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Ein halber Mond schien. Blauer Schnee knirschte. Die Luft war kalt wie die Klinge des Schermessers. Ein kleiner Trupp zu allem entschlossener Schafe näherte sich vorsichtig dem nächtlichen Ziegenzaun.
Othello der Leitwidder, Miss Maple, weil sie klug war, Mopple, weil er ein gutes Gedächtnis hatte, Sir Ritchfield, weil er dachte, es würde sich um einen Ausflug handeln, und das Winterlamm - niemand wusste, warum. Was, wenn die Ziegen alle schliefen? Aber irgendwie konnten sie sich nicht vorstellen, die Ziegen bei etwas so Normalem wie Schlafen zu ertappen.
Und tatsächlich: mitten in der Nacht, in der Nähe des Zauns, standen drei Ziegen, mit gebogenen Hörnern, schmalen Gesichtern und langen, schlanken Hälsen. Eine Dunkle, eine Graue und eine Blaue mit einem schwarzen Ohr - zumindest sah es im bleichen Licht des Mondes so aus. Standen, als hätten sie auf die Schafe gewartet.
Standen und schwiegen.
Ihre Augen funkelten.
Die Zeit drängte. Sie mussten im ersten Licht von der Weide verschwinden, bevor die Menschen erwachten. Vor allem Rebecca. Und der Morgen war nah. Unsichtbar noch, aber nah.
Eine der Ziegen rülpste.
»Ich bin Maple«, sagte Maple. Sie wollte es diplomatisch angehen.
»Na und?«, meckerte die dunkle Ziege. »Ich bin Mopple«, sagte Mopple. »Und das ist Sir Ritchfield.«
»Er ist alt, und du bist dick«, sagte die Graue.
»Ich bin nicht dick!«, blökte Sir Ritchfield. Der Ausflug verlief bisher nicht besonders nach seinem Geschmack.
»Das bildest du dir nur ein!«, meckerte eine Ziege mit nur einem Horn aus einiger Entfernung. Die anderen Ziegen sahen nicht hin.
Othello schnaubte ungeduldig.
Die Ziegen schnaubten auch. Und kicherten.
»Ich bin Shub-Niggurath«, sagte die Dunkle dann. »Und die beiden anderen sind auch Shub-Niggurath.«
»Ich bin auch Shub-Niggurath!«, meckerte eine vierte, graublau gescheckte Ziege, die neugierig näher gekommen war.
Die Schafe standen stumm und staunten.
»Ihr wollt etwas«, sagte die graue Ziege. »Schafe wollen immer.«
»Schafe wollen immer«, seufzten die drei anderen im Chor.
»Sogar nachts!«, fugte die Blaue mit dem schwarzen Ohr vorwurfsvoll hinzu.
»Aber wir wollen nicht«, fuhr die Graue fort. »Wir sind Shub-Niggurath, und wir sprechen nicht mit euch. Wir sprechen nur mit uns. Mit uns und sonst mit niemand.«
Die Schafe warfen sich viel sagende Blicke zu. Vollkommen verrückt! Sie hatten es ja gleich gewusst!
»Ich bin Niemand«, sagte das Winterlamm plötzlich.
Die Ziegen starrten interessiert durch den Zaun.
»In der Tat?«, fragte die Graue.
»In der Tat!«, meckerte die Gescheckte.
»In der Tat!«, sagte die Blaue mit dem schwarzen Ohr. »Wir sprechen mit Niemand«, sagte die Dunkle gönnerhaft. Alle vier guckten erwartungsvoll auf das Winterlamm. Das Winterlamm überlegte kurz.
»Was, wenn ein Schaf auf eure Weide käme?«, fragte es dann. »Eklat!«, meckerte die Graue. »Skandal«, hauchte die Grau-Blaue. »Krawall!«, sagte die Dunkle.
»Vive la revolution!«, meckerte eine zweite Grauziege, die neben den vier anderen aufgetaucht war.
»Und wenn es nichts fressen würde?«, fragte das Winterlamm. »Keinen Halm? Wenn es nur quer über eure Weide laufen würde, hinein in den Wald?«
Eine Wolke wanderte vor den Mond, und es wurde sehr dunkel.
»In den Wald?«, fragte die Dunkelgraublaue.
»Warum?«, sagte die Dunkelgraue.
»Wieso?«, sagte die Tiefblaue mit dem schwarzen Ohr.
»Seid ihr verrückt?« Die fünf Ziegen sahen die Schafe mit neuem Respekt an.
Eine schwarzgraue Ziege trabte neugierig näher.
»Das ist Shub-Niggurath«, erklärte die tiefblaue Ziege mit dem schwarzen Ohr höflich.
»Das ist kein Schaf«, murmelte Sir Ritchfield.
»Das ist etwas ganz anderes«, sagte die Dunkelgraue. »Wenn es nichts isst, ist es egal.«
»Kein bisschen?«, platzte Mopple heraus. Die Ziegen sahen nicht einmal hin.
»Und wenn es mehrere Schafe sind?«, fragte das Winterlamm. »Sozusagen ... alle?«
Der Mond kroch wieder hinter der Wolke hervor, und die Ziegen wurden bleicher.
»Wir fressen nichts. Wir laufen einfach morgen früh über eure Weide. Ohne Eklat, Krawall und Revolution. Was wollt ihr dafür?«, fragte das Winterlamm.
»Wir?«, sagte die Graue unschuldig.
»Wir?«, fragte die Dunkle.
»Wir wollen nicht«, sagte die Grau-Blaue würdevoll. »Ziegen wollen nie!«, meckerte die Blaue mit dem schwarzen Ohr.
»Was wollt ihr dafür?«, wiederholte das Winterlamm störrisch.
»Nichts!«, sagte die Dunkle. »Gar nichts!«, meckerte die Graue.
»Natürlich nicht!«, sagte die Blaue mit dem schwarzen Ohr.
»Außer...«
»... vielleicht...«
»... eine ...«
»... klitzeklitzekleine ...«
»... Kleinigkeit!«
Die Ziegen hopsten aufgeregt.
»Gemacht!«, sagte das Winterlamm.
»Er könnte es schaffen«, sagte Zora überrascht.
»Wenn er nicht vergisst, wo er hin soll«, seufzte Mopple the Whale.
»Ziegen«, murmelte Othello.
»Aber spannend ist es!«, sagte das Winterlamm und hüpfte mit allen vier Beinen gleichzeitig in die Luft wie... nun ja, wie eine Ziege.
Die ganze Herde hatte sich am Ziegenzaun zusammengeballt und starrte gebannt durch die Latten. Die Ränder des Himmels wurden schon fahl, und Sir Ritchfield, der alte Leitwidder, trottete bedächtig, aber zielstrebig über die Ziegenweide auf den gespaltenen Baum zu, während seine Gegnerin, die blinde Ziege, im Zickzack hin und her lief, schneller zwar, aber ohne Orientierung.
»Ritchfield! Ritchfield!«, blökten die Schafe.
Die Sache war eigentlich ganz einfach. Einfach, aber verrückt. Ein Wettrennen der Altesten. Wenn Ritchfield vor der Ziege den gespaltenen Baum erreichte, konnten die Schafe über die Ziegenweide fliehen, ohne dass die Ziegen Alarm schlugen. Wenn nicht...
»Ritchfield! Ritchfield! Ritchfield!«
Sie hatten dem alten Widder eingeschärft, dass er zu dem Baum gehen musste. Nicht mehr und nicht weniger. Und sie hofften inständig, dass er diese einzige Aufgabe nicht unterwegs vergaß.
Die blinde Ziege hatte sich in einem Ginstergestrüpp verfangen und ging vorsichtig rückwärts.
»Ritchfield! Ritchfield!«, blökten die Schafe aufgeregt. Immer lauter.
Ritchfield blieb stehen und lauschte.
Die Schafe verstummten entsetzt.
Ritchfield guckte einen Moment verwirrt. Dann schüttelte er den Kopf und trabte weiter Richtung Baum. »Puh!«, sagte Mopple.
»Ritchfield!«, blökte Heide begeistert. Die anderen sahen sie böse an.
Aber auch die alte Ziege hatte sich aus dem Gestrüpp befreit und hetzte weiter über die Weide. Trotzdem: wenn Ritchfield so weitermachte, hatte sie keine Chance.
»Ritchfield! Ritchfield!«, meckerten die Ziegen. Sie machten die Hälse lang, hopsten in die Luft und amüsierten sich königlich.
»Ritchfield!«
Wieder blieb der Leitwidder stehen und lauschte. »Ritchfield!«
»Das ist gemein!«, blökte Ramses. »Ziegen«, seufzte Zora.
Ritchfield wackelte mit den Ohren und trottete weiter. Noch immer auf den Baum zu.
»Unglaublich!«, sagte Mopple. Ritchfield würde es schaffen! Nur noch wenige Schafslängen!
Auf einmal stand eine kräftige junge Ziege zwischen Ritchfield und dem Baum. Eine Ziege mit langen, spitzen Hörnern.
»Die Parole?«, fragte die Ziege. »Das Kennwort? Die Losung?«
Aber der schwerhörige Ritchfield trabte einfach weiter.
»Stopp!«, meckerte die Spitzgehörnte entsetzt. Kaum eine Nasenlänge von der Ziege entfernt kam Ritchfield schließlich zum Stehen und schüttelte den Kopf. Er tat einen Schritt nach links. Die Ziege tat einen Schritt nach rechts. Ritchfield tat einen Schritt nach rechts. Die Ziege nach links.
»Kein Schaf«, sagte Sir Ritchfield kopfschüttelnd.
»Die Parole!«, insistierte die Ziege.
»Die Losung! Die Losung!«, feixten die anderen Ziegen. »Was?«, brüllte Sir Ritchfield.
Die blinde Ziege am anderen Ende der Weide blieb stehen, legte den Kopf schief und lauschte. Dann rannte sie los. Direkt auf den Baum zu.
»Das war's«, seufzte Mopple the Whale.
»PA-RO-LE!«, meckerte die junge Ziege laut. Aber nicht laut genug.
Ritchfield kicherte geschmeichelt. »Wie? Ein Duell? Warum nicht? Warum nicht!«
Im nächsten Moment hatte sich der alte graue Widder hoch aufgerichtet. Seine Augen glänzten, seine Hufe tanzten, und seine Hörner standen wie starke Äste in der gefrorenen Luft. Ritchfield schnaubte. Die Schafe sahen beeindruckt zu. Jetzt wussten sie wieder, warum Ritchfield viele Jahre ihr Leitwidder gewesen war.
Umhüllt von Atemwolken ging Ritchfield rückwärts. Erst einen Schritt. Dann einen zweiten. Dann einen dritten.
»Ritchfield! Ritchfield!«, blökten die Schafe begeistert. Der dumme Baum war vergessen. Ritchfield würde den Ziegen zeigen, wie ein faires Duell aussah!
Ritchfield senkte seine mächtigen Hörner und galoppierte los. Die Ziege guckte überrascht. Dann erhob sie sich nach Ziegenart auf die Hinterhufe. Ihre spitzen Ziegenhörner glänzten wie Eis. Die Schafe hielten den Atem an, aber Ritchfield donnerte unbeeindruckt weiter. Im nächsten Augenblick war die Ziege beiseite gesprungen, und Ritchfield prallte mit ganzer Wucht gegen den Stamm des alten gespaltenen Baumes. Ein voller, runder Ton klang über die Weide. Die blinde Ziege blieb stehen und meckerte.
»Das war's!«, sagte Othello zufrieden.
Es war höchste Zeit. Der Himmel wurde blasser und durchsichtiger, Rauch lag in der Luft, und bald würde Rebeccas gelbes Schäferwagenfenster zu glimmen beginnen und Mama rauchend auf den Schäferwagenstufen auftauchen. Eines nach dem anderen quetschten sich die Schafe durch die Lücke im Ziegenzaun. Es gab eine kurze Aufregung, als Mopple the Whale im Zaun stecken blieb und fast ihren Fluchtweg verstopft hätte, aber Zora biss den runden Widder ins Hinterteil, und Mopple schnellte durch das Loch wie ein übergewichtiger Grashüpfer.
Nur Maude wollte nicht. »Ich gehe nicht über die Ziegenweide!«, blökte sie. »Es stinkt! Und warum auch? Ich war schon dran! Was kann mir schon passieren?«
Die Schafe wussten nicht genau, was Maude passieren konnte, aber es gefiel ihnen nicht, sie einfach so zurückzulassen. »Aber wir gehen alle!«, blökte Heide.
»Jetzt nicht mehr!« Maude drehte dem Ziegenzaun den Rücken zu.
Doch später, als Othello die Herde umrundete und nachsah, ob alle da waren, stand Maude doch auf der Ziegenseite des Zauns und machte ein schafshaftes Gesicht.
»Was ist mit ihm?«, fragte Zora und blickte hinüber zu den Ginsterbüschen. Der fremde Widder hatte wieder die Augen geschlossen und schien zu schlafen. »Er ist auch ein Schaf.«
»Aber er weiß, wie man nicht in den Pferch geht«, sagte Heide.
»Trotzdem!«, sagte Cordelia. »Er soll mit!« Die Schafe blökten halbherzig zu dem Ungeschorenen hinüber. Nichts.
Dann machten sie sich daran, die Ziegenweide zu überqueren. Es roch streng. Die Ziegen waren weit weg, verschwommene graue Punkte am anderen Ende der Weide. Ein bisschen unheimlich war den Schafen die Sache jetzt doch.
Sie holten Sir Ritchfield unter dem gespaltenen Baum ab, dann ging es weiter zum Waldrand. Der alte graue Widder war noch immer ziemlich benommen, aber blendender Laune.
»Ein wunderbarer Ausflug!«, blökte er. »Wunderbar!«
»Und das ist erst der Anfang«, knurrte Othello. Der schwarze Leitwidder prüfte die einzelnen Pfosten des Ziegenzauns. Beroch sie. Lehnte sich gegen sie. Stupste sie mit seinen vier schwarzen Hörnern. Einen um den anderen.
»Guten Morgen, Shub-Niggurath«, sagte Maple freundlich.
Eine einzelne Ziege war am Zaun aufgetaucht. Auf der falschen Seite. Drüben. Draußen. Am Waldrand. Eine Morgenweiße mit einem schwarzen Ohr.
»Ich heiße Megära«, sagte die Ziege würdevoll. Das Winterlamm staunte.
»Wie bist du da herausgekommen?«, fragte Lane. Lane war ein ungemein praktisches Schaf.
»Oh, ich bin nicht draußen«, sagte die Schwarzohrige. »Ich bin drinnen. Ihr seid draußen!«
»Und wenn wir auch nach drinnen wollen?«, fragte Miss Maple.
Die Ziege seufzte. »Wollen, immer nichts als Wollen im Kopf Geht doch einfach durch den Zaun!« Mit einer eleganten Bewegung wand sich die Schwarzohrige durch den Draht, an einer Stelle, wo er nicht richtig an seinem Pfosten befestigt war und sich leicht beiseite schieben ließ.
Othello ließ von den Pfosten ab.
»Warst du schon im Wald?«, fragte Heide.
Die Ziege kicherte. »Die Frage ist vielmehr - war der Wald schon hier?«
Zora verdrehte die Augen und kletterte an der Schwarzohrigen vorbei als Erste durch den Draht. Vorsichtig. Trittsicher. Wie am Abgrund entlang. Der Wald war ein Abgrund. Nur ging es nicht hinunter, sondern hinein. Zoras Ohren kribbelten vor Erwartung.
Tapfer schnaufend quetschte sich Mopple hinter Zora her durch den Zaun. Dann Othello. Dann Maple, Heide und Lane. Sir Ritchfield verhedderte sich mit seinen gewundenen Hörnern, was seiner guten Laune keinen Abbruch tat. Es dauerte eine Weile, bis sie den kichernden Ritchfield aus dem Draht befreit hatten. Maude fürchtete sich vor dem kalten, scharfen Geräusch, das der Draht von sich gab, Cordelia vor der Stille dahinter. Ramses hatte einen nervösen Niesanfall. Einem Schaf zupfte der Zaun ein Büschel Wolle aus, einem anderen stellte er ein Bein. Endlich waren sie alle auf der anderen Seite, zuletzt das Winterlamm, voller finsterer Gedanken. Jetzt sprachen die Ziegen mit allen! Es war Niemand, und es nützte nichts. Rein gar nichts. Nicht einmal bei den Ziegen.
Das Fenster des Schäferwagens glomm auf, und die Schafe machten sich auf den Weg. Dicht gedrängt. Nervös. Hinein in den Wald.
»Ach übrigens«, rief die Ziege ihnen nach, »wenn ihr den Garou trefft...«
»Ja?«, fragte das Winterlamm düster.
»Ach, nichts«, murmelte die Ziege, als die Schafe eines nach dem anderen zwischen den Stämmen verschwanden. »Gar nichts.«