39
Wer hätte gedacht, dass Pferde sich für
das Überleben der Armee als so ungeheuer wichtig entpuppen
würden?, überlegte Dakon.
Ihm fiel der Disput unter den Anführern vor der
Schlacht ein, als es um die Frage gegangen war, ob Magier bei den
Pferden bleiben sollten oder nicht. Alle waren sich einig gewesen,
dass sie für den Kampf mit den Sachakanern so viel wie möglich von
ihrer magischen Stärke benötigten. Es würde kein Trost sein, die
Pferde gerettet zu haben, wenn Kyralia deswegen an die Sachakaner
fiel.
Es war auch ein Risiko, die Meisterschüler im
Schutz nur eines einzigen Magiers zurückzulassen, dachte Dakon
weiter. Aber zumindest haben sie ein wenig eigene Magie, ihren
Verstand und die Fähigkeit, uns mitzuteilen, ob sie angegriffen
werden.
Den Dienern zufolge, die die Pferde versorgt
hatten, hatte nur eine Handvoll Sachakaner sie angegriffen. Es
bedurfte auch keiner größeren Zahl von ihnen, um so viel Schaden
anzurichten. Glücklicherweise waren die Sachakaner darauf aus
gewesen, die Tiere zu stehlen, nicht sie zu töten. Sie hätten sie
auf der Stelle abschlachten können, aber stattdessen hatte sich
jeder ein Pferd genommen, dann die Zügel so vieler anderer Tiere
wie möglich ergriffen und war verschwunden.
Sobald die Diener die Absichten der Feinde
durchschaut hatten, waren sie tapfer aus ihrem Versteck
hervorgekommen, um selbst die Pferde freizulassen und
wegzuscheuchen. Dann,
als die Sachakaner fort gewesen waren, hatten die Diener die
umherstreunenden Tiere nach bestem Vermögen wieder
zusammengetrieben.
Ich hoffe, der König belohnt sie für ihren Mut
und ihre Geistesgegenwart, ging es Dakon durch den Kopf.
Niemand ist auf den Gedanken gekommen, ihnen zu sagen, was sie
im Falle eines Angriffs tun sollten. Sie haben ganz und gar aus
eigenem Antrieb gehandelt.
Niemand wusste davon, dass die Pferde gestohlen
worden waren, bis die Kyralier versuchten, sich zurückzuziehen.
Sabin hatte die Blutjuwelenringe, die er angefertigt hatte,
ausschließlich der Armee ausgehändigt, mit der Begründung, dass zu
viele Köpfe, die mit seinem Bewusstsein verbunden waren, eine zu
große Ablenkung dargestellt hätten. Aus demselben Grund hatte er
auch Jayan keinen der Ringe gegeben.
Nachdem die Armee sich zurückgezogen hatte, waren
die Sachakaner ihnen gefolgt. Der Umstand, dass sie warten mussten,
bis genügend Pferde zusammengetrieben waren, verzögerte ihre
Flucht. Etliche weitere Kyralier waren gefallen, als den Magiern,
die sie schützten, die Kraft ausgegangen war. Zu guter Letzt war
weniger als zehn Magiern die Bürde zugefallen, die gesamte Armee zu
schützen.
Während die Diener mutig ihr Leben aufs Spiel
gesetzt hatten, um den Magiern wieder eingefangene Pferde zu
bringen, hatten die Sklaven der Sachakaner für ihre Herren das
Gleiche getan. Die Feinde setzten ihre Angriffe fort und verfolgten
die kyralische Armee Schritt für Schritt.
Sie waren entschlossen, ihren Vorteil zu nutzen.
Aber so weit hätte es gar nicht kommen dürfen. Sie waren uns
zahlenmäßig unterlegen, selbst nachdem neue Verbündete zu ihnen
gestoßen waren. Sie hätten nicht genug Gelegenheiten finden dürfen,
um die Stärke, die sie in der letzten Schlacht verloren haben,
zurückzugewinnen.
Aber sie hatten diese Gelegenheiten gefunden. Sie
hatten mehr Sklaven, von denen sie Magie beziehen konnten, als den
Kyraliern Meisterschüler und Diener zur Verfügung standen. Hinzu
kamen die Leben, die sie genommen hatten, sodass es ihnen gelungen
war, den Angriff abzuwehren und ihre Angreifer bis nach Kaltbrücken
zu jagen, wo sie die Verfolgung
aufgaben, um Jagd auf diejenigen Einwohner zu machen, denen es
nicht gelungen war, rechtzeitig zu fliehen.
Aber sie haben jede Menge Kämpfer verloren. Wir
haben fast ein Drittel verloren, aber ihre Verluste waren noch
höher.
Er blickte die Straße entlang, die sich vor ihnen
dahinschlängelte, und konzentrierte sich auf das Durcheinander aus
Mauern und Dächern. Imardin. Kyralias Hauptstadt. Ich kann nicht
glauben, dass sie uns so weit vor sich hergetrieben
haben.
Plötzlich scheute sein Pferd. Er umfasste die Zügel
fester, wappnete sich und blickte über die Schulter. Nichts. Nur
Getreide, das sich in der Brise wiegte.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Er hatte in
Mandryn sein Lieblingspferd verloren, und während der Jagd auf die
Eindringlinge hatte er die Tiere gewechselt, wann immer es möglich
gewesen war, aber er war außerstande gewesen, sie hinreichend zu
versorgen.
Tiro, das neue Pferd, versuchte ständig, ihn zu
beißen. Und Tiro war hässlich. Dakon wusste nicht, welchem der
verstorbenen Magier das Tier einst gehört hatte. Wer immer es
gewesen war, er musste große Geduld gehabt haben.
Er schaute zu Narvelan hinüber. Der
Gesichtsausdruck des jungen Magiers war düster und grüblerisch. Er
war in letzter Zeit immer düster und grüblerisch. Der unbeschwerte
Freund, den Dakon gekannt hatte, zeigte sich immer noch ab und zu,
aber in Narvelans Sinn für Humor schwang jetzt eine unangenehme
Schärfe mit. Er war der einzige Magier gewesen, der sich
bereitgefunden hatte, Lord Werrins Pferd zu übernehmen. Niemand
sonst hatte es haben wollen, wohlwissend, dass die Stute ihn
ständig an das Opfer ihres früheren Besitzers erinnern würde.
Dakon schauderte bei der Erinnerung. Als die letzte
Kraft der Magier zu versiegen drohte, hatte Lord Werrin die Armee
abgeschirmt, während alle sich bemüht hatten, sich auf die Pferde
zu schwingen und davonzureiten. Der König hatte ein Pferd zu Werrin
geführt. Der Magier hatte einige leise Worte mit dem König
gewechselt, der daraufhin blass geworden war und ihn einen Moment
lang angestarrt hatte. Dann hatten
Erriks Züge sich verhärtet. Er hatte genickt, den Arm seines
Freundes umfasst und sich dann abgewandt, wobei er das Pferd
mitgenommen hatte.
Werrin hatte seinen Schild noch immer
aufrechterhalten, als die letzten Magier davongeritten waren. Dakon
hatte sich die Zeit genommen, sich noch einmal umzudrehen, bevor
Narvelan ihn zur Eile getrieben hatte und sie beide davongaloppiert
waren.
Viel länger konnte Werrin nicht gelebt haben.
Später an jenem Tag waren die Elyner
erschienen.
Ah, welche Bitterkeit es mit sich brachte, wenn
die Dinge nicht zur rechten Zeit geschahen, ging es Dakon durch
den Sinn. Wenn sie nur ein oder zwei Tage früher gekommen wären.
Oder wenn wir gewusst hätten, dass sie kommen würden, dann hätten
wir vielleicht noch einen Tag länger gewartet, bevor wir uns den
Sachakanern entgegengestellt hätten.
So viele Tragödien hatten sich ereignet, weil
bestimmte Informationen nicht rechtzeitig eingetroffen waren. Er
hätte Mandryn nicht verlassen, hätte er von Takados bevorstehendem
Angriff gewusst. Er hätte das Dorf räumen lassen. Wenn der König
sicher gewesen wäre, dass die Sachakaner in das Land einfallen
würden, hätte er sich darauf vorbereiten können. Hätte es
vielleicht sogar verhindern können.
Niemand konnte die Zukunft voraussagen. Nicht
einmal ein Magier. Und selbst Magier konnten, was ihre eigene
Stärke oder die des Feindes betraf, nur Vermutungen anstellen.
Dakon war sich so sicher gewesen, dass sie mit einer Armee, die
größer war als die des Feindes, die Schlacht gewinnen würden. Er
und viele, viele andere hatten sich geirrt.
Würden sie sich wieder irren? Sie hatten keine
andere Wahl, als abermals zu versuchen, die Stärke des Feindes zu
erraten. Es waren mehr Sachakaner gestorben als Kyralier, obwohl
Erstere sich bemüht hatten, es ihren Gegnern gleichzutun und
einander zu schützen. Zahlenmäßig waren die Kyralier stärker
geworden.
Einmal mehr hatten sie überlebt, um sich aufs Neue
zu stärken. Bisher hatten sie von ihren Meisterschülern nur die
Stärke
eines einzigen Tages gewonnen. Die Sachakaner hatten Sklaven und
dazu all jene, die das Pech hatten, ihren Weg zu kreuzen.
Unglücklicherweise war nicht genug Zeit gewesen, um die Dörfer
zwischen Kaltbrücken und Imardin wirksam räumen zu lassen. Und dann
waren da noch die Diener der Armee, die sie in Kaltbrücken
zurückgelassen hatten. Obwohl sie ein wenig früher als die Städter
gewarnt worden waren, konnten die Sachakaner sie mühelos eingeholt
haben.
Kyralia hatte jedoch neue Verbündete: die
Elyner.
Ihr Anführer war ein kleiner, aber mit einem
scharfen Verstand gesegneter Magier namens Dem Ayend. Der Dem ritt
an der Spitze der Armee, zusammen mit dem König und Sabin. Sie
hatten auf dem Weg zur Stadt soeben eine niedrige Anhöhe überwunden
und konnten jetzt weit ins Land sehen. Es war übersät mit
unzähligen behelfsmäßigen Unterkünften und Menschen.
Das Herz tat Dakon weh, als er begriff, was dies
war. Die Elendsviertel rund um die Stadt waren auf das Hundertfache
ihrer ehemaligen Größe angeschwollen, als die Menschen vom Land
eingetroffen waren, Menschen, die kaum mehr besaßen als das, was
sie hatten tragen können, und die sich niederließen, wo immer sie
Platz fanden. Als die Armee näher kam, wurde ein bestimmter Gestank
stärker. Der Geruch war ihm bereits früher aufgefallen, aber er
hatte angenommen, es müsse sich dabei um die Exkremente der vielen
Tiere handeln, die auf den Hängen des breiten Tales grasten, das
Vieh jener, die vor den Eindringlingen geflohen waren. Jetzt
erkannte er in dem Gestank diesen bestimmten Geruch von Menschen,
die unter einfachsten Bedingungen auf beengtem Raum lebten ohne
jede Möglichkeit, ihren Unrat wegschaffen zu können.
Als die Armee noch näher rückte, kamen die Menschen
zwischen den Baracken hervor, und schon bald hatte sich zu beiden
Seiten der Straße eine große Menge versammelt. Was wissen sie?
Haben sie gehört, dass wir besiegt worden sind? Erwarten sie eine
triumphierende Siegeserklärung? Dakon sah, dass die Menschen
auch schon die Straßen innerhalb der Stadt säumten.
Tausende erwartungsvoller Gesichter sahen zu, wie
der König
die Armee durch die ausgedehnten Elendsviertel führte. Ein Tosen
von Stimmen erhob sich. Dakon konnte nicht erkennen, ob die
Menschen jubelten oder höhnten, ob sie lediglich versuchten, den
Lärm zu übertönen, oder ob sie die Magier anschrien, denn das
Getöse war ohrenbetäubend.
Die Armee war bis zum Marktplatz gezogen, wo der
König anhielt. Lord Sabin bedeutete den Magiern und
Meisterschülern, sich hinter ihm zu versammeln, mit dem Rücken zum
Hafen. Ein Karren wurde herbeigerollt, und der König kletterte
darauf. Dort stand er hoch aufgerichtet und schweigend und
betrachtete die Menge vor ihm mit einem Ausdruck ernster Geduld.
Lord Sabin trat neben ihn.
»Bitte, seid still, damit der König sprechen kann«,
rief er, eine Forderung, die er mehrmals wiederholen musste.
Langsam verebbte der Lärm.
»Männer und Frauen von Kyralia«, begann König
Errik. »Eure Magier haben für eure Freiheit gekämpft. Sie haben
gekämpft, und sie sind gestorben. Zweimal haben sie den Feind zu
einer Schlacht gestellt; zweimal sind sie besiegt worden.«
Dakon, der die Gesichter der Menge beobachtete, sah
Entsetzen und Furcht. Der König hielt lange genug inne, um ihnen
Zeit zu geben, die Nachricht zu verarbeiten, dann fuhr er fort. Er
lächelte.
»Aber wie es bei Magie immer der Fall ist, nichts
ist simpel oder eindeutig.« Dakon beobachtete zu seiner
Erheiterung, dass die Menschen in der Menge nickten, als wüssten
sie, wovon der König sprach. »Die Sachakaner mögen uns überwältigt
haben, aber jedes Mal haben sie dafür einen hohen Preis gezahlt. In
der ersten Schlacht sind viele von ihnen gestorben, aber unsere
Magier haben allesamt überlebt, um abermals zu kämpfen. In der
zweiten Schlacht haben beide Seiten Verluste erlitten, aber wir
waren fast ebenso stark wie die Feinde. Sie haben nur knapp
gesiegt. Und wir haben überlebt, um abermals zu kämpfen.«
Er hielt erneut inne und ließ mit grimmiger Miene
den Blick über die Menge gleiten. »Die dritte Schlacht wird über
unsere Zukunft entscheiden.« Der Anflug eines Lächelns kehrte
zurück.
»Ich denke, wir können sie gewinnen. Warum? Weil unser Schicksal
jetzt nicht nur von den Magiern hinter mir abhängt. Es hängt von
euch ab.«
Dakon sah viele Menschen die Stirn runzeln, aber
die meisten von ihnen waren einfach verwirrt. Er fing auch einige
skeptische Blicke auf. Ein Raunen lief durch die Menge, das jedoch
schnell wieder verebbte. Der König breitete die Arme weit aus, als
wolle er die Menge umfassen.
»Unsere Zukunft hängt davon ab, dass ihr euren
Magiern eure Stärke gebt. Eine Stärke, die ihr alle besitzt, ganz
gleich, ob reich oder arm, und die ihr jenen geben könnt, die in
der Lage sind, sie zu eurer Verteidigung zu nutzen. Ich sage
›geben‹, weil ich dies von keinem Mann und keiner Frau verlangen
würde. Ihr seid keine Sklaven - obwohl ihr es, wenn es nach dem
Willen der Sachakaner geht, bald sein werdet. Ich würde lieber
sterben, als mich selbst oder mein Volk der Barbarei ihrer Sitten
auszuliefern.«
Er drückte die Schultern durch. »Aber wenn ihr euch
dafür entscheidet, eure Stärke den Magiern zu geben, wird es nicht
nur magische Stärke sein, die wir nutzen, um die Sachakaner zu
besiegen. Es wird die Stärke der Einigkeit sein. Die Stärke des
Vertrauens und des Respektes vor dem, was wir alle gemeinsam
erreichen können, Magier und Nichtmagier, Arm und Reich, Diener und
Herr. Die Stärke der Freiheit, die über die Sklaverei triumphiert.«
Er hob die Stimme. »Ihr werdet beweisen, dass man kein Magier zu
sein braucht, um die Macht und den Einfluss zu haben, unsere Feinde
zu besiegen.«
Als Dakon die Leidenschaft in der Stimme des Königs
hörte, durchlief ihn ein Schauder der Erregung. Wieder blickte er
forschend in die Gesichter der Menschen. Viele sahen den König
voller Hoffnung und Ehrfurcht an. Als er die Arme hob und abermals
ausbreitete, schrien die Menschen ihm ihre Zustimmung
entgegen.
»Was sagen die Männer und Frauen von Kyralia zu
diesem Vorschlag?«, rief der König. »Werdet ihr uns helfen?«
Die Antwort war eine Mischung aus Zustimmung und
Jubel.
»Werdet ihr euch selbst helfen?«
Neuerlicher Jubel erklang, noch lauter
diesmal.
»Dann kommt und gebt eure Stärke jenen, denen es
obliegt, euch zu schützen.«
Die Menge geriet in Bewegung. Dakon sah, dass
Sabins Lächeln einem Ausdruck des Erschreckens wich. Einige
Schritte von dem Karren entfernt prallte die Woge von Menschen
gegen eine unsichtbare Barriere. Aber es schien ihnen nichts
auszumachen. Ungezählte Arme wurden ausgestreckt, die Handgelenke
nach oben gedreht.
»Ja! Oh ja!«, erklang eine Stimme neben ihm. Dakon
drehte sich um. Narvelan betrachtete die Menge, und seine Augen
leuchteten beinahe hungrig. Er sah Dakon an. »Wie können wir jetzt
noch unterliegen? Selbst wenn Takado die Diener findet... Wie
könnten sie es mit dem aufnehmen, was wir hier haben? All diese
Menschen, die uns anflehen, ihre Macht zu nehmen. Der König... ich
hatte ja keine Ahnung, dass er sich so gut auf diese Dinge
versteht.«
»Er hatte wahrscheinlich auch keine Ahnung«,
bemerkte Dakon. »Schließlich musste er diese Fähigkeit bislang noch
nie einsetzen.«
»Das ist richtig«, pflichtete Narvelan ihm bei.
»Aber wenn das das Ergebnis einer guten Ausbildung ist, möchte ich
seinen Lehrer in Dienst nehmen.«
Dakon lachte leise. Sabin richtete nun das Wort an
die Magier und erklärte ihnen, wie sie sich formieren sollten, um
die Macht der Menschen entgegenzunehmen. Dakon wurde schlagartig
wieder nüchtern. Sie würden zügig zu Werke gehen müssen, bevor
Zweifel und Ungeduld die Begeisterung der Menschen dämpften.
Und wir haben keine Ahnung, wie viel Zeit uns
bleibt, bevor die Sachakaner eintreffen, um uns den Rest zu
geben.
Die Vorstellung, Macht von Hunderten gewöhnlicher
Männer und Frauen zu nehmen, hatte Jayan anfangs mit solchem
Unbehagen erfüllt, dass er sich zu jedem Schritt des ein wenig
vereinfachten Rituals hatte zwingen müssen. Die Freiwilligen
waren zuerst nervös gewesen, aber sobald die Menschen hinter dem
ersten Mann sahen, dass dieser anschließend die Achseln zuckte und
grinsend davonging, entspannten sie sich und begannen, miteinander
zu plaudern.
Alle Magier hatten sich in einer breiten Reihe
aufgestellt. Die wogende Menge stand ihnen gegenüber, und sobald
ein Platz frei wurde, trat der Nächste vor. Fast alle der Männer
und Frauen, die zu Jayan kamen, murmelten ihm ermutigende Worte
zu.
Er nickte jedes Mal und versicherte den Menschen,
dass er alles in seiner Macht Stehende tun würde. Außerdem bedankte
er sich bei ihnen. Unter der Höflichkeit brodelte in ihm jedoch ein
Gefühl von Dringlichkeit. Eine Anspannung, die ihn dazu getrieben
hätte, ständig über seine Schulter zu blicken, hätte er über die
Grenzen der Stadt hinausschauen können.
Der König war an der Reihe der Wartenden
entlanggeschritten und hatte den Menschen gedankt und sie ermutigt.
Jayan sah die Familien von Magiern, die hergekommen waren, um sie
zu begrüßen und ihre Erleichterung darüber zum Ausdruck zu bringen,
dass sie noch lebten. Er sah auch die Trauer jener, die gekommen
waren, nur um erfahren zu müssen, dass Menschen, die sie geliebt
hatten, umgekommen waren. Sein eigener Vater und sein Bruder
erschienen nicht. Es hätte ihn auch erstaunt, wenn sie sich anders
verhalten hätten.
Während der Tag sich dahinzog, beschlich ihn eine
gewisse Erschöpfung; er hörte auf, sich Gedanken zu machen, und
richtete seine ganze Aufmerksamkeit stattdessen auf die Aufgabe,
Macht zu nehmen. Gesicht um Gesicht erschien und verschwand wieder.
Er bemerkte es nicht länger, ob die Arme, die sich ihm
hinstreckten, schmutzig oder sauber waren, ob sie mit Lumpen oder
feinem Tuch bekleidet waren. Aber dann ließ ihn ein besonderes Paar
sehr dünner Arme innehalten, und er schaute sich den Freiwilligen
vor ihm genauer an.
Ein Junge von nicht mehr als neun Jahren erwiderte
seinen Blick.
Hinter dem Jungen standen nur noch wenige
Freiwillige, sodass er zwischen ihnen hindurch zum Rand des Platzes
schauen konnte, wo sich eine Menschenmenge versammelt hatte, die
darauf wartete, dass die letzte Schlacht begann. Über allem lag das
fahle Licht der Abenddämmerung. Der Tag war vorüber. Er hatte
Durst. Mikken hatte ihm zwischendurch etwas zu essen und Wasser
gebracht, aber der Meisterschüler war nicht mehr in der Nähe.
Jetzt sah er den Jungen an und schüttelte den Kopf.
»Du hast Mut, Kleiner«, sagte er lächelnd. »Aber wir nehmen keine
Macht von Kindern.«
Die Schultern des Jungen sanken herab. Er stieß
einen tiefen, komischen Seufzer aus, dann griff er in eine Tasche
und streckte Jayan die Hand hin.
Was ist das? Versucht er, mir Geld zu geben?
Oder etwas anderes? Etwas Schmutziges...
Jayan schob seine Zweifel beiseite und hielt die
Hand auf. Der Junge ließ etwas Kleines, Dunkles hineinfallen. Er
lächelte.
»Bringt dir Glück.« Dann drehte er sich um und
huschte davon.
Jayan besah sich den Gegenstand. Es war ein
unglasiertes Viereck aus Ton, an einer Ecke angeschlagen. Am oberen
Rand befand sich ein Loch für eine Schlinge aus Leder oder Schnur,
und in die Oberfläche waren Linien geritzt worden, um ein
stilisiertes Insekt darzustellen, das er einmal auf einem von
Dakons Büchern gesehen hatte.
Eine Inava, dachte er. Ob er wohl wusste,
dass man Inavas in den nördlichen Bereichen Sachakas findet?
Wahrscheinlich nicht.
Er steckte die Tonscheibe ein, sah auf und
entdeckte den Grund, warum niemand vorgetreten war, um den Platz
des Kindes einzunehmen: die Menge hatte sich inzwischen aufgelöst,
alle hatten gegeben, was sie zu geben hatten. Magier schritten
umher oder versammelten sich in Gruppen. Als er Dakon und Tessia
entdeckte, ging er auf sie zu, aber bevor er sie erreichte, drehte
der Magier sich um und eilte davon. Tessia sah ihn und winkte ihn
heran.
»Man hat die Sachakaner von den Palasttürmen aus
gesehen«, erklärte sie ihm. »Sie werden in etwa einer Stunde hier
sein.« Sie runzelte die Stirn. »Denkst du, wir sind stark genug,
um sie diesmal zu besiegen?«
Jayan nickte. »Selbst wenn es ihnen gelungen sein
sollte, alle Diener einzufangen, und dazu Menschen aus den Dörfern,
wären das nur einige hundert Personen. Wir haben soeben die Kraft
von Tausenden aufgenommen.«
»Die Heiler sind vor einer Stunde eingetroffen.
Ihren Berichten zufolge haben die Diener sich aufgeteilt und sich
in verschiedene Richtungen auf den Weg gemacht, sodass es die
Sachakaner viel Zeit gekostet hätte, sie alle aufzuspüren. Die
Heiler hatten natürlich ihre eigenen Pferde, daher sind sie direkt
hierhergeritten.«
Er hörte den Abscheu in ihrer Stimme.
»Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand, den
die Sachakaner gefunden haben, ihrer Hilfe bedurft hätte«, bemerkte
er.
»Ja, aber unter den Dienern befanden sich auch
Kranke, um die die Heiler sich hätten kümmern sollen. Ich hätte
gewartet, bis die Sachakaner nach Imardin gezogen wären, dann wäre
ich umgekehrt, um festzustellen, ob meine Patienten überlebt
haben.« Ein schiefes Lächeln glitt über ihre Züge. »Aber ich muss
zugeben, dass ich mich selbstsüchtigerweise darüber freue, Kendaria
wiederzusehen.«
Er lächelte. »Ich nehme an, ihr beide werdet heute
Nacht viel zu tun haben, um Menschen zu heilen. Und das hoffentlich
innerhalb der Sicherheit der Stadt.«
Tessia verzog das Gesicht, dann kehrte die Falte
zwischen ihre Brauen zurück. »Während du zum ersten Mal gegen die
Sachakaner kämpfen wirst.«
Furcht blitzte in ihm auf, aber er drängte die
Regung beiseite. Die Stärke von Tausenden, rief er sich ins
Gedächtnis. Wir können nicht verlieren. »Diesmal habe ich
zumindest etwas beizutragen.«
»Aber du wirst doch vorsichtig sein, nicht
wahr?«
Sie sah ihn so eindringlich an, und die Sorge in
ihrer Stimme war so offenkundig, dass er ihr nicht in die Augen
schauen konnte. Ich kann nicht hoffen, dass dies mehr ist als
die Sorge eines
Freundes, sagte er sich. Trotzdem ist es schön zu wissen, dass
es jemanden kümmert, ob ich lebe oder sterbe, dachte er
unwillkürlich. Ich bezweifle, dass mein Vater oder mein Bruder
das Gleiche tun. »Natürlich«, antwortete er. »Ich habe nicht
fast ein geschlagenes Jahrzehnt auf das Studium verwandt und darauf
gebrannt, unabhängig zu sein, nur um zu sterben, kurz nachdem ich
ein höherer Magier geworden bin.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Gut. Ich wollte nur
sichergehen, dass die plötzliche Unabhängigkeit und der jüngste
Vorgeschmack darauf, wie es ist, ein Anführer zu sein, dir nicht zu
Kopf gestiegen sind und dich auf weitere törichte Ideen
bringen.«
Er sah zu ihr auf. »Weitere törichte Ideen?
Was...«
»Ich werde dich im Auge behalten«, warnte sie ihn.
»Obwohl... was denkst du, wo die Schlacht stattfinden wird? In der
Stadt?«
»Nein«, antwortete er. Meint sie meine Idee,
eine Gilde der Magier zu gründen? »Das würde die Menschen in
Gefahr bringen, sowohl durch unsere Magie wie auch durch die des
Feindes. Außerdem könnten von Häusern, die getroffen werden,
Trümmer herabfallen. Wir werden die Stadt verlassen, um uns ihnen
entgegenzustellen. Was meinst du mit tö...?«
»Wo, glaubst du, wäre der beste Platz, um die
Schlacht zu beobachten?«
Ein Stich der Sorge durchzuckte ihn. Sie sollte
außer außerhalb der Gefahrenzone bleiben. Aber er bezweifelte,
dass sie das tun würde, daher sollte er sich besser auf einen
sicheren Ort besinnen, den er ihr vorschlagen konnte. »Irgendwo an
einer erhöhten Stelle, je näher beim Palast, umso besser. Meide
Häuser. Du solltest nicht in einem Haus sein, falls es von einem
fehlgegangenen Schlag getroffen wird.«
»Aber ein fehlgeleiteter Schlag könnte mich ohnehin
treffen.«
»Wenn deine Füße auf dem Boden stehen, brauchst du
dich lediglich mit einem Schild zu schützen. Wenn du dich in einem
einstürzenden Haus befindest, hättest du ein wenig mehr am
Hals.«
»Ah.« Sie grinste. »Ich verstehe, was du
meinst.«
Ihm schien sich das Herz in der Brust zu
verkrampfen. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, wenn
sie sterben sollte... Er drängte den Gedanken beiseite. »Also,
was hast du gemeint mit...?«
Ein Gong erscholl und übertönte seine Worte. Tessia
wandte sich ab. Seufzend folgte Jayan ihrem Blick zu dem Karren in
der Mitte des Platzes. Der König war zurückgekehrt und stieg wieder
hinauf. Sabin folgte ihm mit einem großen Klöppel. Man hatte einen
wuchtigen goldenen Gong in einem Rahmen neben dem Karren
aufgestellt; wahrscheinlich hatte man ihn vom Palast
hierhergerollt.
Magier und Meisterschüler rückten näher heran.
Dakon erschien mit Narvelan und den anderen Anführern. Als er Jayan
und Tessia entdeckte, winkte er sie zu sich. Gemeinsam bahnten die
beiden sich einen Weg zwischen den Magiern hindurch an seine Seite,
wo sie eigenartigerweise auf Mikken trafen. Der junge Mann sah
Jayan entschuldigend an.
»Tut mir leid, dass ich verschwunden bin. Sie haben
mich als Boten rekrutiert«, murmelte er.
Dakon beugte sich vor. »Wir haben es mit weiteren
Sachakanern zu tun«, eröffnete er Jayan. »Sie sind vor einigen
Tagen im Süden aufgetaucht und auf dem Weg hierher.«
Mutlosigkeit stieg in Jayan auf.
»Wie viele?«, fragte er.
»Etwa zwanzig.«
Das wird gewiss nicht genug sein. Nicht gegen
die Stärke von Tausenden. Aber dann durchzuckte ihn ein neuer
Gedanke: Wenn Takado glaubte, sie seien der kyralischen Armee, die
durch ihr Volk gestärkt wurde, nicht gewachsen, würde er nicht von
neuem angreifen.
Dakon blickte zu Tessia hinüber. »Der König hat
gesagt, dass die Meisterschüler, falls wir diese Schlacht
verlieren, Kyralia verlassen sollen.«
Sie öffnete den Mund zu einem Protest, aber Dakon
hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten.
»Die Sachakaner werden euch alle töten. Ihr habt
nur eine
einzige Chance - ihr müsst euch jenseits der Grenze in Sicherheit
bringen. Dann könnt ihr vielleicht in Zukunft darauf hinarbeiten,
Kyralia zurückzugewinnen.«
Sie schloss den Mund und nickte. Die Menge war
inzwischen verstummt, und alle wandten sich dem König zu.
»Volk von Kyralia«, begann Errik.
Während der Herrscher das Wort an die Menge
richtete, mit einer ähnlichen Ansprache wie der, die er bei seiner
Ankunft gehalten hatte, diesmal jedoch voller Dank und Lob,
wanderte Jayan zu der kleinen Gruppe von Elynern, die in der Nähe
standen. Sie wirkten entspannt und sorglos. Einige von ihnen
machten einen gelangweilten Eindruck, obwohl der Anführer König
Errik mit nachdenklicher Aufmerksamkeit beobachtete. Dakon hatte
ihm erzählt, dass Ardalens Trick für die Elyner keine Offenbarung
gewesen sei.
Ich frage mich, welche anderen magischen Tricks
sie die ganze Zeit über gekannt haben, von denen wir erst jetzt
Kenntnis erhalten haben. Ob man sie dazu überreden könnte, sie mit
uns zu teilen? Vielleicht im Austausch für eine Mitgliedschaft in
einer Magiergilde? Er sah zu Tessia hinüber. Hält sie diese
Idee wirklich für töricht?
Plötzlich begannen alle zu jubeln, und Jayan
stimmte in den Jubel ein.
»Heute Nacht wird Sachaka lernen, das Volk zu
fürchten, das einst sie gefürchtet hat«, rief der König. »Heute
Nacht endet das sachakanische Reich für immer!«
Weiterer Jubel brandete auf. Der König sprang von
dem Karren, gefolgt von Sabin. Dann schritt er an der Spitze seiner
Magier aus. Dakon hielt kurz inne, um Tessia anzusehen. Sie klopfte
ihm auf den Arm und scheuchte ihn fort. Dann blickte sie zu Jayan
hinüber, und ihre Augen wurden schmal.
»Ich werde dich beobachten«, erklärte sie ihm, kaum
hörbar bei all dem Lärm.
Einen Moment später hakte sie sich bei Mikken unter
und führte ihn davon. Jayan erstickte ein jähes Auflodern von
Eifersucht und eilte hinter Dakon her, während die Magier Kyralias
sich auf den Stadtrand zubewegten, um Takado und seine Verbündeten
zu besiegen.