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Wer hätte gedacht, dass Pferde sich für das Überleben der Armee als so ungeheuer wichtig entpuppen würden?, überlegte Dakon.
Ihm fiel der Disput unter den Anführern vor der Schlacht ein, als es um die Frage gegangen war, ob Magier bei den Pferden bleiben sollten oder nicht. Alle waren sich einig gewesen, dass sie für den Kampf mit den Sachakanern so viel wie möglich von ihrer magischen Stärke benötigten. Es würde kein Trost sein, die Pferde gerettet zu haben, wenn Kyralia deswegen an die Sachakaner fiel.
Es war auch ein Risiko, die Meisterschüler im Schutz nur eines einzigen Magiers zurückzulassen, dachte Dakon weiter. Aber zumindest haben sie ein wenig eigene Magie, ihren Verstand und die Fähigkeit, uns mitzuteilen, ob sie angegriffen werden.
Den Dienern zufolge, die die Pferde versorgt hatten, hatte nur eine Handvoll Sachakaner sie angegriffen. Es bedurfte auch keiner größeren Zahl von ihnen, um so viel Schaden anzurichten. Glücklicherweise waren die Sachakaner darauf aus gewesen, die Tiere zu stehlen, nicht sie zu töten. Sie hätten sie auf der Stelle abschlachten können, aber stattdessen hatte sich jeder ein Pferd genommen, dann die Zügel so vieler anderer Tiere wie möglich ergriffen und war verschwunden.
Sobald die Diener die Absichten der Feinde durchschaut hatten, waren sie tapfer aus ihrem Versteck hervorgekommen, um selbst die Pferde freizulassen und wegzuscheuchen. Dann, als die Sachakaner fort gewesen waren, hatten die Diener die umherstreunenden Tiere nach bestem Vermögen wieder zusammengetrieben.
Ich hoffe, der König belohnt sie für ihren Mut und ihre Geistesgegenwart, ging es Dakon durch den Kopf. Niemand ist auf den Gedanken gekommen, ihnen zu sagen, was sie im Falle eines Angriffs tun sollten. Sie haben ganz und gar aus eigenem Antrieb gehandelt.
Niemand wusste davon, dass die Pferde gestohlen worden waren, bis die Kyralier versuchten, sich zurückzuziehen. Sabin hatte die Blutjuwelenringe, die er angefertigt hatte, ausschließlich der Armee ausgehändigt, mit der Begründung, dass zu viele Köpfe, die mit seinem Bewusstsein verbunden waren, eine zu große Ablenkung dargestellt hätten. Aus demselben Grund hatte er auch Jayan keinen der Ringe gegeben.
Nachdem die Armee sich zurückgezogen hatte, waren die Sachakaner ihnen gefolgt. Der Umstand, dass sie warten mussten, bis genügend Pferde zusammengetrieben waren, verzögerte ihre Flucht. Etliche weitere Kyralier waren gefallen, als den Magiern, die sie schützten, die Kraft ausgegangen war. Zu guter Letzt war weniger als zehn Magiern die Bürde zugefallen, die gesamte Armee zu schützen.
Während die Diener mutig ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um den Magiern wieder eingefangene Pferde zu bringen, hatten die Sklaven der Sachakaner für ihre Herren das Gleiche getan. Die Feinde setzten ihre Angriffe fort und verfolgten die kyralische Armee Schritt für Schritt.
Sie waren entschlossen, ihren Vorteil zu nutzen. Aber so weit hätte es gar nicht kommen dürfen. Sie waren uns zahlenmäßig unterlegen, selbst nachdem neue Verbündete zu ihnen gestoßen waren. Sie hätten nicht genug Gelegenheiten finden dürfen, um die Stärke, die sie in der letzten Schlacht verloren haben, zurückzugewinnen.
Aber sie hatten diese Gelegenheiten gefunden. Sie hatten mehr Sklaven, von denen sie Magie beziehen konnten, als den Kyraliern Meisterschüler und Diener zur Verfügung standen. Hinzu kamen die Leben, die sie genommen hatten, sodass es ihnen gelungen war, den Angriff abzuwehren und ihre Angreifer bis nach Kaltbrücken zu jagen, wo sie die Verfolgung aufgaben, um Jagd auf diejenigen Einwohner zu machen, denen es nicht gelungen war, rechtzeitig zu fliehen.
Aber sie haben jede Menge Kämpfer verloren. Wir haben fast ein Drittel verloren, aber ihre Verluste waren noch höher.
Er blickte die Straße entlang, die sich vor ihnen dahinschlängelte, und konzentrierte sich auf das Durcheinander aus Mauern und Dächern. Imardin. Kyralias Hauptstadt. Ich kann nicht glauben, dass sie uns so weit vor sich hergetrieben haben.
Plötzlich scheute sein Pferd. Er umfasste die Zügel fester, wappnete sich und blickte über die Schulter. Nichts. Nur Getreide, das sich in der Brise wiegte.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Er hatte in Mandryn sein Lieblingspferd verloren, und während der Jagd auf die Eindringlinge hatte er die Tiere gewechselt, wann immer es möglich gewesen war, aber er war außerstande gewesen, sie hinreichend zu versorgen.
Tiro, das neue Pferd, versuchte ständig, ihn zu beißen. Und Tiro war hässlich. Dakon wusste nicht, welchem der verstorbenen Magier das Tier einst gehört hatte. Wer immer es gewesen war, er musste große Geduld gehabt haben.
Er schaute zu Narvelan hinüber. Der Gesichtsausdruck des jungen Magiers war düster und grüblerisch. Er war in letzter Zeit immer düster und grüblerisch. Der unbeschwerte Freund, den Dakon gekannt hatte, zeigte sich immer noch ab und zu, aber in Narvelans Sinn für Humor schwang jetzt eine unangenehme Schärfe mit. Er war der einzige Magier gewesen, der sich bereitgefunden hatte, Lord Werrins Pferd zu übernehmen. Niemand sonst hatte es haben wollen, wohlwissend, dass die Stute ihn ständig an das Opfer ihres früheren Besitzers erinnern würde.
Dakon schauderte bei der Erinnerung. Als die letzte Kraft der Magier zu versiegen drohte, hatte Lord Werrin die Armee abgeschirmt, während alle sich bemüht hatten, sich auf die Pferde zu schwingen und davonzureiten. Der König hatte ein Pferd zu Werrin geführt. Der Magier hatte einige leise Worte mit dem König gewechselt, der daraufhin blass geworden war und ihn einen Moment lang angestarrt hatte. Dann hatten Erriks Züge sich verhärtet. Er hatte genickt, den Arm seines Freundes umfasst und sich dann abgewandt, wobei er das Pferd mitgenommen hatte.
Werrin hatte seinen Schild noch immer aufrechterhalten, als die letzten Magier davongeritten waren. Dakon hatte sich die Zeit genommen, sich noch einmal umzudrehen, bevor Narvelan ihn zur Eile getrieben hatte und sie beide davongaloppiert waren.
Viel länger konnte Werrin nicht gelebt haben.
Später an jenem Tag waren die Elyner erschienen.
Ah, welche Bitterkeit es mit sich brachte, wenn die Dinge nicht zur rechten Zeit geschahen, ging es Dakon durch den Sinn. Wenn sie nur ein oder zwei Tage früher gekommen wären. Oder wenn wir gewusst hätten, dass sie kommen würden, dann hätten wir vielleicht noch einen Tag länger gewartet, bevor wir uns den Sachakanern entgegengestellt hätten.
So viele Tragödien hatten sich ereignet, weil bestimmte Informationen nicht rechtzeitig eingetroffen waren. Er hätte Mandryn nicht verlassen, hätte er von Takados bevorstehendem Angriff gewusst. Er hätte das Dorf räumen lassen. Wenn der König sicher gewesen wäre, dass die Sachakaner in das Land einfallen würden, hätte er sich darauf vorbereiten können. Hätte es vielleicht sogar verhindern können.
Niemand konnte die Zukunft voraussagen. Nicht einmal ein Magier. Und selbst Magier konnten, was ihre eigene Stärke oder die des Feindes betraf, nur Vermutungen anstellen. Dakon war sich so sicher gewesen, dass sie mit einer Armee, die größer war als die des Feindes, die Schlacht gewinnen würden. Er und viele, viele andere hatten sich geirrt.
Würden sie sich wieder irren? Sie hatten keine andere Wahl, als abermals zu versuchen, die Stärke des Feindes zu erraten. Es waren mehr Sachakaner gestorben als Kyralier, obwohl Erstere sich bemüht hatten, es ihren Gegnern gleichzutun und einander zu schützen. Zahlenmäßig waren die Kyralier stärker geworden.
Einmal mehr hatten sie überlebt, um sich aufs Neue zu stärken. Bisher hatten sie von ihren Meisterschülern nur die Stärke eines einzigen Tages gewonnen. Die Sachakaner hatten Sklaven und dazu all jene, die das Pech hatten, ihren Weg zu kreuzen. Unglücklicherweise war nicht genug Zeit gewesen, um die Dörfer zwischen Kaltbrücken und Imardin wirksam räumen zu lassen. Und dann waren da noch die Diener der Armee, die sie in Kaltbrücken zurückgelassen hatten. Obwohl sie ein wenig früher als die Städter gewarnt worden waren, konnten die Sachakaner sie mühelos eingeholt haben.
Kyralia hatte jedoch neue Verbündete: die Elyner.
Ihr Anführer war ein kleiner, aber mit einem scharfen Verstand gesegneter Magier namens Dem Ayend. Der Dem ritt an der Spitze der Armee, zusammen mit dem König und Sabin. Sie hatten auf dem Weg zur Stadt soeben eine niedrige Anhöhe überwunden und konnten jetzt weit ins Land sehen. Es war übersät mit unzähligen behelfsmäßigen Unterkünften und Menschen.
Das Herz tat Dakon weh, als er begriff, was dies war. Die Elendsviertel rund um die Stadt waren auf das Hundertfache ihrer ehemaligen Größe angeschwollen, als die Menschen vom Land eingetroffen waren, Menschen, die kaum mehr besaßen als das, was sie hatten tragen können, und die sich niederließen, wo immer sie Platz fanden. Als die Armee näher kam, wurde ein bestimmter Gestank stärker. Der Geruch war ihm bereits früher aufgefallen, aber er hatte angenommen, es müsse sich dabei um die Exkremente der vielen Tiere handeln, die auf den Hängen des breiten Tales grasten, das Vieh jener, die vor den Eindringlingen geflohen waren. Jetzt erkannte er in dem Gestank diesen bestimmten Geruch von Menschen, die unter einfachsten Bedingungen auf beengtem Raum lebten ohne jede Möglichkeit, ihren Unrat wegschaffen zu können.
Als die Armee noch näher rückte, kamen die Menschen zwischen den Baracken hervor, und schon bald hatte sich zu beiden Seiten der Straße eine große Menge versammelt. Was wissen sie? Haben sie gehört, dass wir besiegt worden sind? Erwarten sie eine triumphierende Siegeserklärung? Dakon sah, dass die Menschen auch schon die Straßen innerhalb der Stadt säumten.
Tausende erwartungsvoller Gesichter sahen zu, wie der König die Armee durch die ausgedehnten Elendsviertel führte. Ein Tosen von Stimmen erhob sich. Dakon konnte nicht erkennen, ob die Menschen jubelten oder höhnten, ob sie lediglich versuchten, den Lärm zu übertönen, oder ob sie die Magier anschrien, denn das Getöse war ohrenbetäubend.
Die Armee war bis zum Marktplatz gezogen, wo der König anhielt. Lord Sabin bedeutete den Magiern und Meisterschülern, sich hinter ihm zu versammeln, mit dem Rücken zum Hafen. Ein Karren wurde herbeigerollt, und der König kletterte darauf. Dort stand er hoch aufgerichtet und schweigend und betrachtete die Menge vor ihm mit einem Ausdruck ernster Geduld. Lord Sabin trat neben ihn.
»Bitte, seid still, damit der König sprechen kann«, rief er, eine Forderung, die er mehrmals wiederholen musste.
Langsam verebbte der Lärm.
»Männer und Frauen von Kyralia«, begann König Errik. »Eure Magier haben für eure Freiheit gekämpft. Sie haben gekämpft, und sie sind gestorben. Zweimal haben sie den Feind zu einer Schlacht gestellt; zweimal sind sie besiegt worden.«
Dakon, der die Gesichter der Menge beobachtete, sah Entsetzen und Furcht. Der König hielt lange genug inne, um ihnen Zeit zu geben, die Nachricht zu verarbeiten, dann fuhr er fort. Er lächelte.
»Aber wie es bei Magie immer der Fall ist, nichts ist simpel oder eindeutig.« Dakon beobachtete zu seiner Erheiterung, dass die Menschen in der Menge nickten, als wüssten sie, wovon der König sprach. »Die Sachakaner mögen uns überwältigt haben, aber jedes Mal haben sie dafür einen hohen Preis gezahlt. In der ersten Schlacht sind viele von ihnen gestorben, aber unsere Magier haben allesamt überlebt, um abermals zu kämpfen. In der zweiten Schlacht haben beide Seiten Verluste erlitten, aber wir waren fast ebenso stark wie die Feinde. Sie haben nur knapp gesiegt. Und wir haben überlebt, um abermals zu kämpfen.«
Er hielt erneut inne und ließ mit grimmiger Miene den Blick über die Menge gleiten. »Die dritte Schlacht wird über unsere Zukunft entscheiden.« Der Anflug eines Lächelns kehrte zurück. »Ich denke, wir können sie gewinnen. Warum? Weil unser Schicksal jetzt nicht nur von den Magiern hinter mir abhängt. Es hängt von euch ab.«
Dakon sah viele Menschen die Stirn runzeln, aber die meisten von ihnen waren einfach verwirrt. Er fing auch einige skeptische Blicke auf. Ein Raunen lief durch die Menge, das jedoch schnell wieder verebbte. Der König breitete die Arme weit aus, als wolle er die Menge umfassen.
»Unsere Zukunft hängt davon ab, dass ihr euren Magiern eure Stärke gebt. Eine Stärke, die ihr alle besitzt, ganz gleich, ob reich oder arm, und die ihr jenen geben könnt, die in der Lage sind, sie zu eurer Verteidigung zu nutzen. Ich sage ›geben‹, weil ich dies von keinem Mann und keiner Frau verlangen würde. Ihr seid keine Sklaven - obwohl ihr es, wenn es nach dem Willen der Sachakaner geht, bald sein werdet. Ich würde lieber sterben, als mich selbst oder mein Volk der Barbarei ihrer Sitten auszuliefern.«
Er drückte die Schultern durch. »Aber wenn ihr euch dafür entscheidet, eure Stärke den Magiern zu geben, wird es nicht nur magische Stärke sein, die wir nutzen, um die Sachakaner zu besiegen. Es wird die Stärke der Einigkeit sein. Die Stärke des Vertrauens und des Respektes vor dem, was wir alle gemeinsam erreichen können, Magier und Nichtmagier, Arm und Reich, Diener und Herr. Die Stärke der Freiheit, die über die Sklaverei triumphiert.« Er hob die Stimme. »Ihr werdet beweisen, dass man kein Magier zu sein braucht, um die Macht und den Einfluss zu haben, unsere Feinde zu besiegen.«
Als Dakon die Leidenschaft in der Stimme des Königs hörte, durchlief ihn ein Schauder der Erregung. Wieder blickte er forschend in die Gesichter der Menschen. Viele sahen den König voller Hoffnung und Ehrfurcht an. Als er die Arme hob und abermals ausbreitete, schrien die Menschen ihm ihre Zustimmung entgegen.
»Was sagen die Männer und Frauen von Kyralia zu diesem Vorschlag?«, rief der König. »Werdet ihr uns helfen?«
Die Antwort war eine Mischung aus Zustimmung und Jubel.
»Werdet ihr euch selbst helfen?«
Neuerlicher Jubel erklang, noch lauter diesmal.
»Dann kommt und gebt eure Stärke jenen, denen es obliegt, euch zu schützen.«
Die Menge geriet in Bewegung. Dakon sah, dass Sabins Lächeln einem Ausdruck des Erschreckens wich. Einige Schritte von dem Karren entfernt prallte die Woge von Menschen gegen eine unsichtbare Barriere. Aber es schien ihnen nichts auszumachen. Ungezählte Arme wurden ausgestreckt, die Handgelenke nach oben gedreht.
»Ja! Oh ja!«, erklang eine Stimme neben ihm. Dakon drehte sich um. Narvelan betrachtete die Menge, und seine Augen leuchteten beinahe hungrig. Er sah Dakon an. »Wie können wir jetzt noch unterliegen? Selbst wenn Takado die Diener findet... Wie könnten sie es mit dem aufnehmen, was wir hier haben? All diese Menschen, die uns anflehen, ihre Macht zu nehmen. Der König... ich hatte ja keine Ahnung, dass er sich so gut auf diese Dinge versteht.«
»Er hatte wahrscheinlich auch keine Ahnung«, bemerkte Dakon. »Schließlich musste er diese Fähigkeit bislang noch nie einsetzen.«
»Das ist richtig«, pflichtete Narvelan ihm bei. »Aber wenn das das Ergebnis einer guten Ausbildung ist, möchte ich seinen Lehrer in Dienst nehmen.«
Dakon lachte leise. Sabin richtete nun das Wort an die Magier und erklärte ihnen, wie sie sich formieren sollten, um die Macht der Menschen entgegenzunehmen. Dakon wurde schlagartig wieder nüchtern. Sie würden zügig zu Werke gehen müssen, bevor Zweifel und Ungeduld die Begeisterung der Menschen dämpften.
Und wir haben keine Ahnung, wie viel Zeit uns bleibt, bevor die Sachakaner eintreffen, um uns den Rest zu geben.
 
Die Vorstellung, Macht von Hunderten gewöhnlicher Männer und Frauen zu nehmen, hatte Jayan anfangs mit solchem Unbehagen erfüllt, dass er sich zu jedem Schritt des ein wenig vereinfachten Rituals hatte zwingen müssen. Die Freiwilligen waren zuerst nervös gewesen, aber sobald die Menschen hinter dem ersten Mann sahen, dass dieser anschließend die Achseln zuckte und grinsend davonging, entspannten sie sich und begannen, miteinander zu plaudern.
Alle Magier hatten sich in einer breiten Reihe aufgestellt. Die wogende Menge stand ihnen gegenüber, und sobald ein Platz frei wurde, trat der Nächste vor. Fast alle der Männer und Frauen, die zu Jayan kamen, murmelten ihm ermutigende Worte zu.
Er nickte jedes Mal und versicherte den Menschen, dass er alles in seiner Macht Stehende tun würde. Außerdem bedankte er sich bei ihnen. Unter der Höflichkeit brodelte in ihm jedoch ein Gefühl von Dringlichkeit. Eine Anspannung, die ihn dazu getrieben hätte, ständig über seine Schulter zu blicken, hätte er über die Grenzen der Stadt hinausschauen können.
Der König war an der Reihe der Wartenden entlanggeschritten und hatte den Menschen gedankt und sie ermutigt. Jayan sah die Familien von Magiern, die hergekommen waren, um sie zu begrüßen und ihre Erleichterung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass sie noch lebten. Er sah auch die Trauer jener, die gekommen waren, nur um erfahren zu müssen, dass Menschen, die sie geliebt hatten, umgekommen waren. Sein eigener Vater und sein Bruder erschienen nicht. Es hätte ihn auch erstaunt, wenn sie sich anders verhalten hätten.
Während der Tag sich dahinzog, beschlich ihn eine gewisse Erschöpfung; er hörte auf, sich Gedanken zu machen, und richtete seine ganze Aufmerksamkeit stattdessen auf die Aufgabe, Macht zu nehmen. Gesicht um Gesicht erschien und verschwand wieder. Er bemerkte es nicht länger, ob die Arme, die sich ihm hinstreckten, schmutzig oder sauber waren, ob sie mit Lumpen oder feinem Tuch bekleidet waren. Aber dann ließ ihn ein besonderes Paar sehr dünner Arme innehalten, und er schaute sich den Freiwilligen vor ihm genauer an.
Ein Junge von nicht mehr als neun Jahren erwiderte seinen Blick.
Hinter dem Jungen standen nur noch wenige Freiwillige, sodass er zwischen ihnen hindurch zum Rand des Platzes schauen konnte, wo sich eine Menschenmenge versammelt hatte, die darauf wartete, dass die letzte Schlacht begann. Über allem lag das fahle Licht der Abenddämmerung. Der Tag war vorüber. Er hatte Durst. Mikken hatte ihm zwischendurch etwas zu essen und Wasser gebracht, aber der Meisterschüler war nicht mehr in der Nähe.
Jetzt sah er den Jungen an und schüttelte den Kopf. »Du hast Mut, Kleiner«, sagte er lächelnd. »Aber wir nehmen keine Macht von Kindern.«
Die Schultern des Jungen sanken herab. Er stieß einen tiefen, komischen Seufzer aus, dann griff er in eine Tasche und streckte Jayan die Hand hin.
Was ist das? Versucht er, mir Geld zu geben? Oder etwas anderes? Etwas Schmutziges...
Jayan schob seine Zweifel beiseite und hielt die Hand auf. Der Junge ließ etwas Kleines, Dunkles hineinfallen. Er lächelte.
»Bringt dir Glück.« Dann drehte er sich um und huschte davon.
Jayan besah sich den Gegenstand. Es war ein unglasiertes Viereck aus Ton, an einer Ecke angeschlagen. Am oberen Rand befand sich ein Loch für eine Schlinge aus Leder oder Schnur, und in die Oberfläche waren Linien geritzt worden, um ein stilisiertes Insekt darzustellen, das er einmal auf einem von Dakons Büchern gesehen hatte.
Eine Inava, dachte er. Ob er wohl wusste, dass man Inavas in den nördlichen Bereichen Sachakas findet? Wahrscheinlich nicht.
Er steckte die Tonscheibe ein, sah auf und entdeckte den Grund, warum niemand vorgetreten war, um den Platz des Kindes einzunehmen: die Menge hatte sich inzwischen aufgelöst, alle hatten gegeben, was sie zu geben hatten. Magier schritten umher oder versammelten sich in Gruppen. Als er Dakon und Tessia entdeckte, ging er auf sie zu, aber bevor er sie erreichte, drehte der Magier sich um und eilte davon. Tessia sah ihn und winkte ihn heran.
»Man hat die Sachakaner von den Palasttürmen aus gesehen«, erklärte sie ihm. »Sie werden in etwa einer Stunde hier sein.« Sie runzelte die Stirn. »Denkst du, wir sind stark genug, um sie diesmal zu besiegen?«
Jayan nickte. »Selbst wenn es ihnen gelungen sein sollte, alle Diener einzufangen, und dazu Menschen aus den Dörfern, wären das nur einige hundert Personen. Wir haben soeben die Kraft von Tausenden aufgenommen.«
»Die Heiler sind vor einer Stunde eingetroffen. Ihren Berichten zufolge haben die Diener sich aufgeteilt und sich in verschiedene Richtungen auf den Weg gemacht, sodass es die Sachakaner viel Zeit gekostet hätte, sie alle aufzuspüren. Die Heiler hatten natürlich ihre eigenen Pferde, daher sind sie direkt hierhergeritten.«
Er hörte den Abscheu in ihrer Stimme.
»Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand, den die Sachakaner gefunden haben, ihrer Hilfe bedurft hätte«, bemerkte er.
»Ja, aber unter den Dienern befanden sich auch Kranke, um die die Heiler sich hätten kümmern sollen. Ich hätte gewartet, bis die Sachakaner nach Imardin gezogen wären, dann wäre ich umgekehrt, um festzustellen, ob meine Patienten überlebt haben.« Ein schiefes Lächeln glitt über ihre Züge. »Aber ich muss zugeben, dass ich mich selbstsüchtigerweise darüber freue, Kendaria wiederzusehen.«
Er lächelte. »Ich nehme an, ihr beide werdet heute Nacht viel zu tun haben, um Menschen zu heilen. Und das hoffentlich innerhalb der Sicherheit der Stadt.«
Tessia verzog das Gesicht, dann kehrte die Falte zwischen ihre Brauen zurück. »Während du zum ersten Mal gegen die Sachakaner kämpfen wirst.«
Furcht blitzte in ihm auf, aber er drängte die Regung beiseite. Die Stärke von Tausenden, rief er sich ins Gedächtnis. Wir können nicht verlieren. »Diesmal habe ich zumindest etwas beizutragen.«
»Aber du wirst doch vorsichtig sein, nicht wahr?«
Sie sah ihn so eindringlich an, und die Sorge in ihrer Stimme war so offenkundig, dass er ihr nicht in die Augen schauen konnte. Ich kann nicht hoffen, dass dies mehr ist als die Sorge eines Freundes, sagte er sich. Trotzdem ist es schön zu wissen, dass es jemanden kümmert, ob ich lebe oder sterbe, dachte er unwillkürlich. Ich bezweifle, dass mein Vater oder mein Bruder das Gleiche tun. »Natürlich«, antwortete er. »Ich habe nicht fast ein geschlagenes Jahrzehnt auf das Studium verwandt und darauf gebrannt, unabhängig zu sein, nur um zu sterben, kurz nachdem ich ein höherer Magier geworden bin.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Gut. Ich wollte nur sichergehen, dass die plötzliche Unabhängigkeit und der jüngste Vorgeschmack darauf, wie es ist, ein Anführer zu sein, dir nicht zu Kopf gestiegen sind und dich auf weitere törichte Ideen bringen.«
Er sah zu ihr auf. »Weitere törichte Ideen? Was...«
»Ich werde dich im Auge behalten«, warnte sie ihn. »Obwohl... was denkst du, wo die Schlacht stattfinden wird? In der Stadt?«
»Nein«, antwortete er. Meint sie meine Idee, eine Gilde der Magier zu gründen? »Das würde die Menschen in Gefahr bringen, sowohl durch unsere Magie wie auch durch die des Feindes. Außerdem könnten von Häusern, die getroffen werden, Trümmer herabfallen. Wir werden die Stadt verlassen, um uns ihnen entgegenzustellen. Was meinst du mit tö...?«
»Wo, glaubst du, wäre der beste Platz, um die Schlacht zu beobachten?«
Ein Stich der Sorge durchzuckte ihn. Sie sollte außer außerhalb der Gefahrenzone bleiben. Aber er bezweifelte, dass sie das tun würde, daher sollte er sich besser auf einen sicheren Ort besinnen, den er ihr vorschlagen konnte. »Irgendwo an einer erhöhten Stelle, je näher beim Palast, umso besser. Meide Häuser. Du solltest nicht in einem Haus sein, falls es von einem fehlgegangenen Schlag getroffen wird.«
»Aber ein fehlgeleiteter Schlag könnte mich ohnehin treffen.«
»Wenn deine Füße auf dem Boden stehen, brauchst du dich lediglich mit einem Schild zu schützen. Wenn du dich in einem einstürzenden Haus befindest, hättest du ein wenig mehr am Hals.«
»Ah.« Sie grinste. »Ich verstehe, was du meinst.«
Ihm schien sich das Herz in der Brust zu verkrampfen. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, wenn sie sterben sollte... Er drängte den Gedanken beiseite. »Also, was hast du gemeint mit...?«
Ein Gong erscholl und übertönte seine Worte. Tessia wandte sich ab. Seufzend folgte Jayan ihrem Blick zu dem Karren in der Mitte des Platzes. Der König war zurückgekehrt und stieg wieder hinauf. Sabin folgte ihm mit einem großen Klöppel. Man hatte einen wuchtigen goldenen Gong in einem Rahmen neben dem Karren aufgestellt; wahrscheinlich hatte man ihn vom Palast hierhergerollt.
Magier und Meisterschüler rückten näher heran. Dakon erschien mit Narvelan und den anderen Anführern. Als er Jayan und Tessia entdeckte, winkte er sie zu sich. Gemeinsam bahnten die beiden sich einen Weg zwischen den Magiern hindurch an seine Seite, wo sie eigenartigerweise auf Mikken trafen. Der junge Mann sah Jayan entschuldigend an.
»Tut mir leid, dass ich verschwunden bin. Sie haben mich als Boten rekrutiert«, murmelte er.
Dakon beugte sich vor. »Wir haben es mit weiteren Sachakanern zu tun«, eröffnete er Jayan. »Sie sind vor einigen Tagen im Süden aufgetaucht und auf dem Weg hierher.«
Mutlosigkeit stieg in Jayan auf.
»Wie viele?«, fragte er.
»Etwa zwanzig.«
Das wird gewiss nicht genug sein. Nicht gegen die Stärke von Tausenden. Aber dann durchzuckte ihn ein neuer Gedanke: Wenn Takado glaubte, sie seien der kyralischen Armee, die durch ihr Volk gestärkt wurde, nicht gewachsen, würde er nicht von neuem angreifen.
Dakon blickte zu Tessia hinüber. »Der König hat gesagt, dass die Meisterschüler, falls wir diese Schlacht verlieren, Kyralia verlassen sollen.«
Sie öffnete den Mund zu einem Protest, aber Dakon hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten.
»Die Sachakaner werden euch alle töten. Ihr habt nur eine einzige Chance - ihr müsst euch jenseits der Grenze in Sicherheit bringen. Dann könnt ihr vielleicht in Zukunft darauf hinarbeiten, Kyralia zurückzugewinnen.«
Sie schloss den Mund und nickte. Die Menge war inzwischen verstummt, und alle wandten sich dem König zu.
»Volk von Kyralia«, begann Errik.
Während der Herrscher das Wort an die Menge richtete, mit einer ähnlichen Ansprache wie der, die er bei seiner Ankunft gehalten hatte, diesmal jedoch voller Dank und Lob, wanderte Jayan zu der kleinen Gruppe von Elynern, die in der Nähe standen. Sie wirkten entspannt und sorglos. Einige von ihnen machten einen gelangweilten Eindruck, obwohl der Anführer König Errik mit nachdenklicher Aufmerksamkeit beobachtete. Dakon hatte ihm erzählt, dass Ardalens Trick für die Elyner keine Offenbarung gewesen sei.
Ich frage mich, welche anderen magischen Tricks sie die ganze Zeit über gekannt haben, von denen wir erst jetzt Kenntnis erhalten haben. Ob man sie dazu überreden könnte, sie mit uns zu teilen? Vielleicht im Austausch für eine Mitgliedschaft in einer Magiergilde? Er sah zu Tessia hinüber. Hält sie diese Idee wirklich für töricht?
Plötzlich begannen alle zu jubeln, und Jayan stimmte in den Jubel ein.
»Heute Nacht wird Sachaka lernen, das Volk zu fürchten, das einst sie gefürchtet hat«, rief der König. »Heute Nacht endet das sachakanische Reich für immer!«
Weiterer Jubel brandete auf. Der König sprang von dem Karren, gefolgt von Sabin. Dann schritt er an der Spitze seiner Magier aus. Dakon hielt kurz inne, um Tessia anzusehen. Sie klopfte ihm auf den Arm und scheuchte ihn fort. Dann blickte sie zu Jayan hinüber, und ihre Augen wurden schmal.
»Ich werde dich beobachten«, erklärte sie ihm, kaum hörbar bei all dem Lärm.
Einen Moment später hakte sie sich bei Mikken unter und führte ihn davon. Jayan erstickte ein jähes Auflodern von Eifersucht und eilte hinter Dakon her, während die Magier Kyralias sich auf den Stadtrand zubewegten, um Takado und seine Verbündeten zu besiegen.
Magie
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