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Das typische sachakanische Haus war überaus weitläufig und locker in einzelne Quartiere zu jeweils mehreren Räumen unterteilt. Ihr Vater lebte im Meisterquartier. Stara bewohnte das angrenzende Familienquartier, Ikaro und Nachira lebten im Quartier des Sohnes - in dem Teil des Hauses, der für den Erben des Meisters reserviert war. Das Zentrum des Sohnesquartiers bildete ein großer Hauptraum, von dem man Zugang zu allen anderen Räumen in diesem Teil des Hauses hatte. Diese kleineren Räume standen leer, bis auf das Schlafzimmer des Paares. Der Mangel an Möbeln schien Traurigkeit und Missbilligung auszudrücken. In diesen Zimmern hätten Staras Neffen und Nichten leben sollen.
Es wäre schlimm genug, dieser Erwartung nicht gerecht zu werden, dachte Stara, als Vora sie in den Hauptraum führte, aber jeden Tag daran erinnert zu werden, wäre schrecklich - vor allem mit der zusätzlichen Angst vor einer Ermordung als Konsequenz des Unvermögens, Kinder zu gebären.
Dann krampften sich ihre Eingeweide vor Furcht zusammen. Und Ikaro bittet mich, selbst zum Zentrum dieser Erwartung zu werden. Was wird geschehen, wenn auch ich kein Kind hervorbringen kann? Sie wusste, was Vora sagen würde. »Es ist immer das Beste, nicht über Probleme nachzugrübeln, bevor es unbedingt sein muss, Herrin.« Stara war anderer Meinung. Sie bevorzugte das Motto: »Besser vorbereitet sein und angenehm überrascht, als unerwartet getroffen werden.«
Nachira erhob sich, um Stara zu begrüßen, und als sie sie auf beide Wangen küsste, klimperte ihr Schmuck auf angenehm melodische Weise. Stara erwiderte die Geste. Sie setzten sich auf gepolsterte Hocker in der Mitte des Raums. Nachdem Vora sich der Länge nach auf den Boden geworfen hatte, nahm sie ihre gewohnte Position auf einem Bodenkissen hinter Staras Platz ein. Obwohl die alte Frau bei diesen Gelegenheiten stets ächzte und sich die Glieder rieb, widersetzte sie sich Aufforderungen, »auf ihrer Höhe« Platz zu nehmen, und wenn sie es ihr befahl, schien sie sich unbehaglich zu fühlen und machte unglückliche Bemerkungen, bis Stara ihr erlaubte, auf das Bodenkissen zurückzukehren.
»Ist mein Bruder hier?«, fragte Stara und sah sich um.
»Er versichert sich, dass Ashaki Sokara nicht frühzeitig zurückkommt«, antwortete Nachira mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme. »Er hat einen der Sklaven darüber spekulieren hören.«
»Ich kann noch immer nicht glauben, dass Vater etwas dagegen hätte, wenn sein Sohn und seine Tochter sich unterhalten.«
»Oh, er wird etwas dagegen haben.« Nachira runzelte die Stirn. »Wenn er von den Sklaven davon erfährt. Wir werden ihm erzählen, wir hätten das Gefühl gehabt, ein Auge auf dich haben zu müssen und dich ein wenig abzulenken, damit du nicht noch einmal versuchst, das Haus zu verlassen.«
»Wird er nicht deine Gedanken lesen und feststellen, dass es nicht wahr ist?«
Die Frau blinzelte. »Nein. Zumindest... hoffe ich es nicht. Er hat es noch nie getan. Nun, nicht seit diesem einen Mal nach der Hochzeit, als er sich davon überzeugen wollte, dass ich keinen geheimen Auftrag habe, ihm Schaden zuzufügen. Aber er ist sehr behutsam zu Werke gegangen.«
Stara wandte den Blick ab. »Ich hätte gedacht, dass er es vor der Hochzeit getan hätte, wenn er dachte, es sei gerechtfertigt.«
»Dann hätte mein Vater die Hochzeit abgesagt. Es wäre unhöflich gewesen, zu diesem Zeitpunkt ein solches Misstrauen an den Tag zu legen.«
»Aber nach der Hochzeit war es nicht mehr unhöflich?« Stara sah Nachira in die Augen.
Die Frau senkte den Blick. »Nicht ganz so unhöflich. Und wie gesagt, er war sehr behutsam. Ich fand, dass es sich nicht lohnte, meinen Vater damit zu behelligen.«
Stara nickte seufzend. Dies bestätigte ihren Argwohn, dass das Lesen der Gedanken eines freien Menschen - selbst wenn er zur Familie gehörte - kein alltägliches, allgemein akzeptiertes Tun war.
Vora hatte sie seit jener ersten Begegnung in den Bädern jeden Tag zu den Räumen ihres Bruders gebracht. Manchmal besuchte Stara sie morgens, manchmal später am Tag. Sie glaubte nicht, Nachira bereits gut zu kennen, aber sie schätzte die Frau als einen sehr freimütigen, offenen Menschen ein. Die Vorstellung, dass Ikaros Frau einen geheimen Auftrag haben könnte - oder irgendein anderes Geheimnis als ihre Unfruchtbarkeit -, war unwahrscheinlich.
Ich mag sie durchaus, überlegte Stara. Ich habe nichts gesehen, was mir missfallen könnte, mit Ausnahme ihrer absoluten Passivität vielleicht. Wenn ich dächte, mein Schwiegervater würde mich wahrscheinlich töten wollen, würde ich von meinem Mann verlangen, mich in Sicherheit zu bringen, oder ich würde ihn zumindest darum anflehen.
Vielleicht gab es keine »Sicherheit«. Wohin sollten Ikaro und Nachira gehen? Ohne das Wohlwollen und den Schutz ihres Vaters hätten sie kein Geld, kein Geschäft und kein Land, das sie erben würden.
Aber das wäre besser als der Tod, nicht wahr? Sie könnten nach Elyne gehen. Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, wusste sie, dass dies keine annehmbare Möglichkeit war. Nachira wäre nicht in der Lage, das Leben in einem anderen Land zu bewältigen, und Ikaro würde sich Sorgen machen, dass sein Vater ihm das Leben noch von der anderen Seite der Grenze aus zur Hölle machen könnte, da er durch ihre Mutter Handelsbeziehungen in Elyne hatte.
Mutter würde niemals irgendetwas tun, um uns zu schaden, dachte Stara. Aber sie würde vielleicht nicht wissen, dass sie es täte. Man könnte sie mit einer List dazu bringen.
Als sie Schritte hörten, erstarrten beide Frauen und schauten zur Tür hinüber. Ikaro trat ein, und Nachira stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Ikaro lächelte. »Er ist noch nicht zurückgekommen, und sie erwarten ihn erst in einigen Tagen.« Er setzte sich, und seine Miene wurde ernst, als er seine Frau ansah. »Aber ich habe andere Neuigkeiten gehört, die gerade erst eingetroffen sind. Der Kaiser hat offiziell seine Unterstützung der Invasion Kyralias erklärt und ruft die Magier auf, seiner Armee beizutreten. Wenn Vater davon erfährt, wird er mich in den Kampf schicken.«
Stara hörte, dass Nachira scharf die Luft einsog. Die Eheleute schauten einander einen Moment lang an, dann wanderte ihr Blick zu Stara.
»Du wirst deine Entscheidung früher treffen müssen, als wir gehofft hatten, Stara.« Ikaro griff nach Nachiras Hand. »Wir haben darüber gesprochen und sind übereingekommen, dass es das Mindeste wäre, dir zu geben, worum du gebeten hast. Ich werde dich höhere Magie lehren.«
Stara schaute zu Vora hinüber. Die Frau lächelte und nickte zustimmend. Eine Woge unterschiedlicher Gefühle schlug über Stara zusammen. Zuerst Hilflosigkeit, dann Abscheu vor sich selbst. Ich werde mich fügen. Ich werde einen Fremden heiraten und sein Kind gebären, nur weil mein Vater ein Ungeheuer ist. Wie jämmerlich bin ich eigentlich? Dann stieg ein seltsamer Stolz in ihr auf, gefolgt von Entschlossenheit. Aber ich werde mich nicht einfach fügen, ich treffe eine Entscheidung - ich rette einem Menschen das Leben. Zu guter Letzt kam das Grauen, das nicht von ihr abfiel, sondern sich in sie hineinfraß, als hätte es ein Heim in ihren Knochen gefunden. Wenn Vater einen abscheulichen Mann ausgewählt hat, werde ich nicht dasitzen und es hinnehmen. Ikaro wird mir vielleicht helfen, aber wenn er es nicht kann, werde ich eine Möglichkeit finden, mir selbst zu helfen.
Dann wurde ihr klar, dass sie vom ersten Augenblick an, als sie von Nachiras und Ikaros Dilemma erfahren hatte, entschlossen gewesen war, ihnen zu helfen. Das war vielleicht töricht, weil sie darauf vertrauen musste, dass sie die Wahrheit sagten und die Gefahr für Nachiras Leben nicht erfanden, um Stara gefügig zu machen. Aber all ihre Sinne sagten ihr, dass die Angst der beiden echt war. Sie konnte sie in jeder ihrer Gesten sehen, konnte sie beinahe in der Luft riechen.
»Dann werde ich es tun«, erklärte sie. »Ich werde heiraten und Vater hoffentlich einen Erben verschaffen.«
Beide lächelten, dann wurden ihre Mienen ernst, und schließlich lächelten sie wieder, während sie sich abwechselnd bei ihr bedankten und entschuldigten. Nachira begann zu weinen; Ikaro tröstete sie. Angesichts ihrer offenkundigen Zuneigung zueinander wurde Stara leicht ums Herz, aber bald darauf senkte sich wieder dunkle Schwere auf sie herab.
Oh, Mutter, ich werde heiraten und ein Kind bekommen, und du wirst nicht da sein, um mir zu helfen und die Erfahrung mit mir zu teilen. In diesem Moment wusste Stara, dass das Grauen, das sie empfand, nicht nur der Aussicht galt, ihr Leben in die Hände eines Fremden zu geben, sondern der Tatsache, dass sie in Sachaka gefangen sein würde. Sie würde nichts Vertrautes um sich haben und niemanden, mit dem sie offen und ehrlich sprechen konnte. Dies war kaum die Umgebung, in der sie gehofft hatte, ein Kind großzuziehen.
Nachira stand abrupt auf. »Wir müssen ein wenig Raka miteinander teilen, um das Abkommen zu besiegeln«, erklärte sie.
»Ich werde den Raka holen«, sagte Vora, und ihre Gelenke knarrten, als sie sich erhob. Sie sah Ikaro an. »Ihr solltet jetzt Eure Seite des Abkommens erfüllen, Herr.«
Er lachte leise. »Du hast recht, Vora. Wir können nie wissen, ob und wann wir vielleicht gestört werden.« Er kniff die Augen zusammen und lächelte. »Beeil dich mit dem Raka, da wir jemanden brauchen, mit dem Stara üben kann.«
Voras Lippen wurden schmal, aber in ihren Augen leuchtete warme Zuneigung. Schon bald saßen sie wieder auf den Kissen und nippten an dem heißen Getränk. Ikaro wies Vora an, ihr Kissen zwischen sie beide zu schieben und niederzuknien. Er zog das kurze, geschwungene Messer aus der Scheide an seiner Hüfte, dann sah er Stara an, und alle Heiterkeit war aus seinen Zügen gewichen.
»Zuerst musst du die Haut durchbrechen«, erklärte er ihr. »Die natürliche, magische Barriere, die uns vor dem Willen anderer schützt, liegt dort verborgen, wenn sie nicht erweitert wird, um einen Schild zu bilden.« Er drehte das Messer um und hielt ihr den Griff hin. »Nimm es. Es gibt nur eine Möglichkeit, es dir zu zeigen: Du musst es selbst spüren.«
Sie nahm das Messer. Der Griff war warm von seiner Berührung. Vora krempelte ihre Ärmel hoch und streckte den Arm aus.
»Eine kaum merkliche Berührung sollte genügen. Die Klinge ist sehr scharf.«
Einen Moment lang konnte Stara sich nicht dazu überwinden, sich zu bewegen. Vora musterte sie mit kritischem Blick. Plötzlich entschlossen, dass die alte Frau nicht noch einen Augenblick der Schwäche sehen sollte, drückte Stara die Klinge sachte auf die Haut der Sklavin. Als sie sie wieder wegzog, erschien eine rote Linie. An einem Rand bildete sich ein Blutstropfen. Stara unterdrückte den Drang, sich zu entschuldigen.
»Jetzt leg die Hand über den Schnitt«, fuhr Ikaro fort. »Schließ die Augen. Sende deinen Geist aus und finde Vora.«
Stara tat wie geheißen und war verblüfft von der Intensität dessen, was sie spürte. Ein großer Teil von Nimelles Magielektionen hatte sich um die Begegnung ihrer beider Geister gedreht, aber so wie dies hier war es nicht gewesen. Stara hatte das Gefühl, als sei sie sich nicht nur Voras Anwesenheit bewusst, sondern ihres ganzen Körpers und sogar ihres Geistes. Als sie sich konzentrierte, konnte sie die Gedanken der Frau hören.
Am deutlichsten von allem konnte sie die magische Energie in der Sklavin spüren, die jeden Teil ihres Körpers durchtränkte.
Aus einiger Entfernung hörte sie Ikaro sprechen.
»Fühlst du die Stärke in ihr?«
Sie zwang sich zu nicken.
»Gut. Jetzt nimm davon. Mach es, wie du etwas von deiner eigenen Magie nimmst, wenn du sie verwendest.«
Vorsichtig und zaghaft griff sie nach der Energie in Vora. Die Energie floss auf sie zu, aber dann spürte sie, wie sie ihr wieder entglitt.
»Wo ist sie geblieben?«
»Du hast sie umgeformt aus dir hinausgeleitet. Keine Sorge. Das tun zu Beginn die meisten Menschen. Versuche es noch einmal, aber diesmal stell die Verbindung mit deiner eigenen Magie her. Zieh ihre Macht in dich hinein, damit sie sich mit deiner vermischt.«
Während sie sich weiter auf Voras magische Energie konzentrierte, suchte sie nach ihrer eigenen Macht. Plötzlich hatte sie den Eindruck von zwei leuchtenden, menschlichen Gestalten, die dort, wo eine Gestalt die andere berührte, miteinander verbunden waren. Sie konnte die Barriere fühlen, die Voras Energie umgab, konnte die Bresche darin spüren, wo sie ihre Haut aufgeschnitten hatte.
Dann nahm sie ihre ganze Willenskraft zusammen und zog Energie aus Voras Körper. Die Energie unterwarf sich ihrem Willen und floss in ihren eigenen Körper.
»Ich habe sie«, sagte sie. »Es funktioniert.«
»Gut. Und nun weiter. Um zu verhindern, dass andere spüren, was du tust, musst du deine Barriere stärken. Wenn du es nicht tust, wird die Barriere nur die Macht zurückhalten, die du natürlicherweise selbst besitzt. Unser Vater wird spüren, dass du ständig Magie abgibst, und wissen, was ich dich gelehrt habe. Außerdem musst du lernen, Magie zu nehmen, ohne dabei etwas aus dir hinausfließen zu lassen.«
Er wies sie mehrfach an, Macht zu nehmen und wieder innezuhalten, und machte sie jedes Mal darauf aufmerksam, wenn dabei etwas von der Magie austrat. Ihr war bewusst, dass einige Stunden verstrichen waren, bevor er erklärte, dass sie die Prozedur nunmehr gut genug beherrschte, um Schwarze Magie zu benutzen, ohne den Argwohn anderer zu erregen. Stara sah Vora an und hielt Ausschau nach Anzeichen von Schwäche, aber die alte Frau wirkte unverändert.
Das ist gut. Ich will Vora nicht zu viel Energie abziehen. Sie ist nicht mehr jung und braucht schon genug Energie, um hinter mir und Ikaro herzulaufen.
»Werde ich weitere Lektionen benötigen?«, fragte sie.
»Nein.« Er lächelte. »Du lernst schnell.«
Sie warf in gespieltem Stolz den Kopf in den Nacken. »Ich schätze, ich bin ein Naturtalent.«
Ikaro lächelte flüchtig, dann wurde er nachdenklich. »Vielleicht wärest du tatsächlich eins gewesen, hättest du nicht in Elyne Magie erlernt. Dann wäre Vater in jedem Falle gezwungen gewesen, dich zu unterrichten.«
»Oder dich töten zu lassen«, murmelte Vora. »Wie die meisten Naturtalente.«
Stara starrte die beiden ungläubig an, dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist doch gewiss nicht wahr. Ich weiß, dass Sachakaner Sklaven töten, die Naturtalente sind. Töten sie auch Mitglieder ihrer eigenen Familie?«
»Naturtalente sind…« Ikaro suchte nach dem richtigen Wort.
»Gefährlich«, warf Vora ein, während sie aufstand und ihr Kissen an seinen früheren Platz zurücklegte. »Die Ashakis sehen es nicht gern, wenn die Entscheidung darüber, wer Magie benutzen darf und wer nicht, nicht bei ihnen liegt.«
»Es ist jedenfalls besser, das Wort Naturtalent gar nicht zu benutzen«, warnte Ikaro sie. »Du wirst außerdem vorsichtig sein müssen, wenn du dich stärkst, falls das deine Absicht ist. Von Gesetzes wegen darf ein Magier keine Macht von den Sklaven eines anderen ohne die Zustimmung des Besitzers nehmen. Nicht einmal ich darf mich hier ohne Erlaubnis stärken. Alle Sklaven hier gehören Vater.«
»Vora eingeschlossen?«
»Sie eingeschlossen.«
»Also haben wir gerade ein Gesetz gebrochen.«
Er zuckte die Achseln. »Wir haben keine höhere Magie benutzt, um jemanden zu stärken, nur um zu unterrichten.«
»Nun, das Sammeln von Macht ist im Augenblick nicht mein Ziel. Ich möchte lediglich sicher sein, dass ich alle Fähigkeiten besitze, die ich vielleicht benötigen werde, wenn … nun ja...«
»Ich verstehe«, sagte Ikaro mit einem schiefen Lächeln. »Nachdem ich dich um all diese Jahre beneidet habe, stelle ich fest, dass ich dir so viel Freiheit wie möglich wünsche, damit du überleben und glücklich sein kannst.«
Sie lächelte und tätschelte seine Hand. »Und ich wünsche mir dasselbe für euch beide.«
»Nun, in diesem Fall...«, sagte Vora.
Sie alle drehten sich zu der Sklavin um. »Es gibt noch eine Fähigkeit, die Stara benötigt. Eine, die ihr eines Tages das Leben retten könnte.«
Ikaro sah Stara fragend an. Sie zuckte die Achseln zum Zeichen, dass sie keine Ahnung hatte, wovon die Sklavin sprach. Aber ich will es wirklich wissen, dachte sie.
»Und was wäre das für eine Fähigkeit?«, erkundigte Ikaro sich.
Voras Lächeln war verschlagen. »Wie man jemanden tötet, während man das Bett mit ihm teilt, Herr.«
Nachira schlug eine Hand vor den Mund und sah ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Ikaro lächelte, aber sein Gesicht hatte sich leicht gerötet.
»Wie soll ich sie das lehren?«, fragte er Vora.
»Ihr erklärt es mir«, erwiderte die Frau mit herausforderndem Blick. »Das ist offenkundig möglich, ohne Inzucht zu begehen oder Eure Gemahlin zu beleidigen.«
Ikaro nickte. »Du hast recht. Vater hat mir erklärt, wie man es macht, obwohl ich nie Grund hatte, diese spezielle Kunstfertigkeit anzuwenden, sodass ich keine Ahnung habe, ob ich es richtig hinbekommen würde.« Er drehte sich wieder zu Stara um. »Für Frauen ist es anscheinend leichter als für Männer. Der Zeitpunkt ist entscheidend.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Inwiefern?«
»Im Augenblick der... ehm... höchsten Wonne verschwindet die natürliche Barriere, von der wir vorhin gesprochen haben. Weißt du... wovon ich spreche?«
»Ja«, antwortete sie. »Ich kenne den Höhepunkt, von dem du redest.« Die Röte in seinem Gesicht hatte sich noch weiter vertieft, wie sie bemerkte. »Ich vermute, ich werde es spüren, wenn die Barriere verschwindet.«
»So hat man es mir erzählt.« Er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus, dann blickte er zu Nachira hinüber, die erheitert wirkte. »Wie bei der gewöhnlichen Methode der höheren Magie ist die Quelle hilflos, sobald der Abfluss ihrer Macht beginnt. Aber wenn dieser Abfluss von Energie unterbrochen wird, schließt sich die natürliche Barriere wieder; falls du also jemandes Tod herbeiführen willst, musst du so lange magische Energie aufnehmen, bis du ihm seine Macht ganz genommen hast. Natürlich wüssten wir es zu schätzen, wenn du mit der Ermordung deines Mannes warten würdest, bis du ein Kind zur Welt gebracht hast.«
Stara lachte. »Natürlich.«
»Man kann nie wissen«, warf Vora ein. »Vielleicht wird Stara ihren Mann ja mögen.«
Alle drehten sich zu der Sklavin um und musterten sie argwöhnisch. Vora hob die Hände, um ihre Unschuld zu beteuern.
»Oh, ich weiß nicht, wer er ist. Aber Ihr solltet diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen.« Sie sah sie der Reihe nach an, dann zuckte sie die Achseln. »Ich nehme an, wenn Ihr darauf besteht, das Schlimmste zu erwarten, könnt Ihr nur recht haben oder angenehm überrascht werden.«
Für sie ist das alles gut und schön, dachte Stara. Sie wird ja auch nicht gezwungen, jemanden zu heiraten. Aber dann zügelte sie sich. Bin ich eifersüchtig auf eine Sklavin? Nein, es gibt ein schlimmeres Schicksal, als verheiratet zu werden... obwohl Vora es recht gut getroffen zu haben scheint. Ich hoffe, sie wird Ikaro und Nachira weiter dienen, nachdem ich fort bin.
Zu ihrer Überraschung wurde Stara bewusst, dass sie die herrische alte Frau vermissen würde.
 
Die Luft war rauchgeschwängert, und der Geruch ließ all die Dinge ahnen, die verbrannt worden waren, und einige davon drehten den Menschen in der Nähe den Magen um. Holzbalken, schwarz versengt und noch immer schwelend, ragten in den Himmel auf. Ziegelsteine, Holz- und Metallteile lagen überall verstreut. Kein einziges Gebäude in Vennea war unversehrt geblieben.
Inmitten des Schutts lagen die Toten. Ihre Kleider flatterten im Wind. Nirgendwo war Blut. Irgendwie machte dieser Umstand das Ganze noch beängstigender.
Oder vielleicht war es die Stille. Es gab Geräusche: das Knistern von Flammen. Das Heulen eines Babys irgendwo. Die Schritte von Magiern und Meisterschülern. Aber alles war gedämpft und klang wie aus weiter Ferne. Vielleicht hat das Grauen mich taub gemacht, dachte Dakon. Mein Geist will es nicht glauben, daher weigert er sich, dies alles aufzunehmen.
»Die Sachakaner sind fort«, sagte der Dorfbäcker. Er hatte sich in seinen Ofen eingeschlossen, der nach dem morgendlichen Backen gerade so weit abgekühlt war, dass er sich nicht selbst darin buk, als die Sachakaner sein Haus durchsucht hatten, und er hatte Brandwunden an den Händen und versengte Schuhe. »Als ich wusste, dass ich Luft brauchte, bin ich herausgekommen. Es waren Menschen auf der Straße. Sie stahlen aus den Häusern, die nicht in Flammen standen. Sie haben mir erzählt, dass die Sachakaner die Stadt verlassen hatten.«
»In welche Richtung sind die Sachakaner gezogen?«
»Das weiß ich nicht.«
Werrin nickte und dankte dem Mann. Dann sah er Sabin an. »Wir müssen es herausfinden. Was denkt Ihr, was sie jetzt im Schilde führen?«
»Es weitet sich zu einer regelrechten Invasion aus«, antwortete der Schwertmeister. »Ihre große Zahl, das Ernten von Macht. Es bietet ihnen keinen Vorteil, einen Ort einzunehmen und zu halten, aber sie können dadurch Stärke und Vorräte gewinnen. Sie wissen, dass wir zu wenige sind, um alle äußeren Dörfer und Städte verteidigen zu können, daher greifen sie an und ziehen weiter.«
»Sie haben ihre Lektion in Tecurren gelernt?«
»Wahrscheinlich.«
»Wo werden sie als Nächstes angreifen?«
Sabin zuckte die Achseln. »Unsere beste Strategie besteht darin, die Menschen an einen Ort zu schaffen, der leichter zu verteidigen ist. Wir sollten die äußeren Dörfer und Städte räumen, sodass es dort nichts mehr gibt, das sie sich nehmen könnten.«
»Das klingt so, als würdet Ihr vorschlagen, die äußeren Lehen aufzugeben«, sagte Narvelan stirnrunzelnd.
Sabin nickte. »Uns wird vielleicht nichts anderes übrig bleiben. Ich weiß, es ist enttäuschend nach all der Arbeit, die der Freundeskreis während der letzten Jahren geleistet hat. Seht Ihr irgendeine Möglichkeit, wie wir sie beschützen können?«
Narvelan schüttelte seufzend den Kopf und schaute Dakon an. »Es sieht so aus, als würden wir beide in Kürze heimatlos. Ich frage mich, wann wir den Titel Lord aufgeben müssen.«
»Besser das als zuzulassen, dass all die Menschen, über die wir herrschen, umkommen«, erwiderte Dakon.
»Für den Augenblick werden wir vielleicht nicht ganze Lehen aufgeben müssen«, meinte Sabin. »Wir können die Bevölkerung an Orte schaffen, an die die Sachakaner sich nicht heimlich heranschleichen können und die sich leicht räumen lassen.«
»Und wie werden wir mit den Sachakanern verfahren?«, fragte Narvelan.
Sabin runzelte die Stirn. »Wir sind einander ebenbürtig an Zahl, aber sind wir einander auch an Stärke ebenbürtig? Jene von uns, die in Tecurren gekämpft haben, werden geschwächt sein, obwohl die Großzügigkeit der Dorfbewohner dies ein wenig wieder wettgemacht haben wird. Die Sachakaner haben dagegen die Stärke ganzer Städte genommen. Mir gefallen unsere Chancen nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Fürs Erste sollten wir tun, was in unserer Macht steht, um den Menschen hier zu helfen. Einige könnten unter Trümmern vergraben oder gefangen sein. Ich werde mich abermals mit unserem Geheimcode für Gedankenkontakt mit dem König in Verbindung setzen. Seid bereit, jederzeit aufzubrechen.«
Als die Magier sich zerstreuten und in alle Richtungen davongingen, hielt Dakon Ausschau nach Jayan und Tessia. Keiner seiner beiden Schüler stand hinter ihm. Er ließ den Blick über den Dorfplatz wandern und entdeckte die beiden schließlich; sie saßen einige Schritte entfernt links und rechts neben einem kleinen Jungen.
Als er näher kam, erkannte er, dass der Junge verletzt war und Tessia ihn behandelte. Jayan hatte den Arm des Jungen in ein Stoffbündel gehüllt. Trotz der Stütze war der Unterarm in einem unnatürlichen Winkel gebogen. Tessia berührte ihn sanft.
Und dann, unter Dakons Augen, streckte der Arm sich langsam.
Der Junge schrie auf vor Schmerz und Überraschung, dann brach er in Tränen aus. Tessia schaute sich hastig um und zog ein Holzstück mit Magie zu sich heran. Splitter flogen durch die Luft, und das Holz spaltete sich in zwei Teile. Sie nahm die Holzstücke, wickelte sie in ein Tuch und wies Jayan dann an, sie festzuhalten, während sie sie an den Arm des Jungen band.
Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen, ging es Dakon durch den Kopf. Er hielt inne, wie erstarrt vor Erstaunen über das, was er beobachtet hatte. Die Erinnerung an den Unterarm, der sich scheinbar von selbst straffte, lief wieder und wieder vor seinem inneren Auge ab. Magie. Sie hat offensichtlich Magie benutzt. Auf eine so logische und zuträgliche Art und Weise. Und nur ein Magier konnte das tun. Oh, die Heilergilde wird nicht glücklich sein, wenn sie davon erfährt!
Während Tessia den Jungen tröstete und ihm erklärte, wozu die Stützen dienten und wie lange er sie an seinem Arm lassen musste, blickte Jayan auf und blinzelte überrascht, als er Dakon sah.
Sie waren beide so versunken, dachte Dakon, dass sich eine ganze Armee von Sachakanern an sie hätte anschleichen können. Trotzdem, ich kann ihnen kaum einen Vorwurf machen. Sie versuchen nur, Menschen zu helfen.
Dennoch war Jayans Beteiligung interessant. Der junge Mann wich Tessia inzwischen kaum noch von der Seite. Dakon argwöhnte, dass Jayan sich als ihren Beschützer sah, aber vielleicht steckte noch mehr dahinter. Vielleicht begriff Jayan, wie wichtig Tessias Einsatz von Magie für das Heilen sein konnte, und versuchte, ihr die Chance zu geben, ihre Fähigkeit weiterzuentwickeln. Er stellte fest, dass er ein Lächeln zuwege bringen konnte.
Das Teilen von Wissen, das Heilen mit Hilfe von Magie, und Jayan, der eine andere Meisterschülerin unterstützt und ermutigt. Wer hätte gedacht, dass dieser Krieg solchen Nutzen haben würde.
Magie
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