnis. Sie werden niemals begreifen, was das
bedeutet und wie wenige Sklaven diesen Rang erreichen.
Einem von Tausenden gelang es vielleicht. Es war
irgendetwas zwischen dem Leibdiener eines kyralischen Lords und
Meisterschüler. Nur dass er nach wie vor ein Sklave war.
Jetzt war er ein gewöhnlicher Mann, aber er war
frei. Was er gewonnen hatte, war gewiss weit besser als das, was er
verloren hatte.
Wie die anderen Stalldiener erhielt er jede Woche
eine Münze von Lord Dakon - obwohl es Keron, der Haushofmeister,
war, der sie verteilte. Hanara hatte zuerst nicht gewusst, was er
damit anfangen sollte. Die weiblichen Diener aus dem Haupthaus
brachten jeden Morgen und jeden Abend etwas zu essen, daher
brauchte er nichts zu kaufen. Stiefel und Kleider hatte er an dem
Tag bekommen, als er in den Stall gezogen
war. Sie waren wärmer als sein altes Sklavengewand, aber grob im
Vergleich zu dem feinen Tuch, mit dem Takado ihn ausgestattet
hatte. Er schlief auf einer Pritsche oben auf dem Dachboden des
Stalls, dankenswerterweise weit ab von den anderen Arbeitern -
denen es zu gefallen schien, in der Nähe der Pferde zu schlafen -,
daher brauchte er auch nichts für ein Dach über dem Kopf zu
bezahlen.
Indem er die anderen beobachtete, bemerkte Hanara
schließlich, dass die Stalldiener ihren Lohn im Dorf gern für Dinge
ausgaben, die sie nicht wirklich benötigten. Der Bäcker machte
nicht nur Brot, sondern auch süße Leckereien. Die Frau des
Schmiedes verkaufte eingemachte und getrocknete Speisen,
Duftkerzen, Öle und Balsam. Einer der alten Männer schnitzte aus
Holzstücken Instrumente und Gefäße, die man besser aus Metall oder
Ton hergestellt hätte; außerdem fertigte er Spielsteine,
Perlenketten und seltsame kleine Figürchen von Tieren und Menschen
an.
Zuerst begriff Hanara nicht, warum er sein Geld für
solche Dinge verschwenden sollte. Er beobachtete, wie die anderen
Arbeiter ihre Einkäufe miteinander verglichen, wenn sie in die
Ställe zurückkehrten, und er registrierte, ob sie den Gegenstand
behielten oder ihn verschenkten - gewöhnlich an eine der Frauen aus
dem Dorf.
Langsam wuchs in ihm die Erkenntnis, dass der Kauf
solcher Dinge ihm einen Vorwand liefern würde, um mehr über das
Dorf zu erfahren, daher folgte er eines Tages einigen der Arbeiter
bei ihren Ausflügen. Sie bemerkten ihn und bestanden darauf, dass
er sich ihnen anschloss. Es war möglich, dass sie ihn akzeptierten
und ihn in ihre Aktivitäten einbeziehen wollten, andererseits war
es auch möglich, dass sie ihn im Auge behalten wollten. Ihm war
aufgefallen, dass man ihn nie allein ließ. Und manchmal ertappte er
die anderen dabei, dass sie ihn beobachteten.
Die Dorfbewohner begegneten den Stalldienern mit
großer Herzlichkeit, aber wann immer sie Hanara sahen, wirkte ihr
Lächeln plötzlich gezwungen. Sie waren weiterhin freundlich, auch
wenn er etwas kaufte, aber wenn sie sich abwandten, sah
er, dass Furcht, Wachsamkeit oder Abneigung in ihre Züge
trat.
Bei ihrer Rückkehr zum Stall fielen ihm Kinder auf,
die um Häuserecken spähten und ihn anstarrten. Einige liefen weg,
wenn er sie bemerkte. Es war ironisch, dass sie ihn fürchteten, der
einst ein niederer Sklave gewesen war.
Die Stalldiener waren auch an einer Gruppe von vier
jungen Frauen vorbeigekommen, die bei Hanaras Anblick zu tuscheln
begannen und angewidert das Gesicht verzogen. Zwei junge Männer,
die dies sahen, musterten Hanara mit zusammengekniffenen Augen, als
er und seine Gefährten vorbeigingen.
Die Reaktion der Dorfbewohner überraschte Hanara
nicht. Er war ein Fremder. Er stammte aus einem Land, das einst
dieses Volk beherrscht hatte. Er gehörte einer Rasse an, die sie
fürchteten.
Tessia hatte ihn gebeten, es ihrem Vater
mitzuteilen, sollten irgendwelche Dorfbewohner ihm das Leben schwer
machen. Sie hatte ihm versichert, dass es Gesetze und Regeln gab,
die ihn schützten. Bei der Erinnerung an ihre Besuche lächelte er.
Gerade sie fürchtete ihn nicht. Die einzige Person, die ihn
halbwegs verstand, hasste ihn nicht.
Hier in den Ställen war es leicht, den Hochmut
einiger der Dorfbewohner mit Erheiterung zu betrachten. Sie waren
keine Sklaven, aber sie waren auch nicht wirklich frei. Die meisten
von ihnen arbeiteten trotzdem hart. Sie mochten ihren Lohn und ein
gewisses Maß an Freiheit haben, aber sie waren an den Lord
gebunden, dem sie dienten, weil ihm das Land gehörte, das sie
bebauten, und die Häuser, in denen sie lebten. Sie waren seinen
Launen genauso ausgeliefert wie jeder Sklave den Launen seines
Herrn. Es fühlte sich für sie nicht wie Sklaverei an, weil Lord
Dakon ein freundlicher und großzügiger Mann war.
Er hat sogar gefragt, ob ich ihm erlauben würde,
meine Gedanken zu lesen. Und ich glaube, er hatte ein schlechtes
Gewissen deswegen. Wie kann jemand nur so voller Skrupel sein? So
zimperlich? Er hatte sich versucht gefühlt, die Bitte
abzuschlagen, um festzustellen, ob Dakon darauf bestehen oder ob er
sich entschuldigen und fortgehen würde, aber Hanara hatte gewollt,
dass der
Magier von der Gefahr erfuhr. Takado würde zurückkehren, um ihn zu
holen.
Ich denke nicht, dass er es geglaubt hat. Er hat
nach Beweisen gesucht. Ich brauche keine Beweise. Ich kenne
Takado. Was nützt es mir, meine Freiheit von einem Mann bekommen
zu haben, der mich nicht beschützen kann, weil er es nicht glauben
will, wenn ich sage, dass ich in Gefahr bin?
Vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, hätte er
für einen anderen, energischeren Magier gearbeitet. Aber vielleicht
war es auch nicht so. Während Takados Reisen durch Kyralia hatte er
unglückliche, ängstliche Diener beobachtet. Er hatte Geschichten
und Gerüchte gehört. Kyralische Magier konnten grausam sein, und es
gab nicht viel, was ihre Diener dagegen tun konnten.
Nicht alle Ashaki sind so grausam wie
Takado, überlegte er. Einige von ihnen sind natürlich weit
schlimmer. Aber es gibt Geschichten über Ashaki, die ihre Sklaven
gut behandeln.
Takado war ein grausamer Mann, aber seine
Grausamkeit hatte meist einen Grund. Er verletzte oder tötete einen
Sklaven nur, wenn dieser Sklave versagt oder ihn irgendwie
beleidigt hatte. Die Strafe entsprach im Allgemeinen dem
Verbrechen. Er hatte nie davon gehört, dass Takado einen Sklaven
nur zu seiner Unterhaltung ein Leid angetan hätte, obwohl solche
Geschehnisse unter anderen Ashaki keineswegs ungewöhnlich
waren.
Hanara rutschte auf seinem Stuhl hin und her; jähes
Unbehagen überfiel ihn - wie jede Nacht, seit er von Kopf bis Fuß
bandagiert im Herrenhaus aufgewacht war.
Er verstand nicht, warum Takado ihn so unbarmherzig
geschlagen hatte, obwohl sein Fehler nur so geringfügig gewesen
war. Wenn Takado nicht ohne Grund grausam ist, dann habe ich den
Grund nur noch nicht erkannt. Aber wenn Hanara eine so grimmige
Strafe nicht verdient hatte, welchen anderen Grund könnte Takado
dann gehabt haben, ihn zu schlagen? Hatte er versucht, Lord Dakon
zu beeindrucken? War es seine Absicht gewesen, Hanara so sehr zu
verletzen, dass er ihn nicht nach Hause begleiten konnte?
Welchen Nutzen konnte Hanara für seinen Herrn
haben, solange er hier in Kyralia festsaß? Die offenkundigste
Antwort war die, dass er Lord Dakon ausspionieren sollte. Warum
ausgerechnet Lord Dakon und nicht einen der mächtigeren Magier -
das konnte Hanara nicht erraten.
Und wie soll ich ihn ausspionieren, wenn ich
hier draußen in den Ställen bin und er sich immer im Herrenhaus
aufhält? Wenn ich mich drinnen herumtreibe, wird das nur Argwohn
erregen. Und die Leute begegnen mir ohnehin bereits mit
Argwohn.
Außerdem würde Dakon bald fort sein. Wie konnte er
den Magier ausspionieren, wenn er nicht hier war?
Wie konnte Lord Dakon Hanara beschützen, wenn er
nicht hier war? Hanaras Herz begann zu rasen, wie es das getan
hatte, als er zum ersten Mal gehört hatte, dass der Magier nach
Imardin reisen würde.
Kann ich Lord Dakon überreden, mich
mitzunehmen?
Er schüttelte den Kopf und seufzte. Lord Dakon war
freundlich und großzügig gewesen, aber Hanara wusste, dass der Mann
kein vollkommener Narr war. Die Stadt, wo Hanara etwas Nützliches
hätte erfahren können, war der letzte Ort, an den er einen
möglichen Spion mitnehmen würde. Er würde Hanara hierlassen, wo
seine eigenen Leute ihn beobachteten, wo er keinen Schaden
anrichten konnte.
Ich bin kein Spion. Ich habe Takado nichts zu
erzählen. Schon bald werde ich nicht einmal mehr wissen, wo Lord
Dakon sich aufhält.
Aber noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht
hatte, wurde ihm klar, dass er sich irrte. Er wusste, wo Lord Dakon
nicht sein würde. Er wusste auch, dass ein Magier, der in
der Nähe lebte, das Dorf im Falle einer Bedrohung schützen würde.
Takado konnte diese Information aus seinen Gedanken holen, das
wusste er, aber vorher musste er Hanara in die Hände bekommen. Für
den Augenblick konnte er nur hoffen, dass die Vorkehrungen, die
Lord Dakon getroffen hatte, ihren Zweck erfüllen würden.