23

 

»So!«, sagte Mama. »Ich ruf die Polizei!« Diesmal rauchte sie nicht.

Sie war über die Weide hin zum Schloss gegangen, und eine Weile später war sie wieder zurückgekommen, ruhiger irgendwie, kleiner und noch dünner. Wie zusammengezogen. Wie ein Konzentrat von Mama, das erst in Wasser verdünnt werden musste, bevor man es trinken konnte. Aber Mama machte keine Anstalten, sich zu verdünnen.

»So wie es aussieht, ist der Schnösel allein aus dem Wald zurückgekommen«, sagte sie zu niemand Bestimmtem. »Sie lassen mich nicht mit ihm sprechen. Sie sagen, er hatte einen Unfall. Irgendetwas Schweres ist ihm auf den Kopf gefallen. Er behauptet: ein Schaf. Die anderen glauben: ein Ast. Ich denke, irgendjemand hat ihm eine übergezogen und sich mit Rebecca aus dem Staub gemacht. Oder er war es selbst und tut nur so. Jedenfalls hat niemand sie gesehen, kein einziger von diesen ganzen lächerlichen Waldmännern. Behaupten sie zumindest.«

Mama zitterte.

Die Schafe hörten aufmerksam zu. Sie wussten, dass dem Häher eine Ziege auf den Kopf gefallen war, und streng genommen auch nicht auf den Kopf, sondern in den Nacken. Aber wo Rebecca war, wussten sie auch nicht.

Sie dachten nicht sofort an Futter, aber bald dann doch. Wer würde ihnen heute Kraftfutter geben, wenn Rebecca nicht wiederkam? Wer würde ihnen überhaupt Kraftfutter geben? Mama?

Zuerst einmal sah es nicht danach aus.

Mama ging in den Schäferwagen und unterhielt sich dort so laut mit dem Sprechgerät, dass die Schafe sogar durch die geschlossene Tür etwas mitbekamen. Nicht die Worte, aber die Stimmung. Die Stimmung war schlecht.

Kurze Zeit später kam die neue, konzentrierte Version von Mama wieder zurück, in Gummistiefeln diesmal und mit Handschuhen. Die Schafe konnten sehen, dass sie geweint hatte.

»Sie kommen!«, sagte sie. »Und ihr kriegt Futter! Wenn ich jetzt nicht irgendwas Nützliches mache, werde ich verrückt!«

Mama war sehr unerfahren darin, etwas Nützliches zu tun, und das machte sie zu einer ausgezeichneten Futterspenderin. Sie schwenkte den Eimer zu stark hin und her und verteilte so zusätzlich Futter auf der Weide, und sie kippte ihnen unglaubliche acht Eimer in den Trog.

Dann schaufelte sie Heu aus der Futterkammer, einfach so, und auf einmal gab es auf ihrer Weide einen kleinen Heuhaufen - nicht in der Raufe, wo er hingehörte, sondern mitten im Schnee. Der Heuhaufen sah unwirklich aus - wie etwas in einer Geschichte.

»Heu! Heu! Heureka!«, blökten die Schafe.

Aber irgendwie fühlte es sich nicht richtig an. Es war zu früh für den Heuhaufen. Die Geschichte war noch nicht vorbei.

 

Kalt. Kalt und leer.

Rebecca lag in ihren roten Mantel gewickelt auf dem Metallbett und versuchte, nicht zu denken. Sie war aufgestanden und im Zimmer herumgegangen. Irgendwann hatte sie eine Weile geschrien. »Hilfe!« und »Maurice!« und manchmal einfach nur »Waaaah!« und - am allerverstörensten - »Mama!«.

Und dann hatte sie mit dem Schreien wieder aufgehört. Nicht aus Überzeugung. Auch nicht aus Erschöpfung. Einfach so. Sie hatte das ungute Gefühl, dass hier schon zu viele Menschen geschrien und geheult hatten, ungestört, ungehört, außer von den gemalten Faunen an der Decke. Der Raum war groß und leer, und ihre Schreie hallten.

Die Fenster ließen sich nicht öffnen und - auch das hatte sie versucht - nicht zerschlagen, zumindest nicht mit bloßer Hand. Und Dinge gab es hier keine.

Doch. Ein Ding schon.

Das Ding gab ihr eine Menge zu denken.

So ein einfaches Ding.

Eine Wasserflasche auf dem spiegelnden Parkett, in der Mitte des Raumes. Eine frische, volle Wasserflasche aus Plastik. Evian. Ihr Körper besteht zu 60 Prozent aus Wasser. Wählen Sie das Wasser, das Sie trinken, mit Sorgfalt. Wasser ist Leben.

Sie kannte den Text auf der Flasche auswendig, und sie verstand ihn besser, als sie je etwas verstanden hatte. Zwei Liter. Zwei Liter Leben.

Die Flasche war beruhigend und beunruhigend zugleich.

Jemand wollte, dass sie nicht verdurstete.

Jemand wollte, dass sie hierblieb.

Wie lange konnte man mit einer Wasserflasche auskommen? Zwei Tage? Eine Woche?

Und noch ein dritter Gedanke umtanzte die Flasche, flüchtig wie ein Lichtreflex. Immer, wenn sie hinsah, war er schon wieder fort. Und doch. Und doch. Eine Plastikflasche. Kein Glas. Vielleicht war das Zufall. Hier in Frankreich gab es oft Plastikflaschen.

Eine Plastikflasche konnte sie nicht zerschlagen. Eine Plastikflasche würde keine scharfen Scherben hergeben, mit denen sie andere schneiden konnte. Mit denen sie sich schneiden konnte. Was waren das für Gedanken? Warum sollte sie sich schneiden?

Rebecca beschloss, dass es nicht ihre Gedanken waren. Es waren Gedanken von früher. Gedanken, die in diesem Raum viel zu oft gedacht worden waren.

Draußen begann es zu schneien.

 

Auf dem Hof standen zwei große schwarze Schäferhunde und schnüffelten mit ernsten Mienen an Rebeccas populärem Wollpullover.

»Zu viel kann man sich davon nicht versprechen, bei dem Schnee«, sagte Malonchot am Zaun zu Mama und schob seine großen Hände zurück in die Manteltaschen. »Aber wir versuchen es. Wir wissen jetzt, welche Route sie wahrscheinlich gegangen sind. Und wir versuchen, Verstärkung zu bekommen.«

»Sie wollte weg«, sagte Mama und blickte ins Leere. »Und jetzt ist sie weg.«

»Weg?«

»Der Tierarzt hat uns ein neues Quartier besorgt«, sagte Mama. »Morgen ziehen wir um.«

»Hat sie irgendjemandem davon erzählt?«, fragte Malonchot.

Mama schüttelte den Kopf. »Dem Schnösel vielleicht. Sie hatte eine Schwäche für den Schnösel.«

Auf einmal lächelte Malonchot.

»Was gibt es da zu grinsen?«, fragte Mama.

»Ein Gedanke«, sagte Malonchot. »Vielleicht will jemand verhindern, dass sie morgen geht. Das wäre besser...«

»Besser als was?«, fragte Mama.

»Besser als das andere«, sagte Malonchot. »Wir tun, was wir können.«

»Und was können Sie?«, fragte Mama.

»Das Gleiche wie Sie«, sagte Malonchot. »Raten. Nur ohne Karten.«

Die Schäferhunde waren mit dem Schnüffeln fertig und zogen ihre Menschen an Leinen hinter sich her, hinein in den »Ob sie wirklich so gut riechen können?«, fragte Maude. »So gut, dass sie eine einzelne Rebecca aus einem ganzen Wald herausriechen können? Ich konnte im Wald so gut wie gar nichts riechen!«

Die Schafe blickten mit neuem Respekt auf die Hunde. Sie selbst standen in der Gegend herum, zu vollgefressen zum Grasen, alle außer Mopple, und kamen sich überflüssig vor. Etwas Seltsames war geschehen. Seit sie das ganze Futter im Magen hatten, vermissten sie Rebecca nicht weniger, sondern mehr. Sie vermissten Tess. Sie vermissten George. Sie vermissten sogar Vidocq, der am Wäldrand saß, den Schäferhunden nachblickte und sich nicht mehr für die Schafe interessierte.

 

Rebecca sah auf die Hunde und Polizisten hinab und hätte schreien können. Wenn sie nur nicht schon so heiser gewesen wäre. Ein Schluck aus der Flasche? Noch nicht!

Rebecca versuchte, wieder zu denken. Irgendwo musste eine Öffnung sein, ein Ausweg. Wenn nicht hier im Raum, dann in ihrem Kopf. Ihr Kopf war auch nur ein Raum.

Aber dann dachte sie doch nicht - sie erzählte sich Geschichten. Maurice hatte den mordenden Psychopathen gestellt und sie zu ihrer eigenen Sicherheit eingeschlossen, während er sich mit dem Irren in den Gängen des Schlosses eine Schlacht lieferte. Na ja. Wie lange konnte so was schon dauern? Die Plin war eifersüchtig und hatte sie hier eingesperrt, um Maurice unten am Kaminfeuer ihre Liebe zu gestehen. Irgendwas war mit der Plin. Irgendwas war in ihren Augen, wenn sie Maurice ansah. Sie konnte ihn gerne haben! Ihn und das ganze kranke Schloss dazu. Auf einmal dachte Rebecca, dass sie der Plin durchaus zutraute, jemanden verhungern zu lassen.

Dann erinnerte sie sich an den Vater. Den irren Arzt mit seinen Möbeln. Was, wenn er doch noch lebte und sich ab und zu Privatpatienten einfing, um seine Forschungen fortzufuhren? Vielleicht beobachtete er sie gerade jetzt? Nein, nein. Nicht gut. Keine gute Geschichte. Weiter! Aber hatte nicht Maurice gesagt, dass es Dienstbotentreppen gab, geheime Verbindungen in den dritten Stock? Vielleicht konnte sie sie finden und entkommen!

Sie begann, die Wände abzuklopfen, Wände, übersät von Dellen und Schrammen und Kratzspuren. Wände, die schon viele andere Hände vor ihr abgeklopft hatten. Jahrelang.

Rebecca hörte mit dem Denken wieder auf, ging zurück zum Fenster und sah.

Ihre Mutter saß auf den Schäferwagenstufen, ein Buch auf den Knien.

Auf einmal musste Rebecca weinen.

 

»Ich kann das nicht!«

Mama hatte eine Brille aufgesetzt und sah auf einmal aus wie eine Eule, aber mit der Lektüre waren sie bisher trotzdem noch nicht so recht vorangekommen. Mama las ein paar Worte, verstummte und versuchte es wieder. Und schon nach ein paar Sätzen klappte sie das Buch wieder zu.

»Ich weiß, sie liest euch vor, und irgendwas muss ich sowieso tun, ich kann doch nicht einfach hier sitzen! Aber das kann ich jetzt nicht!« Mama faltete ihre Brille wieder zusammen, die Eulenhaftigkeit verließ ihr Gesicht, und sie sah müde aus. Und verzweifelt.

Dann musste sie durch ihre Müdigkeit hindurch grinsen.

»Ich hab's!«, sagte sie. »Ihr werdet Augen machen!«

Sie kramte eine Weile im Schäferwagen herum, dann kehrte sie auf die Stufen zurück, Yves' kleinen Kasten in den Armen. Sie pflanzte ihn auf die oberste Schäferwagenstufe, steckte eine Plastikschnur hinein und drehte an einem Knopf.

Im nächsten Augenblick waren die Schafe ein paar Schritte von den Stufen zurückgewichen und staunten: der Kasten wechselte die Farben und sang!

»Was sagt ihr nun?«, sagte Mama.

Als klar war, dass sich der laute Kasten nicht vom Fleck bewegen würde - vermutlich, weil Mama ihn vorsorglich mit der Plastikschnur angebunden hatte -, wagten sich die Schafe wieder näher und erkannten, dass sich in dem Kasten winzig kleine Menschen bewegten, die mit viel Eifer auf Europäisch quakten. Abgesehen von der wirklich ganz außergewöhnlichen Kleinheit der Menschen war die Sache nicht besonders beeindruckend.

»Man kann ja gar nichts riechen!«, sagte Maude.

Die anderen blökten zustimmend. Ohne Geruch waren die kleinen Europäer im Kasten uninteressant - noch uninteressanter als normalgroße Menschen.

Mama sah ein wenig enttäuscht zu, wie die Schafe sich zerstreuten. Nur Ramses und Ritchfield mochten das neue Unterhaltungsprogramm. Für Ritchfield war es einfach wie ein neues Fenster - ein Fenster, das auch bei Tag leuchtete, und Ramses mochte die Musik. Die Musik machte, dass man sich bei furchterregenden Szenen - etwa Szenen mit Autos - nicht besonders fürchten musste.

Dann verschwanden die Menschen - niemand konnte sehen, wohin -, und Kreise und Vierecke jagten sich durch den Kasten. Anschließend wurde das Programm schlagartig interessanter. Eine Frau ging zu heroischer Musik über einen Gemüsemarkt, dann sah man sie Zucchini und Paprika schnippeln. Einige der Zucchini waren größer als die Menschen von vorhin. Eine Herde enthusiastischer Jungmenschen galoppierte dazu, dann wurde ein kleines buntes Päckchen ins Bild gehalten. Das Gemüseprogramm war viel zu schnell vorbei, aber dafür kamen Schokolade, Brot und ein spannendes Obstprogramm. Gerade als die Schafe begannen, doch noch Gefallen an dem kleinen Kasten zu finden, begann der zu husten und wurde schwarz.

Schuld daran war Mopple. Er hatte den Kasten berochen, um zu sehen, ob man vielleicht von hinten an eine der glänzend grünen Zucchini kommen konnte, und hatte dabei in Gedanken die weiße Plastikschnur angenagt, mit der Mama den Kasten an den Schäferwagen gebunden hatte.

Dem Kasten schien das nicht zu gefallen. Er war schwarz vor Ärger geworden und zeigte keine Zucchini mehr. Alles, was blieb, war ein pelziges Gefühl auf Mopples Zunge.

Die Schafe hatten das viele Kraftfutter endlich halbwegs verdaut und begannen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Schäferin wiederbekommen konnten.

 

Der Himmel wurde dunkler, und ihre Schafe unten auf der Weide guckten Fernsehen.

Rebecca fragte sich, ob sie schon dabei war, verrückt zu werden. Wie schnell ging das? Wie viel Zeit war vergangen? Wann war jetzt?

Zeit war ein seltsames Ding.

Rebecca hätte schwören können, dass sie schon seit Ewigkeiten hier oben im dritten Stock saß. Tage? Wochen? Das Einzige, was dagegen sprach, war das Licht. Als Rebecca zum zweiten Mal in ihrem Metallbett erwacht war, verschwanden gerade die letzten Sonnenflecken vom Parkettfußboden. Früher Nachmittag vielleicht. Und jetzt waren die Schatten lang, und das Blau des Himmels wurde nachdenklicher.

Ein Tag. Ein einziger, endloser Tag und eine viertel Wasserflasche.

Wie hatte der Tag angefangen, draußen, vorher? Mit einem roten Mantel und Maurice in Grün, so viel wusste Rebecca. Der rote Mantel war noch hier. Maurice nicht. Und dann? Der Wald. Und dann? Sie wusste es nicht.

Rebecca blickte hinunter auf ihre Schafe. Neben jedem Schafstand ein Schattenschaf, ungleich schlanker und langbeiniger als das Original. Die Schattenschafe sahen zerbrechlich aus. So nah und so fern. Unerreichbar. Auf einmal hatte Rebecca Angst um sie. Etwas Schreckliches würde da unten mit ihren Schafen passieren, und sie musste hilflos hier oben stehen und zusehen.

Rebecca fürchtete sich mit einer lächerlichen Kleinkinderfurcht vor der Dunkelheit.

 

»Was ist, wenn die Spaziergänger nicht auf den Häher geschossen haben, weil er der Garou ist?«, fragte Miss Maple. »Ich meine - ist es nicht seltsam? Zuerst fangen sie selbst Rehe und spielen Garou, und auf einmal machen sie Jagd auf ihn?«

Mama saß vor dem Schäferwagen, blickte zum Wald und rauchte unermüdlich Zigaretten. Und diesmal - seltsamerweise - hob sie jeden Zigarettenstummel sorgfältig aus dem Schnee und steckte ihn in eine Plastiktüte.

Die Schafe hatten versucht, Ideen zur Rettung Rebeccas zu sammeln, aber ihr bester - und bisher einziger - Plan war gewesen, »Rebecca!« in den Wald hineinzublöken. Die Sache war schnell langweilig geworden, und Miss Maple ermittelte weiter.

»Vielleicht wollten sie der einzige Garou sein?«, sagte Ramses. »Vielleicht war der Häher ein Konkurrent, und deshalb musste er weg?«

Maple schüttelte den Kopf. »Die Spaziergänger wollten nicht sein wie der Garou. Sie wollten nur, dass die Rehe nach Garou aussehen. Wahrscheinlich glauben sie gar nicht an einen echten Garou. Und nach allem, was Othello erzählt hat, macht ihnen das Garou-Spielen auch keinen besonderen Spaß. Vielleicht wollten sie ja nur, dass der Häher auch nach Garou aussieht! Vielleicht hatten sie es von Anfang an nur auf den Häher abgesehen!«

»Na und?«, blökte Heide.

Maple ließ die Ohren hängen. Heide hatte Recht. Was nützte es zu wissen, was die Spaziergänger taten? Diesmal brauchten sie eine Schäferin.

»Wir sollten Rebecca suchen gehen«, sagte sie.

»Aber wenn nicht einmal die Hunde sie im Wald riechen können ...«, sagte Maude mutlos.

Die anderen blökten zustimmend. Niemand wollte noch mal in den Wald.

Der Ziegenhirt fütterte drüben auf der Nachbarweide seine Ziegen mit Rüben, und die Schafe sahen teilnahmslos zu, zu vollgestopft und deprimiert für den üblichen Futterneid.

»Wir wissen etwas, was die Hunde nicht wissen!«, sagte Miss Maple mit glänzenden Augen.

Die anderen hörten auf wiederzukäuen und sahen sie an.

 

Die Tür.

Die Tür und das Metallbett.

Die Tür und das Metallbett waren die einzigen Dinge hier, die nicht nach Schloss aussahen, sondern nach Gefängnis. Die einzigen Dinge, die nicht logen.

Das Metallbett war am Fußboden festgeschraubt.

Die Tür war gepolstert und hatte nicht einmal einen Knauf.

Nun, da sie verstanden hatte, dass hier nichts voranging, versuchte Rebecca zurückzugehen. Zurück in den Wald. Sie war wirklich im Wald gewesen, da war sie sich sicher. In einem echten Winterwald, bewegt und sonnig und unendlich schön. Alles Bewegte war schön. Die Sonne, die über den Parkettboden wanderte, und der Himmel, der seine Farbe änderte, eine Weile ins immer tiefere Blau, dann auf einmal grau und hell und dann düster und rosig, und ihre Schafe unten auf der Weide natürlich. Unbewegte Dinge, die schön sein wollten, taten so, als würden sie sich bewegen, wie die Faune an der Decke, die zu springen schienen und es doch nicht taten.

Aber darum ging es nicht, nicht wahr? Sie war im Wald gewesen, mit Maurice. Und dann war sie dem Fuchs gefolgt, nur kurz, doch als sie sich umdrehte, war Maurice weg gewesen. Der Hohlweg hatte sich gekrümmt und dann geteilt, und sie konnte nicht weit sehen. Und es gab so viele Spuren im Schnee - von der Jagdpartie wahrscheinlich -, dass sie die seinen nicht finden konnte. Hatte sie Angst gehabt? Ja. Sie hatte es sich nicht gleich eingestanden, aber schon da hatte sie Angst gehabt. Sie war eine ganze Weile lang Hohlwege entlanggestolpert und hatte nach Maurice gerufen. Und dann? Und dann?

Der Wald verlor sich im Nebel.

Nein, doch nicht. Noch nicht! Irgendwann war der Ziegenhirt vor ihr gestanden. Er schien nicht überrascht, sie zu sehen - als hätte er sie schon lange beobachtet, und Rebecca hatte sich einen Moment lang sehr gefürchtet. Aber dann hatte der Hirt gegrinst und einfach nur freundlich ausgesehen. Er hatte ihr gewinkt, ihm zu folgen, und Rebecca war erleichtert hinter ihm hergelaufen, nach Hause. Nach Hause?

Sie war nicht zu Hause. Sie war im dritten Stock. Was war dann passiert? Was?

 

»Er geht in den Wald!«, seufzte Maude. Tatsächlich.

Nachdem der Ziegenhirt mit dem Rübenfüttern fertig geworden war, war er zuerst eine Zeit lang außen an der Hofmauer entlanggegangen. Doch statt irgendwann durch eine der kleinen Holztüren zu verschwinden, hatte er sich links in die Ginsterbüsche geschlagen und stapfte nun durch das Niemandslandjenseits der Hofmauer Richtung Wald.

Maude, Othello und Maple hinterher.

Anders als Mama, Malonchot und die Hunde wussten die Schafe von Lane, dass der letzte Mensch, der Rebecca im Wald bemerkt hatte, nicht der Häher war, sondern der Ziegenhirt. Sie hatten beschlossen, ihn zu beschatten.

Er war ihre beste Spur. Ihre einzige Spur.

Trotzdem wäre es ihnen lieber gewesen, wenn diese Spur nicht schon wieder in den Wald geführt hätte.

Glücklicherweise hielt sich der Ziegenhirt am Waldrand. Irgendwann blieb er stehen und zündete unter einem dicken Kastanienbaum eine Kerze an. Er sagte etwas auf Europäisch. Sehr sanft und sehr freundlich. Die Schafe verstanden nicht, was.

Dann ging es weiter, bis zu einer Birke. Am Fuße der Birke hatten sich ein Ginster, ein Weißdorn und viele Brombeerranken zu einem perfekten kleinen Versteck verwoben.

Der Ziegenhirt schlüpfte hinein, und die Schafe blieben in einiger Entfernung hinter einem großen braunen Farn stehen.

»Wisst ihr, wo wir sind?«, fragte Othello.

Durch die Büsche hinter ihnen konnte man einen Zaun sehen, der genau wie ihr Weidezaun aussah. Und jenseits des Zauns stand schemenhaft und kauend ein Schaf, das sehr an Mopple the Whale erinnerte, und dahinter, dunkel wie eine Spinne, die Aste der alten Eiche.

»Das ist unsere Weide!«, sagte Othello, sehr leise und sehr wütend. »Er belauert unsere Weide!«

»Still!«, flüsterte Miss Maple.

Die Schafe wichen hinter zwei silbrige Buchenstämme zurück und warteten darauf, dass der Hirt wieder aus seinem Versteck kam.

 

Mopple hörte auf, in den Wald zu starren, und trabte zurück zum Schäferwagen. Starren half auch nichts. Egal, wie lange man starrte - der Wald wurde nicht grüner. Mopple konnte sich die Zucchini nicht aus dem Kopf schlagen. Es war sehr lange her, dass er etwas so Grünes gesehen hatte, und er wollte hineinbeißen.

Nach der Sache mit der Plastikschnur hatte Mama den Kasten wieder in den Schäferwagen geräumt. Dann hatte sie geraucht. Dann hatte sie wieder ihre Zigarettenstummel aus dem Schnee gesammelt.

Dann hatte sie sich in ihren Mantel gewickelt und wollte »den Schnösel zur Rede stellen - koste es, was es wolle!«. Der Gedanke, dass die Sache ihre Wolle kosten konnte, gefiel den Schafen gar nicht, aber glücklicherweise griff Mama nicht zur Schurschere, sondern verschwand durch das Weidetor, Richtung Schloss.

Die Tür des Schäferwagens ließ sie offen stehen.

Zum ersten Mal, seit Mopple denken konnte - und Mopple the Whale, das Gedächtnisschaf, konnte länger zurückdenken als alle anderen -, stand die Tür des Schäferwagens offen, und niemand war da.

Nur ein Schritt. Nur ein Blick. Höchstens eine halbe Zucchini. Eine halbe Zucchini konnte niemandem auffallen. Oder vielleicht doch lieber eine ganze, damit man keine Bissspuren sehen konnte. Zwei! Zwei Zucchini waren vermutlich am unauffälligsten!

Mopple the Whale holte tief Luft und setzte seinen Huf auf die erste Schäferwagenstufe.

 

Ein Telefon klingelte.

Nicht im Raum im dritten Stock, nein, leider, der Raum im dritten Stock war still wie ein Sarg, sondern in Rebeccas Erinnerung. Im Wald. Es war ein Wunder gewesen, dass sie im Wald überhaupt Empfang gehabt hatte.

Sie war kurz stehen geblieben - und der Ziegenhirt vor ihr war auch stehen geblieben - und hatte abgenommen.

Es war der Tierarzt gewesen. Ja, sicher, der Tierarzt!

Er hatte einen Tiertransporter und einen Fahrer gefunden, und der konnte sie morgen abholen - oder vielleicht sogar schon heute Abend. Sie und alle Schafe. Auf einen Pferdegnadenhof! In Sicherheit.

Rebecca hatte sich gefreut. Vielleicht hatte sie sich ein wenig zu laut gefreut. Hatte der Ziegenhirt sie verstanden? Verstand er ihre Sprache?

Nein, dachte sie zuerst, aber dann erinnerte sie sich: Hortense hatte ihr einmal gesagt, dass der Ziegenhirt vorher Lehrer gewesen war. Lehrer für alte Sprachen. Vorher. Vor was?

Sie erinnerte sich, dass sie wieder losgegangen waren, voran der Ziegenhirt, Rebecca hinterher. Schneller diesmal. Vielleicht hatten sie die Richtung geändert.

Rebecca war sich nicht sicher.

Und dann? Nichts.

Was war mit dem Telefon? Rebecca hatte das Telefon in ihrer Manteltasche gehabt. Vielleicht... Nein. Die Taschen waren leer. Natürlich. Wo war ihr Telefon?

 

Der Ziegenhirt blieb nicht lange in seinem Versteck. Wahrscheinlich hatte er das auch gar nicht vorgehabt. Er machte eher den Eindruck eines Dachses, der kurz zum Bau zurückkommt, um sich zu vergewissern, dass noch alles in Ordnung ist. Dann ging er weiter, seitlich an den Apfelgärten vorbei, wieder auf das Schloss zu. Es dämmerte. Die Fenster des Schlosses glühten von innen, und ferne Stimmen verwoben sich zu einem überraschend insektenhaften Summen. Hier draußen, zwischen den Hofgebäuden, war alles still.

Der Ziegenhirt blieb vor einer metallenen Tür stehen, schloss sie auf und ging in einen Raum, der voll von Geräten und kleinen Maschinen war. Plötzlich war es drinnen hell.

Die Schafe blinzelten durch die Tür und sahen zu, wie der Ziegenhirt Sachen aus seinen Manteltaschen holte. Kekse, eine Pfeife. Eine flache Flasche. Eine Taschenlampe.

Und dann: ein Sprechgerät. Rebeccas Sprechgerät! Kein Zweifel. Es war größer und schwerfälliger als die meisten anderen Sprechgeräte, und es roch nach Rebecca, ein guter Geruch von Gesundheit, Erde und einem Hauch Kraftfutter.

Der Ziegenhirt legte das Sprechgerät in eine Schublade und schob die Schublade zu.

»Er ist... Er war... Er hat...« Othello war außer sich.

Ehe die anderen sich versehen konnten, hatte der schwarze Leitwidder die Hörner gesenkt und schob die schwere Metalltür mit einem Knall zu. Der Schlüssel des Ziegenhirten steckte außen in der Tür und schlug gegen das Metall. Klack. Klack. Klack und klack.

Drinnen hämmerte der Ziegenhirt gegen die Tür. Man konnte ihn auch rufen hören. Sehr gedämpft.

»So! Das geschieht ihm recht!« Othello hob stolz die Hörner. »Er hat Rebeccas Sprechgerät! Er belauert uns! Er ist der Garou!«

»Vielleicht«, sagte Miss Maple. »Aber wie sollen wir jetzt Rebecca finden? Er kann uns nicht mehr hinführen.«

Othello guckte noch einen Moment lang wütend und dann verlegen.

»Vielleicht... Wir können warten, bis jemand die Tür wieder aufmacht!«

Sie blickten links über den Hof und rechts über den Hof. Maude witterte. Nichts. Alle Menschen waren mit den grünen Männern im Schloss beschäftigt. Es konnte sehr lange dauern, bis jemand den Ziegenhirten befreite.

Die Schafe trotteten wieder zurück Richtung Weide. Alles in allem war die ganze Aktion kein besonderer Erfolg gewesen.

 

Mopple hatte es von allen Seiten versucht. Von oben. Von unten. Von hinten, wo einige Plastikschnüre aus dem Kasten hingen. Aber von den Zucchini fehlte jede Spur. Vielleicht waren sie herausgefallen?

Mopple ließ von dem Kasten ab und sah sich um.

Wie dunkel es im Schäferwagen geworden war.

Und dann, auf einmal, wurde es noch dunkler. Jemand stand in der Tür und schnitt das Licht ab. Mopple erstarrte.

Mama knipste das Licht an.

Dann passierte eine schrecklich lange Weile gar nichts.

»Na, so was«, sagte Mama schließlich. »Zuerst habe ich gedacht, ich bin betrunken. Aber ich bin's nicht. Kalt ist das hier.«

Zu Mopples Entsetzen zog Mama die Schäferwagentür zu und ließ sich in einen Stuhl plumpsen.

»Bist du betrunken?«, fragte sie streng.

Mopple versuchte, unschuldig auszusehen.

»Willst du, dass ich dir die Karten lege?«, fragte Mama. »Heute ist es auch schon egal, weißt du. Sie sagen mir nichts. Sie helfen mir nicht. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann ein bisschen Gesellschaft gerade ganz gut gebrauchen.«

Mopple wollte keine Gesellschaft sein. Er wollte eigentlich nur nach draußen, aber er konnte nicht an Mama vorbei, und Mama begann, die Karten zu mischen.

»Das werden auch immer weniger«, sagte sie.

Dann begann sie, verschiedene Karten vor Mopple auf einen niedrigen Tisch zu legen. Normalerweise wäre es appetitanregend gewesen, aber momentan wollte Mopple nur weg.

»Der Narr«, sagte Mama. »Die Welt. Die Sonne. Gar nicht so schlecht. Und hier: der Mond.«

Mama runzelte die Stirn. »Der Mond ist hier nicht so gut. Illusion. Verwirrung. Traum und Täuschung. Wahnsinn.«

Jemand klopfte an die Schäferwagentür. Mama sprang aus ihrem Stuhl wie von einem Floh gebissen und riss die Tür auf.

Draußen standen Malonchot und zwei Männer mit Schäferhunden.

Den Hunden hingen lange rosige Zungen aus den Mäulern. Malonchot schüttelte den Kopf.

Mopple starrte auf die Karten vor ihm. Die Karte mit dem Mond sah bleich und kalt aus, und Mopple erkannte Wölfe, die den Papiermond auf der Karte anheulten. Der Mond! Wenn die Karte nicht so gut war, musste sie eben weg! Ganz einfach. Hier vor seiner Nase war ein Mond, den er fressen konnte!

Ohne zu zögern, biss Mopple zu.

Die Karte war zäh. Als Mama zurückkehrte, kaute Mopple immer noch. Mama kam ihm sehr seltsam vor. Wie aus Glas. Als würde sie gleich zerspringen.

»Ich weiß, dass sie nicht tot ist!«, sagte sie mit einer gläsernen Stimme. »Ich kann es sehen! Ja, ich weiß, einiges von dem, was ich mache, ist Humbug - aber einiges eben auch nicht! Ich weiß, dass sie lebt! Und ich weiß, dass sie nicht weit weg ist. Ich habe das Gefühl, dass sie mir zusieht!«

Mopple schluckte. Er hatte getan, was er konnte.

Mama öffnete wieder die Tür und scheuchte den dicken Widder ins Freie.

Die Nacht brach an. Eine Nacht ohne Rebecca.

 

»Lass uns jagen!«, sagte der Garou und sprang vor Vorfreude so sehr in seinem Menschen auf und ab, dass der Mensch zittern musste.

»Es ist nicht so einfach«, flüsterte sein Mensch. »Nicht heute, nach der Jagd. Die Rehe sind zu scheu. Sie werden das Futter nicht fressen. Sie werden nicht schlafen. Wir können sie nicht fangen, wenn sie nicht vorher schlafen.«

»Es gibt andere Beute«, sagte der Garou unbeeindruckt. »Langsamere Beute. Wir müssen nur langsamere Beute jagen, so wie das letzte Mal.«

Der Mensch sträubte sich.

»Es ist so riskant«, sagte er. »Andere Beute ist so riskant!« »Wir haben es schon öfter getan!«, insistierte der Garou. Er hatte Recht.

»Was ist mit den Leuten da oben?«, fragte sein Mensch und blickte zu den erleuchteten Fenstern hinüber, wo das Jagdbankett lärmte.

»Sie werden uns nicht sehen!«, sagte der Garou. »Nicht, wenn wir rechtzeitig in das Versteck gehen. Bevor sie fertig sind. Niemand wird uns kommen sehen. Und der Morgen wird so still sein. Stiller als sonst. So still und so schön.«

Der Garou leckte sich die Lippen.

»Es ist so kalt da drin«, jammerte sein Mensch. Den Garou kümmerte das nicht. Er hatte ein Fell.

 

Erst im Mondlicht entdeckte Rebecca den Wolf.

Sie lag wieder auf dem Metallbett, zu erschöpft, um zu schlafen, und starrte nach oben.

Im fahlen Halblicht des Mondes schienen sich die Faune zu bewegen, zu springen und zu tanzen.

Drei Faune.

Drei Teufel.

Die Decke mit den Faunen hatte keinen guten Einfluss auf sie. Trotzdem starrte sie weiterhin wie besessen nach oben. Es gab ja sonst nichts hier, und seit die Sonne untergegangen war, traute sie sich nicht mehr, aus dem Fenster zu blicken. Rebecca hatte zu viel Angst vor dem, was sie dort unten vielleicht sehen würde.

Je länger sie hinaufstarrte, desto sicherer war sie sich, dass die Faune nicht wirklich tanzten. Sie rannten. Flohen. Flohen vor etwas. Vor was flohen die Faune?

Dann, als der Mond begann, den Schattenriss der französischen Fenster über das Parkett zu zerren, entdeckte sie den Wolf, zuerst seine Augen, klein und glimmend, dann sein Maul und seine scharfen Zähne, schließlich Ohren und Tatzen und Schweif. Der Wolf lauerte in einem Gebüsch, sprungbereit, und nun, da Rebecca ihn einmal entdeckt hatte, konnte sie ihren Blick nicht mehr von ihm wenden.

Der Wolf war schrecklich.

Kein Wunder, dass die Faune flohen.

Rebecca wusste, dass Deckenmalerei eine Kunst war. Dass man früher viel Freude an Effekten gehabt hatte. Räumlichkeit. Täuschung. Gemalte Realität. Wer hatte ihr das erzählt? Maurice?

Der Wolf war wahrscheinlich in Grüntönen gemalt worden, und bei Tag verschwamm er im Blätterwald. Nur nachts, wenn die Farben verschwanden, konnte man ihn sehen. Ein Wolf, den es nur bei Mondschein gab ...

Einfach.

Rebecca wusste das.

Aber ein Teil von ihr wusste es nicht.

 

»Und du hast den Garou einfach so eingesperrt?«, fragte Heide.

Die Schafe hatten sich in den Heuschuppen zurückgezogen und blickten Othello bewundernd an. Der Leitwidder hob stolz seine vier Hörner. Er wusste, dass es nicht sehr klug gewesen war, die Tür zuzuschieben, aber besonders leid tat es ihm trotzdem nicht.

»Ich glaube nicht, dass der Ziegenhirt der Garou ist«, sagte Miss Maple.

Die anderen Schafe sahen sie böse an. Immer, wenn sie gerade den Garou losgeworden waren, kam Maple und hatte etwas dagegen.

»Warum?«, blökte Maude.

»Warum?«, blökten die anderen Schafe.

Maple dachte kurz nach.

»Wegen Madouc«, sagte sie dann.

»Madouc?«

Maple nickte. »Er hat sie aufgezogen, stimmt's? Madouc mag ihn. Sie wäre nicht so wild darauf, den Garou zu fangen, wenn er der Garou wäre.«

»Vielleicht weiß sie nicht, dass er der Garou ist«, wandte Zora ein.

Maple schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nur das. Erinnert ihr euch an all die Sachen, die Madouc über den Garou wusste? Mond und Silber und Kugeln? Und daran, wie entschlossen sie ist, ihn zu finden - so entschlossen, dass sie im Wald seinen Spuren gefolgt ist! Sie muss diese Entschlossenheit irgendwo gelernt haben - und ich glaube, sie hat sie von dem Ziegenhirten gelernt! Das bedeutet, dass der Ziegenhirt der Werwolfsjäger ist!«

Maple schloss die Augen und sah den Ziegenhirten vor sich, grau, unsichtbar und lautlos. Und traurig! Warum war er immer so traurig? Was hatte er durchgemacht? Warum war er nicht mehr er selbst? Und wenn er nicht mehr er selbst war - wer war er dann? Vielleicht gehörten die Frau und das Mädchen zu ihm! Maple erinnerte sich, wie er in einigem Abstand hinter Rebecca und Zach durch den Wald gestapft war - vielleicht, um sie vor dem Garou zu beschützen, aber wahrscheinlich nur, um den Garou auf frischer Tat zu ertappen. Vielleicht war es genau so passiert: der Hirt hatte Rebecca und ihren roten Mantel im Wald entdeckt und war ihr gefolgt. Und dann musste etwas passiert sein. Etwas, das ihm gesagt hatte, dass Verfolgen allein nicht genug war.

»Heißt das, dass er Yves erschossen hat?«, fragte Heathcliff.

»Wahrscheinlich«, sagte Miss Maple und machte die Augen wieder auf. »Könnt ihr euch vorstellen, wie er Nacht für Nacht in seinem Versteck saß und mit seinen Silberkugeln auf den Garou gewartet hat, und immer kam nur Yves und hat seine schöne Falle vermasselt? Da hat er es irgendwann nicht mehr ausgehalten und dafür gesorgt, dass Yves eben nicht mehr kommt!«

Die Herde hatte sich um Maple herum zusammengeballt und machte enttäuschte Gesichter. Wenn sie gewusst hätten, dass der Hirt ihn auf dem Gewissen hatte, hätten sie nicht so viel Aufwand getrieben, um Yves zu verstecken!

»Aber«, sagte Cloud, »wenn er nicht der Garou ist - was will er dann mit Rebecca?«

Maple überlegte. »Er will nicht Rebecca«, sagte sie dann. »Er will uns. Wir sind sein Netz! Wir locken den Garou an. Er muss mitbekommen haben, dass Rebecca wegwill. Deswegen durfte sie nicht zurückkommen. Der Ziegenhirt weiß, dass wir ohne Rebecca nicht Auto fahren können!«

Die Schafe sahen sich an. Othello hatte den Werwolfsjäger eingesperrt - nicht den Werwolf selbst! Selbst die nicht ganz so intelligenten Schafe verstanden, dass das nicht gut war.

»Aber wenn der Hirt der Werwolfsjäger ist«, sagte Lane. »Wer ist dann der Garou?«

 

Tief in der Nacht trabte Heathcliff ganz alleine aus dem Heuschuppen, um sich den Mond anzusehen. Er wusste nicht genau, warum, aber er hatte das Gefühl, dass Ziegen sich oft den Mond ansahen.

Der Mond war rund und voll und die Weide so hell, dass man die Spuren der Spatzen im Schnee erkennen konnte. Trotzdem konnte sich Heathcliff nicht richtig konzentrieren.

Das lag an zwei Dingen.

Eines davon war eine leere Stelle am Weidezaun, die Stelle, wo Vidocq den ganzen Abend gesessen und sehnsüchtig in den Wald gestarrt hatte. Wahrscheinlich war der Hirtenhund einfach zwischen den Bäumen verschwunden. Heathcliff konnte ihn verstehen. Er war genauso zottig wie Vidocq, und auch er wusste, was Sehnsucht war.

Die andere Sache war noch beunruhigender: die Türen des Schrankes unter der alten Eiche, die sich nie bewegt hatten, egal, wie sehr Mama bohrte, standen weit offen. Heathcliff erstarrte. Er erinnerte sich an das Buch und daran, dass es Wesen, die es eigentlich nicht gab, im Inneren des Schrankes auf einmal doch gab. Halbe Ziegen zum Beispiel. Oder - Werwölfe?

Doch das Wesen, das vor dem geöffneten Schrank stand, war harmlos. So harmlos, dass Heathcliff sich sicher war, dass er nur träumte.

 

Rebecca schlug die Augen auf.

Es war fast schon hell, und der Wolf an der Decke war nicht mehr als eine Ahnung. Ein Schemen. Bald würde das Tageslicht ihn ganz vertrieben haben.

Im nächsten Moment wusste Rebecca, dass ein Geräusch sie geweckt hatte. Ein Kratzen. Sie fuhr herum und sah, wie die Tür sich langsam öffnete.

Rebecca hatte sich die ganze Zeit davor gefürchtet, dass diese Tür einfach nicht mehr aufgehen würde.

Erst jetzt verstand sie, wie sehr sie sich davor gefürchtet hatte, dass sie aufgehen würde.