012
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Tessia schlüpfte durch die Vordertür von Lord Dakons Haus in die hell erleuchtete Empfangshalle. In letzter Zeit bestand der Magier darauf, dass sie den Haupteingang benutzte, wobei er darauf hinwies, dass er und Jayan ihn ebenfalls benutzten und dass die Dorfbewohner denken würden, er behandele sie nicht ihrem neuen Rang entsprechend, wenn sie weiter den Dienstboteneingang benutzte. In diesem Teil des Hauses war alles viel eleganter. Eine Treppe, so breit, dass zwei oder drei Menschen nebeneinander gehen konnten, führte in den nächsten Stock hinauf. Breite Öffnungen zu beiden Seiten lockten Besucher in Nebenflure, von denen aus sie Zugang zum Speisezimmer und zu einem repräsentativen Wohnraum hatten.
Als Tessia die Tür schloss, kam Keron gerade aus einem der Flure, lächelte sie an, nickte höflich und zog sich dann wieder zurück. Tessia ging zur Treppe hinüber.
Oben hielt sie inne. Dakon hatte ihr den Vorschlag gemacht, ihr letztes Abendessen vor ihrer Abreise aus Mandryn mit ihren Eltern einzunehmen. Die beiden hatten ihre Aufregung über die bevorstehende Reise auf die jeweils für sie typische Art und Weise bekundet - ihre Mutter war in Entzückungsrufe ausgebrochen, und ihr Vater hatte ihr leise Ratschläge erteilt, wie man sich in der Stadt benahm. Es war schön gewesen, aber auch anstrengend. Sie fühlte sich versucht, sich in ihr Zimmer hinaufzustehlen und zu Bett zu gehen.
Aus der Tür der Bibliothek strömte Licht, und Stimmen drangen an ihre Ohren. Statt sich auf den Weg zu ihrem Zimmer zu machen, schlenderte Tessia auf die Tür zu. Trotz ihrer Müdigkeit bezweifelte sie, dass sie einschlafen würde. Wahrscheinlich würde sie wach liegen, so wie sie es während der beiden letzten Nächte getan hatte, und an die vor ihr liegende Reise denken und daran, was in der Stadt vielleicht geschehen würde. Außerdem hatte Dakon vielleicht letzte Anweisungen für sie.
Als sie in die Tür trat, blickten Dakon und Jayan auf. Beide Männer hielten Bücher in der Hand, aber da sie zuvor Stimmen gehört hatte, vermutete sie, dass die beiden ihre Lektüre unterbrochen hatten, um miteinander zu reden. Der Magier lächelte, aber auf Jayans Stirn erschien eine Falte, die sich alsbald wieder glättete.
»Ah, Tessia«, sagte Dakon. »Wie war der Abend bei deinen Eltern?«
»Schön, Lord Dakon. Sie hatten viele Ratschläge für mich.« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher, wie nützlich sie sein werden, selbst wenn sie in der besten Absicht erteilt wurden.«
Er kicherte. »Davon bin ich überzeugt. Deine Mutter war nie in Imardin, nicht wahr?«
»Nein. Vater war dort, aber das ist schon mehr als zehn Jahre her. Das scheint ihm jetzt zu schaffen zu machen. Ich fürchte, Ihr habt ihn da auf eine Idee gebracht.«
»Hm. Vielleicht hätte ich ihn einladen sollen, sich uns anzuschließen. Ich nehme an, dafür ist es jetzt zu spät.«
Sie hielt den Atem an. Es wäre wunderbar gewesen, mit ihrem Vater nach Imardin zu reisen. Es hätte ihm Spaß gemacht, davon war sie überzeugt. Aber es war sehr wahrscheinlich, dass er die Möglichkeit abgelehnt hätte, weil der Heiler das Dorf nicht alleinlassen wollte.
Ein kurzes Schweigen folgte. Sie überlegte, was sie sagen konnte. »Muss sonst noch etwas getan werden, bevor wir morgen früh aufbrechen?«
Dakon schüttelte den Kopf, aber als er sie ansah, wurde seine Miene nachdenklich. »Eine Sache wäre da noch.« Er hielt inne. »Jetzt, da du die Kontrolle über deine Macht gewonnen hast, wird es Zeit, dass wir mit dem Ritual höherer Magie beginnen.«
Tessia blinzelte, dann stiegen prickelnde Aufregung und Furcht in ihr auf. »Heute Abend?« Ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Jetzt?«
»Ja.«
»Nun denn.« Sie trat in den Raum. »Wie... funktioniert es?«
»Vielleicht wäre es einfacher, es ihr zu zeigen«, schlug Jayan vor. Tessia zuckte überrascht zusammen. Sie hatte beinahe vergessen, dass er ebenfalls im Raum war.
Dakon drehte sich zu dem Meisterschüler um. Die beiden tauschten einen undeutbaren Blick, dann nickte Dakon langsam. »Ja, das wäre möglich.«
Er erhob sich von seinem Platz und trat zwischen die Sessel. Jayan legte sein Buch beiseite, gähnte und stand auf. Er lächelte schwach, dann legte sich ein Ausdruck, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, auf sein Gesicht. Er wirkte älter und würdevoller. Schließlich trat er vor Dakon und senkte den Blick. Dann kniete er nieder und hob die Hände auf die Höhe seines Kopfes.
Ein Schauder überlief Tessia. Jayan war nicht mehr nur ein hochmütiger junger Mann, sondern ein unterwürfiger, gehorsamer Meisterschüler. Dakon war nicht länger der gütige Lord des Lehens und des Dorfes, sondern der Meistermagier. Dies ist die Welt der Magier, die gewöhnliche Menschen nicht zu sehen bekommen, ging es ihr durch den Kopf. Eine Welt, die sie bisher für sich behalten hatten. Eine Welt, von der sie ein Teil war. Der Gedanke erschien ihr unwirklich. Unglaublich. Aber vielleicht würde sie, nachdem sie an dem Ritual teilgenommen hat, ein wenig mehr das Gefühl haben, in diese Welt zu gehören.
Dakon griff in sein Hemd und zog etwas Kleines, Schmales daraus hervor. Als er es auseinanderschob, begriff Tessia, dass es sich um eine winzige Klinge handelte. Dakon berührte die Innenflächen von Jayans Händen kurz mit der Messerspitze. Wenn es wehtat, wusste Jayan den Schmerz gut zu verbergen. Dann steckte der Magier das Messer wieder ein, legte seine Hände auf die Jayans und schloss die Augen.
Tessia hielt den Atem an. Ihr Herz schlug immer noch sehr schnell. Einen Moment später hob Dakon die Hände, lächelte und murmelte etwas. Der Ritus war vorüber.
Das war es, dachte sie. Nein, natürlich ist das nicht alles. Wenn es um Magie geht, steckt immer viel mehr dahinter.
Jayan stand auf, klopfte sich versonnen mit dem Handrücken die Knie seiner Hose ab, dann zog er ein Tuch aus seiner Kleidung hervor und wischte sich die Hände ab. Er schaute sie an und zuckte die Achseln. »Siehst du? Es ist nichts dabei.«
Nichts, das man mit bloßem Auge sehen könnte, dachte sie ironisch. Aber es war beruhigend zu sehen, dass er das Ritual wohlgemut überstanden hatte. Sie unterdrückte ein plötzliches Widerstreben, schluckte ihre Nervosität hinunter und trat vor. Jayan machte ihr Platz, und Dakon schenkte ihr sein gewohntes, ermutigendes Lächeln. Sie stellte sich vor ihn hin und schaute hoch, dann wandte sie den Blick wieder ab, als ihr klar wurde, dass es, je länger sie den nächsten Teil hinauszögerte, umso unangenehmer werden würde. Hastig ließ sie sich auf die Knie nieder, hob die Hände, hielt den Blick gesenkt und versuchte, sich nicht vorzustellen, dass sie genauso unterwürfig wirkte, wie Jayan es getan hatte.
Unterwürfig und doch respektvoll, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Ich nehme an, dem Ritus wohnt eine gewisse Würde inne. Ich frage mich, wie die Sachakaner es tun. Wahrscheinlich haben sie überhaupt kein Ritual. Sie entreißen ihren Sklaven einfach nur die Macht, wann immer sie es wollen. Also ist es etwas Gutes, dass es für alle kyralischen Magier ein Ritual gibt. Ein Zeichen von Respekt den Meisterschülern gegenüber...
Sie spürte ein Brennen in einer Handfläche und widerstand dem Drang aufzublicken. Der zweite kurze Stich kam. Dann lagen Dakons Hände auf ihren.
Als Nächstes stellte sich ein schwaches Schwindelgefühl ein. Dann war das Gefühl plötzlich nicht mehr so schwach. Sie spürte, dass sie zur Seite kippte, und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Hände packten sie an den Schultern und stützten sie. Das Gefühl von Schwäche wurde deutlicher, und als sie sich konzentrierte, spürte sie, dass ein anderer Wille nach ihrer Macht griff. Obwohl sie Dakons Präsenz spürte, leistete sie instinktiv Widerstand... vergeblich. Zum ersten Mal, seit sie die Kontrolle über ihre Macht gewonnen hatte, entzog sie sich ihrem Willen.
Dann bekam sie abrupt die Kontrolle zurück. In ihrem Versuch, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, schoss sie über das Ziel hinaus und drohte in die entgegengesetzte Richtung zu fallen.
»Keine Bange. Du wirst noch lernen, wie du verhindern kannst umzufallen.«
Die Stimme gehörte Jayan und erklang hinter ihr. Er war es, der sie stützte. Plötzlich wollte sie nur wieder auf den Beinen sein und alles andere tun, als auf dem Boden zu knien und sich darauf zu verlassen, dass Jayan sie aufrecht hielt. Sie entschlüpfte seinem Griff, stand auf und streckte die Hand nach einem Sessel aus, als eine Woge des Schwindels sie überfiel.
»Langsam«, meinte Dakon. »Du hast deine Sache gut gemacht, aber es kann ein Schock für den Körper sein, bis er sich daran gewöhnt.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Es hat also funktioniert? Ich habe nichts falsch gemacht?«
Er lächelte. »Nein. Es hat funktioniert. Wie Jayan sagte, dein Körper wird lernen, wie er sich selbst stützen kann. Auch dein Geist wird sich daran gewöhnen. Wie fühlst du dich?«
Sie zuckte die Achseln. »Gut. Es war interessant. Erträglich.« Sie sah Jayan an, der sie mit einem schwachen Lächeln beobachtete. »Ich werde schon zurechtkommen.«
Dakon griff abermals in seine Jacke, aber diesmal holte er ein kleines weißes Tuch hervor. Er reichte es ihr. Als sie es entgegennahm, stellte sie fest, dass sich ein dünner Blutfaden über ihre Hand erstreckte.
»Irgendwelche Fragen?«, erkundigte er sich erwartungsvoll.
»Warum ist es notwendig, den Meisterschüler zu schneiden?«, fragte sie, während sie sich die Hände abwischte und auf die winzigen Schnitte in jeder Handinnenfläche drückte. Die Wunden hatten bereits zu bluten aufgehört.
»Die Haut von Menschen und Tieren ist eine Art Grenze«, erklärte er ihr. »Wir haben über alles innerhalb unserer Haut die Kontrolle. Das ist der Grund, warum ein Magier nicht in den Körper eines anderen Menschen hineingreifen und ihn beschädigen kann, ganz gleich, wie mächtig er oder sie ist. Er kann den Körper von außen angreifen, aber ihn nicht von innen beeinflussen.« Dakon kehrte zu seinem Stuhl zurück und setzte sich, und Jayan folgte seinem Beispiel. »Um Kontrolle zu gewinnen, müssen wir die Barriere durchbrechen.«
Tessia dachte über diese Information nach, während sie zu ihrem gewohnten Platz ging. »Hat der Magier, der Macht nimmt, immer die Kontrolle über das Geschehen? Was passiert, wenn die Person, die er zu beherrschen versucht, ebenfalls ein höherer Magier ist?«
»Derjenige, der Macht nimmt, hat nach wie vor eine undurchbrochene Barriere«, bemerkte Dakon. »Selbst wenn es anders wäre, könnte er, sobald er Magie aufnimmt, den Spender körperlich schwächen. Wie sehr, hängt von dem Talent und der Absicht des Magiers ab, der höhere Magie benutzt. Wenn es ein wohlwollender Austausch ist, so wenig wie möglich. Wenn der Austausch böswillig ist, kann der höhere Magier sein Opfer lähmen und es ihm schwer machen, auch nur zu denken.«
Tessia schauderte. Das Ritual höherer Magie war so simpel, aber es war eine gezähmte Version eines Aktes der Gewalt und des Todes. Ebenso gut könnte man Meisterschüler bitten, regelmäßig die entblößte Kehle dem frisch geschärften Schwert des Meisters darzubieten, voller Vertrauen, dass sie nicht aufgeschlitzt werden würde.
Aber kein Schwert nahm seinen Opfern Kraft. Kein Schwert, selbst wenn es sanft benutzt wurde, konnte seinem Besitzer solchen Lohn eintragen, wie die höhere Magie es vermochte. Das Ritual war außerdem ein Austausch von Macht, von Vertrauen und Respekt. Im Gegenzug lernten Meisterschüler, Magie zu benutzen. Sie bekamen eine jahrelange Ausbildung und gewannen Kenntnisse, die sie anderenfalls aus Experimenten hätten beziehen müssen. Außerdem hatten sie, während sie lernten, ausreichend Nahrung und ein Dach über dem Kopf, ebenso wie schöne Kleider... und gelegentliche Besuche in Imardin, wo sie mit den Mächtigen und den Einflussreichen verkehrten. Vielleicht sogar mit dem König.
Plötzlich kam es ihr nicht mehr so vor, als bekäme Dakon im Gegenzug für seine Zeit und Energie allzu viel von ihr. Nur Magie. Wenn er diese zusätzliche Magie nicht aus einem bestimmten Grund benötigte, könnte man den Eindruck gewinnen, als lohne es den Aufwand und die Zeit nicht. Kein Wunder, dass einige Magier es vorzogen, keinen Meisterschüler anzunehmen.
Aber als die Schnitte in Tessias Händen leise zu jucken begannen, räumte sie ein wenig kläglich ein, dass es Zeiten geben würde, in denen sie ihm als Gegenleistung für ihre Ausbildung eine Menge geben würde, und sie nahm sich vor, sich vor ihrem Aufbruch ein wenig Wundbalsam zu beschaffen.
 
Unter dem Licht einer Öllampe und des Halbmondes rieben Hanara und zwei der jüngeren Stallburschen sorgfältig Fett in das Leder der Rüstungen oder polierten die Zierleisten von Lord Dakons Wagen.
Seit er Lord Dakons Angebot, für ihn zu arbeiten, angenommen hatte und in die Stallquartiere umgezogen war, fühlte Hanara sich erheblich wohler in seiner Umgebung. Der Umgang mit den Stalldienern erfüllte ihn jedoch mit einigem Unbehagen. Sie waren ständig in ein neckisches Geplänkel verstrickt, das kein sachakanischer Herr gutgeheißen hätte. Hanara wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, daher beschloss er, so zu tun, als verstünde er ihren Akzent und ihre Sitten nicht so gut, wie es wirklich der Fall war. Wann immer sie ihm ihre törichten Streiche spielten, tat er das Gelächter mit einem Achselzucken ab. Er hatte weit schlimmere Würdelosigkeiten ertragen, und seine gelangweilte Duldung ihrer Streiche führte dazu, dass sie ihn auf eine seltsame Art und Weise respektierten.
Ich war Quellsklave eines Ashaki, rief er sich ins Gedächtnis. Sie werden niemals begreifen, was das bedeutet und wie wenige Sklaven diesen Rang erreichen.
Einem von Tausenden gelang es vielleicht. Es war irgendetwas zwischen dem Leibdiener eines kyralischen Lords und Meisterschüler. Nur dass er nach wie vor ein Sklave war.
Jetzt war er ein gewöhnlicher Mann, aber er war frei. Was er gewonnen hatte, war gewiss weit besser als das, was er verloren hatte.
Wie die anderen Stalldiener erhielt er jede Woche eine Münze von Lord Dakon - obwohl es Keron, der Haushofmeister, war, der sie verteilte. Hanara hatte zuerst nicht gewusst, was er damit anfangen sollte. Die weiblichen Diener aus dem Haupthaus brachten jeden Morgen und jeden Abend etwas zu essen, daher brauchte er nichts zu kaufen. Stiefel und Kleider hatte er an dem Tag bekommen, als er in den Stall gezogen war. Sie waren wärmer als sein altes Sklavengewand, aber grob im Vergleich zu dem feinen Tuch, mit dem Takado ihn ausgestattet hatte. Er schlief auf einer Pritsche oben auf dem Dachboden des Stalls, dankenswerterweise weit ab von den anderen Arbeitern - denen es zu gefallen schien, in der Nähe der Pferde zu schlafen -, daher brauchte er auch nichts für ein Dach über dem Kopf zu bezahlen.
Indem er die anderen beobachtete, bemerkte Hanara schließlich, dass die Stalldiener ihren Lohn im Dorf gern für Dinge ausgaben, die sie nicht wirklich benötigten. Der Bäcker machte nicht nur Brot, sondern auch süße Leckereien. Die Frau des Schmiedes verkaufte eingemachte und getrocknete Speisen, Duftkerzen, Öle und Balsam. Einer der alten Männer schnitzte aus Holzstücken Instrumente und Gefäße, die man besser aus Metall oder Ton hergestellt hätte; außerdem fertigte er Spielsteine, Perlenketten und seltsame kleine Figürchen von Tieren und Menschen an.
Zuerst begriff Hanara nicht, warum er sein Geld für solche Dinge verschwenden sollte. Er beobachtete, wie die anderen Arbeiter ihre Einkäufe miteinander verglichen, wenn sie in die Ställe zurückkehrten, und er registrierte, ob sie den Gegenstand behielten oder ihn verschenkten - gewöhnlich an eine der Frauen aus dem Dorf.
Langsam wuchs in ihm die Erkenntnis, dass der Kauf solcher Dinge ihm einen Vorwand liefern würde, um mehr über das Dorf zu erfahren, daher folgte er eines Tages einigen der Arbeiter bei ihren Ausflügen. Sie bemerkten ihn und bestanden darauf, dass er sich ihnen anschloss. Es war möglich, dass sie ihn akzeptierten und ihn in ihre Aktivitäten einbeziehen wollten, andererseits war es auch möglich, dass sie ihn im Auge behalten wollten. Ihm war aufgefallen, dass man ihn nie allein ließ. Und manchmal ertappte er die anderen dabei, dass sie ihn beobachteten.
Die Dorfbewohner begegneten den Stalldienern mit großer Herzlichkeit, aber wann immer sie Hanara sahen, wirkte ihr Lächeln plötzlich gezwungen. Sie waren weiterhin freundlich, auch wenn er etwas kaufte, aber wenn sie sich abwandten, sah er, dass Furcht, Wachsamkeit oder Abneigung in ihre Züge trat.
Bei ihrer Rückkehr zum Stall fielen ihm Kinder auf, die um Häuserecken spähten und ihn anstarrten. Einige liefen weg, wenn er sie bemerkte. Es war ironisch, dass sie ihn fürchteten, der einst ein niederer Sklave gewesen war.
Die Stalldiener waren auch an einer Gruppe von vier jungen Frauen vorbeigekommen, die bei Hanaras Anblick zu tuscheln begannen und angewidert das Gesicht verzogen. Zwei junge Männer, die dies sahen, musterten Hanara mit zusammengekniffenen Augen, als er und seine Gefährten vorbeigingen.
Die Reaktion der Dorfbewohner überraschte Hanara nicht. Er war ein Fremder. Er stammte aus einem Land, das einst dieses Volk beherrscht hatte. Er gehörte einer Rasse an, die sie fürchteten.
Tessia hatte ihn gebeten, es ihrem Vater mitzuteilen, sollten irgendwelche Dorfbewohner ihm das Leben schwer machen. Sie hatte ihm versichert, dass es Gesetze und Regeln gab, die ihn schützten. Bei der Erinnerung an ihre Besuche lächelte er. Gerade sie fürchtete ihn nicht. Die einzige Person, die ihn halbwegs verstand, hasste ihn nicht.
Hier in den Ställen war es leicht, den Hochmut einiger der Dorfbewohner mit Erheiterung zu betrachten. Sie waren keine Sklaven, aber sie waren auch nicht wirklich frei. Die meisten von ihnen arbeiteten trotzdem hart. Sie mochten ihren Lohn und ein gewisses Maß an Freiheit haben, aber sie waren an den Lord gebunden, dem sie dienten, weil ihm das Land gehörte, das sie bebauten, und die Häuser, in denen sie lebten. Sie waren seinen Launen genauso ausgeliefert wie jeder Sklave den Launen seines Herrn. Es fühlte sich für sie nicht wie Sklaverei an, weil Lord Dakon ein freundlicher und großzügiger Mann war.
Er hat sogar gefragt, ob ich ihm erlauben würde, meine Gedanken zu lesen. Und ich glaube, er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Wie kann jemand nur so voller Skrupel sein? So zimperlich? Er hatte sich versucht gefühlt, die Bitte abzuschlagen, um festzustellen, ob Dakon darauf bestehen oder ob er sich entschuldigen und fortgehen würde, aber Hanara hatte gewollt, dass der Magier von der Gefahr erfuhr. Takado würde zurückkehren, um ihn zu holen.
Ich denke nicht, dass er es geglaubt hat. Er hat nach Beweisen gesucht. Ich brauche keine Beweise. Ich kenne Takado. Was nützt es mir, meine Freiheit von einem Mann bekommen zu haben, der mich nicht beschützen kann, weil er es nicht glauben will, wenn ich sage, dass ich in Gefahr bin?
Vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, hätte er für einen anderen, energischeren Magier gearbeitet. Aber vielleicht war es auch nicht so. Während Takados Reisen durch Kyralia hatte er unglückliche, ängstliche Diener beobachtet. Er hatte Geschichten und Gerüchte gehört. Kyralische Magier konnten grausam sein, und es gab nicht viel, was ihre Diener dagegen tun konnten.
Nicht alle Ashaki sind so grausam wie Takado, überlegte er. Einige von ihnen sind natürlich weit schlimmer. Aber es gibt Geschichten über Ashaki, die ihre Sklaven gut behandeln.
Takado war ein grausamer Mann, aber seine Grausamkeit hatte meist einen Grund. Er verletzte oder tötete einen Sklaven nur, wenn dieser Sklave versagt oder ihn irgendwie beleidigt hatte. Die Strafe entsprach im Allgemeinen dem Verbrechen. Er hatte nie davon gehört, dass Takado einen Sklaven nur zu seiner Unterhaltung ein Leid angetan hätte, obwohl solche Geschehnisse unter anderen Ashaki keineswegs ungewöhnlich waren.
Hanara rutschte auf seinem Stuhl hin und her; jähes Unbehagen überfiel ihn - wie jede Nacht, seit er von Kopf bis Fuß bandagiert im Herrenhaus aufgewacht war.
Er verstand nicht, warum Takado ihn so unbarmherzig geschlagen hatte, obwohl sein Fehler nur so geringfügig gewesen war. Wenn Takado nicht ohne Grund grausam ist, dann habe ich den Grund nur noch nicht erkannt. Aber wenn Hanara eine so grimmige Strafe nicht verdient hatte, welchen anderen Grund könnte Takado dann gehabt haben, ihn zu schlagen? Hatte er versucht, Lord Dakon zu beeindrucken? War es seine Absicht gewesen, Hanara so sehr zu verletzen, dass er ihn nicht nach Hause begleiten konnte?
Welchen Nutzen konnte Hanara für seinen Herrn haben, solange er hier in Kyralia festsaß? Die offenkundigste Antwort war die, dass er Lord Dakon ausspionieren sollte. Warum ausgerechnet Lord Dakon und nicht einen der mächtigeren Magier - das konnte Hanara nicht erraten.
Und wie soll ich ihn ausspionieren, wenn ich hier draußen in den Ställen bin und er sich immer im Herrenhaus aufhält? Wenn ich mich drinnen herumtreibe, wird das nur Argwohn erregen. Und die Leute begegnen mir ohnehin bereits mit Argwohn.
Außerdem würde Dakon bald fort sein. Wie konnte er den Magier ausspionieren, wenn er nicht hier war?
Wie konnte Lord Dakon Hanara beschützen, wenn er nicht hier war? Hanaras Herz begann zu rasen, wie es das getan hatte, als er zum ersten Mal gehört hatte, dass der Magier nach Imardin reisen würde.
Kann ich Lord Dakon überreden, mich mitzunehmen?
Er schüttelte den Kopf und seufzte. Lord Dakon war freundlich und großzügig gewesen, aber Hanara wusste, dass der Mann kein vollkommener Narr war. Die Stadt, wo Hanara etwas Nützliches hätte erfahren können, war der letzte Ort, an den er einen möglichen Spion mitnehmen würde. Er würde Hanara hierlassen, wo seine eigenen Leute ihn beobachteten, wo er keinen Schaden anrichten konnte.
Ich bin kein Spion. Ich habe Takado nichts zu erzählen. Schon bald werde ich nicht einmal mehr wissen, wo Lord Dakon sich aufhält.
Aber noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wurde ihm klar, dass er sich irrte. Er wusste, wo Lord Dakon nicht sein würde. Er wusste auch, dass ein Magier, der in der Nähe lebte, das Dorf im Falle einer Bedrohung schützen würde. Takado konnte diese Information aus seinen Gedanken holen, das wusste er, aber vorher musste er Hanara in die Hände bekommen. Für den Augenblick konnte er nur hoffen, dass die Vorkehrungen, die Lord Dakon getroffen hatte, ihren Zweck erfüllen würden.
Magie
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