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»Deswegen hat er den Mond angeheult!«, sagte Madouc nachdenklich. »Der Mond ist ein Ziegenkäse! Ein Ziegenkäse, den er nicht einpacken konnte!«
Die Schafe machten skeptische Gesichter. Die Theorie vom Ziegenkäsemond war mehr als umstritten.
Es lag schon einige Tage zurück, trotzdem waren die Schafe noch immer dabei, die vielen Dinge wiederzukäuen, die seit Vollmond auf ihrer Weide passiert waren.
»Ich glaube nicht, dass Eric den Mond angeheult hat«, sagte Miss Maple.
»Aber...«, blökte Heide. Immer glaubte Maple alles nicht!
»Ich glaube, dass sein Hund den Mond angeheult hat«, erklärte Miss Maple. »Der Wolfhund, von dem Mopple erzählt hat.«
»Weil der Mond ein Schaf ist?«, fragte Cordelia.
»Weil er einsam war«, sagte Miss Maple. »Wenn der Garou jagte, war sein Hund allein.«
Die anderen nickten weise, kauten vorsichtig und hielten sich vom Weidezaun fern. Sie waren noch immer etwas nervös. In den letzten Tagen war auf dem Hof der Teufel los gewesen, und leider nicht in Gestalt eines freundlichen Herren mit Hufen und Hörnern.
»Die Teufel«, murmelte Maple auf einmal. Vor Nachdenken und Kombinieren kam sie zurzeit kaum zum Grasen. »Mama hat Recht - die Karten helfen einem wirklich zu sehen. Man muss nur wissen, wie: drei Teufel - und keiner war an allem schuld, aber jeder an ein bisschen etwas. Der Garou an den Rehen und früher an Schafen und Menschen. Mit dem Garou hat alles angefangen. Dann kamen die Spaziergänger und haben ihn nachgeahmt. Und der Ziegenhirt hat Yves erschossen, aber eigentlich wollte er den Garou erschießen!«
Malonchot hatte lange mit Rebecca gesprochen und ihr alles erklärt. Dann waren auf einmal viele Mützenmänner aufgetaucht und hatten angefangen, Menschen mitzunehmen.
Zuerst die beiden Spaziergänger, die sich gegenseitig die Nasen blutig geschlagen hatten, später den Häher mit einer Binde um den Kopf, die Plin und zwei Tage später Eric, den man im See gefunden hatte, bleich und ausgesprochen steif. Die Schafe hatten ein wenig Angst gehabt, dass die Männer in ihrem Enthusiasmus auch Rebecca mitnehmen würden.
Doch Rebecca blieb.
Hortense war viel bei ihr im Schäferwagen gesessen und hatte geheult und geheult und geheult.
Dann hatten die Mützenmänner Dinge in Erics Haus gefunden. Vor allem Bilder, schön und künstlerisch und mit viel Rot, aber auch Schlafpulver und Tagebücher, den Wolfhund und Vidocq, die sich angefreundet hatten. Hortense hatte mit dem Heulen wieder aufgehört und versprochen, sich um die beiden Hunde zu kümmern.
Kurz darauf hatten die Mützenmänner auch noch den Ziegenhirten mitgenommen. Der Ziegenhirt hatte dabei ausgesprochen glücklich ausgesehen. Die Ziegen wurden von nun an von der Fronsac gefüttert, und sie kamen nicht schlecht weg dabei.
Mama hatte dem kleineren der beiden Jungmenschen und seinem Rüsseltier die Karten gelegt, ganz ohne Teufel, mit Gerechtigkeit und Mäßigung.
Es waren stressige Tage für die Schafe gewesen, ohne Fernsehen und Vorlesen, aber jetzt stand die Abreise kurz bevor.
Diesmal ging es auf einen Pferdegnadenhof. Die Schafe waren gespannt.
Die große Schere schnappte in die Luft wie eine aggressive Krähe, und die Schafe schauderten.
»Okay«, sagte Rebecca. »Dann wollen wir mal!«
Gemeinsam mit Zach und Mama hatte sie den Ungeschorenen in den Pferch getrieben, und nun ging es ihm an die Wolle. Schur! Mitten im Winter! Der Tierarzt war auch da.
Nur ein bisschen, hatte Rebecca den Schafen versprochen, damit er wieder aus den Augen sehen konnte. Hufe schneiden. Augentropfen. Kalziumtablette. Wurmkur. Das volle Programm.
Aber erst einmal mussten sie ihn kriegen. Der Ungeschorene war nicht der Schnellste, aber er war ein geübter Ducker, Wender und Haken-Schlager. Und er war stark. Rebecca schnaufte. Zach verlor seine Sonnenbrille und blinzelte.
Die Schafe standen draußen am Zaun und gaben gute Ratschläge.
»Nicht in die Ecke!«, blökte Cloud. »Ein bisschen nach links!«, blökte Heide. »Mehr nach rechts!«, blökte Maude. »Vorsicht, hinter dir!«, blökte Heathcliff. »Vorwärts!«, blökte Sir Ritchfield.
Der Ungeschorene blieb stehen und guckte verwirrt. Zach sprang und erwischte ihn an den Hinterbeinen.
»Am besten, du hältst jetzt einfach still und wartest, bis alles vorbei ist!«, erklärte Lane. Es war einer jener guten Ratschläge, die jeder gerne zum Besten gab und die nie jemand befolgte.
Die Schere klapperte, und viel verfilzte Wolle fiel zu Boden.
Kräftige Schafsbeine kamen zum Vorschein und breite, zersplitterte Hufe. Rebecca stöhnte, als sie die Hufe sah. Mehr Wolle fiel: ein Rücken, ein Hals, ein Schafskopf. Wachsame Schafsohren. Selbst die größten Skeptiker mussten nun zugeben, dass der Ungeschorene - der Halbgeschorene? - eindeutig ein Schaf war, ein kräftiger Widder mit runden, bernsteinfarbenen Hörnern und verträumten Augen. Er kickte ein bisschen und blökte ein bisschen, aber im Großen und Ganzen ließ er die Sache mit Würde über sich ergehen. Ganz im Gegensatz zu Rebecca. Sie hatten ihre Schäferin noch nie ein Schaf scheren sehen - wahrscheinlich, weil sie noch nie in ihrem Leben ein Schaf geschoren hatte. Sie fluchte und schnaufte, verlor ihre Brotmütze und schnitt Zach fast ein Ohr ab.
Anschließend gab es auf der Weide beinahe zwei neue Schafe: den Fremden - und Zach, dessen schwarzer Anzug so sehr mit weißen Wollzusseln übersät war, dass er einem Schaf zum Verwechseln ähnlich sah. Der Frischgeschorene selbst sah ein bisschen wie eine Wolke aus - eine von den eher unregelmäßigen -, und schon bald machte das Gerücht die Runde, dass es sich vielleicht um ein Wolkenschaf handeln könnte.
»Das wäre geschafft!«, sagte Rebecca zufrieden.
Mama sagte nichts und zupfte sich mit spitzen Fingern Wollfäden von der Jacke.
»Ich brauche eine Maniküre«, seufzte sie.
Rebecca grinste und klickte drohend mit der Hufschneideschere.
Anschließend saßen die beiden Frauen rauchend auf den Stufen des Schäferwagens und sahen dem Schnee beim Tauen zu. Schweigend.
»Den Mafioso haben sie noch immer nicht«, sagte Rebecca schließlich. »Er muss wichtig sein. International. Maurice sollte ihm nach einer Schießerei ein neues Gesicht geben, und anschließend musste er natürlich selbst dran glauben - damit niemand das neue Gesicht beschreiben konnte. Das hätte ich ihm vorher sagen können. Wie konnte er sich nur auf so was einlassen?«
»Gier«, sagte Mama und blies Rauch in die Luft.
»Schulden.« Rebecca seufzte. »Kannst du glauben, dass diese komischen Wintergäste wirklich Auftragskiller waren? Die sahen so harmlos aus!«
»Ich hatte gleich ein komisches Gefühl«, sagte Mama. »Wer so viel duscht, ist nicht normal.«
»Du hast immer ein komisches Gefühl«, sagte Rebecca.
»Und? Hatte ich vielleicht nicht Recht? Dieser Hirt! Und dieser schreckliche Eric!«
»Ich ... ich kann ihn irgendwie verstehen«, murmelte Rebecca. »Natürlich nicht das, was er getan hat, aber... ich war eine Nacht in diesem furchtbaren Zimmer. Und er war da ein halbes Jahr und hat jede Nacht zu diesem Wolf hinaufgestarrt. Und das während eines Drogenentzugs. Und wer weiß, was ihm dieser kranke alte Nervenarzt so alles erzählt hat. Der hat ihm doch ganz bewusst... und Erics Wappentier war auch noch ein Wolf. Der Alte hat das wahrscheinlich für einen wahnsinnig guten Witz gehalten. Dort oben ist alles so blass und starr, weißt du, und man bekommt so einen Hunger nach Farbe und Bewegung.«
»Er hätte wenigstens die Menschen in Frieden lassen sollen«, sagte Mama und schnippte ihren Zigarettenstummel in den Schnee. »Und die Schafe«, fügte sie dann gönnerhaft hinzu.
»Der Polizeipsychologe sagt, er hat wahrscheinlich versucht, sich auf Rehe zu beschränken. Aber nach den Jagden konnte er keine Rehe betäuben, weil die viel zu scheu waren, drum...« Rebecca brach ab. »Ich hoffe, der Polizeipsychologe lässt mich jetzt in Frieden. Ich möchte eigentlich nur weg von hier und die ganze Sache vergessen.«
»Unsinn«, sagte Mama und zündete sich eine zweite Zigarette an. »Du solltest ein Buch schreiben. Oder wenigstens ein Interview geben. >Im Rachen des Werwolfs< oder so. Glaub mir, das zieht.«
»Aber eingesperrt hat mich doch der Ziegenhirt.«
»Details.« Mama wedelte geringschätzig mit der Zigarette. »Dann gibst du später eben noch ein zweites Interview, >In den Fängen des Werwolfsrächers<. Was meinst du? Wie haben sie den eigentlich erwischt?«
»Er hat sich selbst gestellt und alles gestanden. Seit er weiß, dass der Garou tot ist, ist das ein vollkommen anderer Mensch. Er hat sich sogar bei mir entschuldigt, weil er mir eine übergezogen hat.«
»Das verzeih ich ihm«, sagte Mama.
»Du?«, fragte Rebecca.
»Das und Yves obendrein«, sagte Mama. »Seine Frau und sein Kind, stell dir das vor. Ich sage dir, wenn dir etwas passiert wäre, säße ich jetzt auch mit Silberkugeln bewaffnet im Wald.«
»Tess«, sagte Rebecca nach einer Weile. »Tess verzeihe ich ihm nicht so einfach.«
»Das war auch er?«
Rebecca nickte. »Damit sie seine Werwolfsfalle nicht stört. Eric hätte Tess nie etwas getan. Er mochte sie so sehr. Komisch, nicht?«
»Komisch«, sagte Mama und stand auf. »Ich geh rein. Mir ist kalt.«
Und als Rebecca nicht hinsah, schnippte sie auch ihre zweite Zigarette in den Schnee.
Das Schloss schrumpfte wie Schnee in der Sonne, nur schneller, und die Schafe sahen ihm aus dem Hinterteil des Autos dabei zu. Der Abschied von dem roten Apfel im Obstgarten war ihnen überraschend schwergefallen. Aber eigentlich waren sie froh, dass es weiterging. Vielleicht würden sie jetzt doch noch Georges Europa entdecken, das Europa der Apfelbäume, der grünen Wiesen und der langen Brote! Ein Europa ohne Wölfe und Ziegen jedenfalls!
»Da ist Madouc!«, sagte Heide plötzlich.
Und tatsächlich: eine kleine schwarze Ziege rannte hinter ihrem Auto her. Rannte wie verrückt.
»Ich glaube, sie will mit«, sagte Cloud.
Die Schafe sahen sich einen Moment lang schweigend an, dann löste Lane mit ihrer geschickten Schnauze die Klappe am Hinterteil des Autos.
Die Klappe schleifte. Das Auto wurde langsamer.
Madouc rannte schneller.
Schließlich schaffte sie es und landete mit einem bewundernswert weiten Ziegensprung zwischen den Schafen. Die Schafe guckten ein wenig verlegen.
»Ich glaube, das ist ein Schaf!«, blökte Sir Ritchfield plötzlich.
»Ein Schaf! Ein Schaf!«, blökten auch die anderen erleichtert. Wenn Madouc ein Schaf war, würde ihr Leben in Zukunft um einiges leichter sein!
»Keine Sorge«, raunte Heathcliff Madouc ins Ohr. »Es ist nicht so schwer, ein Schaf zu sein. Ich zeige dir, wie es geht!«
»Wir sind jetzt ein Schaf«, sagte Madouc zu der kleinen schwarzen Ziege, die immer dabei war. Die kleine schwarze Ziege sah stolz aus.
Das Auto hielt an, und der haarige Fahrer kam nach hinten und klappte das Hinterteil des Autos wieder zu.
Die Schafe äugten neugierig nach draußen, in den Wald hinein.
»Guckt mal!«, sagte Ramses.
Die Schafe guckten. Wenn Ramses etwas sagte, hörten sie ihm jetzt immer sehr genau zu.
»Was ist?«, fragte Heide, aber dann sah sie es auch. Alle Schafe sahen es.
Etwas Leises, Schönes und Wichtiges.
Wie jeden Abend kam auch heute die Dunkelheit aus dem Wald gekrochen. Aber diesmal sah es so aus, als würde sich das Licht festhalten, an jedem Baum, jedem Stamm, jedem Zweig, um noch etwas länger in der Welt zu bleiben, und nur langsam und widerwillig floss es von der Straße, von den Bäumen und vom Himmel.
Es war das Wichtigste, das die Schafe seit langer Zeit gesehen hatten. Es bedeutete Grün und Gras und Lämmer und Wiesen und Sprünge in die Luft.
Es bedeutete Frühling.
Auf einmal konnten die Schafe auch etwas Besonderes riechen.
Die Menschen hatten nicht Recht. Das Wachsen des Grases war kein Geräusch. Es war ein Geruch. Ein sehr schöner Geruch.
»Speusipp!«, sagte Madouc.
»Hindley, Hareton, Hannibal«, sagte Heathcliff.
»Ich weiß nicht«, sagte der namenlose Widder und kaute.
»Epikur?«, fragte Madouc. »Heraklit?«
»Ginster, Hasel, Gänseblümchen«, sagte Heathcliff. »Tulpe?« »Tulpe gefällt mir nicht schlecht!«, gab der Widder zu und kaute nachdenklich sein Heu.
Auch am Ende dieser Geschichte gab es einen Heuhaufen.
Sie mussten ihn zwar mit drei braunen Ponys teilen, aber das war nicht schlimm. Die Ponys waren nicht besonders geübt darin, zusammen mit Schafen zu weiden, und bisher war es nicht allzu schwierig, ihnen das Heu einfach unter ihren Nasen wegzufressen. Aber die Ponys holten auf.
»Ich glaube, das sind keine Schafe!«, sagte Sir Ritchfield mit Kennerblick.
»So schlecht ist Europa vielleicht doch nicht!«, sagte Cordelia. »Man muss sich nur erst daran gewöhnen.«
»Und ich habe den Mond gefressen!«, erzählte Mopple jedem, der es hören wollte. »Wenn ich nicht den Mond gefressen hätte, wäre es nicht so gut ausgegangen!«
Und daran gab es überhaupt keinen Zweifel.