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Cloud flog.

Nicht wie in ihren Träumen, schaukelnd und majestätisch wie ein Wolkenschaf, sondern eher wie ein Pusteblumensamen, hin und her, zick und zack, von launischen Winden getrieben. Quer über die Weide, über schmierigen Schnee und hart gefrorenes Gras, in einem weiten Satz über den Bach, vorbei an der alten Eiche - Spatzen stoben auf- den Hang hinauf.

Tief unter ihr galoppierten wild ihre Beine. Ihre Ohren pochten. Ihr Herz flatterte im Wind. Schneller! Die anderen hatte sie längst hinter sich gelassen, aber nicht ihn. Er war dicht hinter ihr, ein Keuchen in ihrem Nacken, eine blitzende Ahnung im Augenwinkel.

Der Wind blies Cloud auf einen schwankenden Wald zu.

Zwischen dem Wald und der Weide war der Zaun.

Er war immer da, aber heute hatte Cloud irgendwie nicht mit ihm gerechnet. Sie äugte panisch nach allen Seiten. Links am Zaun entlang in eine Ecke? Rechts am Zaun entlang in eine Ecke? Der Wind hatte andere Pläne.

Ohne auch nur Luft zu holen, galoppierte Cloud in den Draht.

Ein Klingen in ihren Ohren, ein dumpfer Schmerz am Hals. Der Zaun gab nach. Einer der Pfosten, zwischen denen die Drähte gespannt waren, fiel um. Der Himmel kippte weg.

Doch im nächsten Moment war Cloud schon wieder auf den Beinen und drehte den Kopf. Ihr Verfolger keuchte den Hügel hinauf, nur einige Schafslängen entfernt. Aber der Zaun lag nun flach vor ihr, und mit einem Sprung war sie darüber. Mit einem Sprung am Waldrand. Mit einem Sprung im Wald.

Mit einem Mal war das Sausen in ihren Ohren verschwunden. Cloud fröstelte. Sie fühlte sich, als hätte sie kein bisschen Wolle mehr auf der Haut. Ganz nackt. Ganz kalt. Ein kleiner Vogel landete auf einem Zweig hoch über ihr, und Schnee stäubte herab.

Cloud schauderte und trabte vorsichtig weiter.

Bald umschloss sie das Halbdunkel des Waldes wie ein Stall, und das Keuchen war verschwunden.

Ein Knacken hier, ein Knacken dort, sonst Stille.

Vielleicht war alles ja doch nur ein Traum.

 

Die anderen Schafe beobachteten Clouds Flucht mit gemischten Gefühlen.

Einerseits waren sie froh, dass der Tierarzt Cloud nicht erwischt hatte. Andererseits waren jetzt sie dran. Eines von ihnen. Dann noch eines. Und noch eines. Irgendwann alle. Der Tierarzt würde sie so festhalten, dass sie vor Schreck keine Luft mehr bekamen. Er würde ihren Hufen wehtun und ihren Ohren. Er würde sie mit einer Nadel stechen und ihnen stinkende, bittere Flüssigkeit ins Maul kippen. Der Tierarzt war das gefährlichste Wesen, das sie kannten. Jetzt stand er mit hängenden Armen am Waldrand und starrte hinter Cloud her. Starrte lange und gründlich.

Rebecca fluchte. Sie schob sich ihre rote Wollmütze aus der Stirn und sah die Schafe böse an. »Ihr bleibt hier!«, fauchte sie.

Als ob die Schafe eine Wahl gehabt hätten! Rebecca hatte sie alle in den Pferch gesperrt. Der Pferch war nichts anderes als ein schmales und eigentlich sehr beliebtes Weidestück - das Weidestück mit dem Futtertrog. Doch manchmal klappte Rebecca ein Tor zu, und dann saßen sie in der Falle, dicht gedrängt, Schulter an Schulter, direkt unten am Hofzaun, wo die meisten Menschen vorbeikamen. Warum Rebecca immer wieder mit dem Tierarzt gemeinsame Sache machte, war den Schafen ein Rätsel.

Jetzt rannte die Schäferin den Hang hinauf, ungleich eleganter als der Tierarzt, wenn auch nicht ganz so elegant wie Cloud. Der Tierarzt sagte etwas und breitete die Arme aus, wie um Rebecca abzufangen. Rebecca schüttelte den Kopf. Der Tierarzt griff nach ihrem Handgelenk, aber Rebecca riss sich los und verschwand im Wald. Der Tierarzt blickte säuerlich zu den Schafen hinunter.

Die Schafe taten unauffällig.

Der Tierarzt tat auch unauffällig, blickte auf seine Füße, auf seine Hände, in die Luft und wieder zu den Schafen. Überall hin. Nur nicht zum Wald.

Dann geschah etwas Seltsames.

Rebecca trat wieder zwischen den Bäumen hervor und wich langsam vom Waldrand zurück, rückwärts, eine Hand vor sich ausgestreckt, als wolle sie etwas aufhalten - ein vorwitziges Schaf vielleicht oder - wie so oft auf ihren Reisen - ein Auto oder einen erbosten Bauern mit einem abgefressenen Stängel Lauch in der Hand.

Die Schäferin warf schnelle Blicke nach links und rechts, als ob da etwas wäre.

Als ob da etwas käme.

Aber nichts kam aus dem Wald.

 

Wenig später wimmelte es auf ihrer Weide von Menschen. Sie waren mit drei Autos auf den Hof gebraust und von dort aus ausgeschwärmt: zwei durch das Hoftor zu den Ställen und Häusern und Scheunen, wo die Menschen wohnten, zwei außen um Hofgebäude und Schlossmauer herum, wo niemand wohnte, und die meisten direkt auf die Weide, wo die Schafe wohnten. Sie gingen den Zaun ab, durchsuchten den Heuschuppen oben am Hang, verschwanden im Wald, tauchten wieder auf, schleppten Dinge zum Waldrand und vom Waldrand weg, sprachen mit Rebecca, schritten in systematischem Zick-Zack über die Weide, traten den Schnee matschig und das magere Wintergras noch platter, als es ohnehin schon war.

Die Schafe waren beeindruckt. Eine so gründliche Suche nach Cloud hatten sie nicht erwartet. Das passierte also, wenn es Rebecca »zu bunt« wurde: Sie rief Menschen mit Mützen zu Hilfe - und Hunde. Zwei dunkle Schäferhunde mit dunklen Stimmen schnüffelten über die Weide.

Die Schafe schauderten, zu eingeschüchtert und zu eingepfercht für eine richtige Panik. Das Unheimlichste an den Schäferhunden war, dass sie sich nicht für die Schafe interessierten. Kein bisschen, nicht einmal für das Fremdlingsschaf, das natürlich wieder einmal nicht wie der Rest der Herde zum Futtertrog getrabt war und jetzt beneidenswert frei unter der alten Eiche stand, murmelnd und witternd, und sich für die ganze Aufregung gar nicht zu interessieren schien.

Die Schafe wollten weg. Sie versuchten es zuerst mit Protestblöken - ein bewährtes Rezept gegen die Übel der Welt. Wenn man nur lang genug blökte, passierte etwas, meistens das Richtige. Doch Rebecca, die sonst dafür sorgte, dass das Richtige passierte, machte nur große, erschrockene Augen und ließ die Arme hängen.

Die Schafe blökten und blökten. Irgendwann hörten sie mit dem Blöken wieder auf und schwiegen drohend. Aber auch das interessierte niemanden.

»Es reicht«, sagte Maude nach einer Weile fruchtlosen Schweigens. »Wir hauen ab!«

Der Plan gefiel den Schafen. Rebecca würde schon sehen, wie albern eine Schäferin ohne Schaf aussah!

»Aber wie?«, fragte Lane.

»Mopple soll wieder tot spielen!«, blökte Heide. Heide mochte es, wenn Dinge passierten.

»Warum immer ich?«, murmelte Mopple, aber sie hatten ihm schon oft erklärt, warum: Mopple war das größte und dickste Schaf der Herde. Unübersehbar und eindrucksvoll, wenn er am Boden lag und alle Viere von sich streckte.

Es hatte auch schon ein paar Mal geklappt. Das erste Mal, als die Apfel im Obstgarten nebenan reif waren, und dann noch einmal während der Heuernte. Mopple lag leblos am Boden, und Rebecca eilte erschrocken zu ihnen auf die Weide. Und vor Schreck machte sie das Weidetor nicht wieder richtig hinter sich zu. Beim dritten Mal war Rebecca misstrauisch geworden und hatte den Tierarzt gerufen, extra für Mopple. Trotzdem: das Totspielen war eine bewährte Methode, um auf die andere Seite von Zäunen zu kommen.

Mopple sackte seufzend in den Schnee, zappelte mit den Beinen und starb. Die anderen Schafe machten um ihn herum ein bisschen Platz, damit man ihn gut sehen konnte, blökten dramatisch und schielten aus den Augenwinkeln zu Rebecca hinüber. Doch Rebecca saß auf den Schäferwagenstufen, in eine Decke gewickelt, und sprach mit einem der Mützenmänner. Mama tauchte hinter ihr auf und drückte ihr eine dampfende Tasse Tee in die Hand. Es war das erste Mal, dass die Schafe sahen, dass sie etwas Nützliches tat. Daran konnte man sehen, wie ernst die Lage war.

Mopple strampelte theatralisch mit den Beinen.

»Und?«, ächzte er von unten.

»Nichts«, sagte Cordelia. »Gar nichts«, blökte Ramses.

»Sie hört nichts!«, sagte Sir Ritchfield kopfschüttelnd. »Sie guckt nicht«, sagte Zora.

»Vielleicht sind wir schon verschwunden«, flüsterte Cordelia. »Vorhin, als der Tierarzt zu uns in den Pferch gekommen ist, wollten wir alle verschwinden. Vielleicht ist es jetzt passiert!«

»Ich wollte nicht verschwinden!«, murmelte Heide. »Ich wollte, dass der Tierarzt verschwindet.«

Der Tierarzt war verschwunden, blass und verstohlen, gleich nachdem Rebecca den Hang heruntergestolpert war und sich im Schäferwagen aufgeregt mit Mama und ihrem Sprechgerät unterhalten hatte.

»Vielleicht suchen sie uns«, sagte Lane. »Uns alle!«

 

Nach und nach schienen sich die Fremden etwas zu beruhigen. Sie ließen von Weide und Wald ab und versammelten sich vor dem Schäferwagen. Drei Männer und zwei Hunde fuhren mit einem Auto davon. Der Rest stand herum und trank ohne Begeisterung den Tee, den Mama im Schäferwagen gebraut hatte.

Einer übergab sich. Das Weidetor stand offen. Jetzt, wo es ein wenig stiller geworden war, konnte man Tess im Inneren des Schäferwagens bellen hören.

Nun wagten sich auch die üblichen Menschen auf den Hof, neugierig und unheilvoll wie junge Krähen. Man sah sie kaum kommen, aber jedes Mal, wenn die Schafe durch den Zaun auf den Hof blickten, waren es ein paar mehr geworden: Zuerst die dicke Madame Fronsac, die immer Essen in den Taschen hatte. Die Madame war eine potentielle Futterquelle, und die Schafe sahen sie erwartungsvoll an. Doch die Dicke schien nicht in Fütterlaune. Sie stand nur da, als hätte sie sich an etwas verschluckt, und wrang ihre großen roten Hände. Monsieur Fronsac neben ihr tat, was er immer tat: er guckte. Vielleicht guckte er heute ein bisschen trauriger.

Yves trat durch das Hoftor, eine Axt über der Schulter. Die Schafe rümpften die Nasen. Yves war geruchlich kein Vergnügen, er trieb sich mit seiner Axt zu häufig in Weidenähe herum, und er grinste immer, wenn er Rebecca sah. Grinste, wie Hunde manchmal grinsen, mit den Zähnen, aber nicht mit den Augen. Rebecca hatte ihnen einmal erklärt, dass er ein »Mädchen für alles« war, aber selbst das jüngste Lamm konnte sehen, dass er kein Mädchen war. Kein bisschen.

Der Ziegenhirt schlurfte die Hofmauer entlang.

Der Gärtner kam aus dem Obstgarten, die blonde Hortense und ihr Veilchengeruch wehten aus dem Schloss. Schließlich erschienen auch noch einige der selteneren Kreaturen, die die Schafe sonst nur flüchtig hinter hochgeschlagenen Kragen zu sehen bekamen. Schlosskreaturen. Die Frau mit den streng gespannten Haaren, die die Schafe eingeladen hatte. Die Kinder. Die Kinder wurden sofort weggeschickt.

Der Rest hielt sich von den Mützenmännern fern und quakte gedämpft in der unverständlichen Sprache der Europäer. Alle bis auf den Ziegenhirten. Er hielt nur seinen Wanderstock umklammert, mit Händen, die trotz der Kälte weiß waren, weiß wie Schnee. Die Schafe interessierten sich für den Ziegenhirten - nicht persönlich, aber sozusagen von Berufs wegen. Er tauchte mit schöner Regelmäßigkeit mit einem Futtersack am Ziegenzaun auf, und sie hatten versucht, sich trotz seines strengen Ziegengeruchs mit ihm anzufreunden. Vergebens. Verrückter als seine Ziegen, vermuteten die Schafe.

Rebecca saß noch immer auf den Schäferwagenstufen und blätterte wild in ihrem gelben Buch. Das gelbe Buch verwandelte die Quaklaute der Europäer in Sinn, aber heute schien es keine besonders guten Dienste zu leisten.

»Pourquoi?«, quäkte Rebecca. »Quand? Qui?«

Hortense ging durch das Weidetor zu ihr hinüber und hüllte die Schäferin in eine Wolke aus albernem Blumenduft, aber eine Antwort wusste sie auch nicht. Dann löste sich auch die dicke Fronsac von den anderen Schlossmenschen und walzte mit einiger Mühe den Hang hinauf bis zum Schäferwagen. Mama nannte sie »das Walross«, und nur Othello, der die Welt und den Zoo kannte, wusste warum. Das Walross quakte etwas, leise und aufgeregt, und Rebecca verstand es nicht.

»Sie sagt, du sollst deine Schafe nehmen und weg von hier!«, erklärte Hortense. »An deiner Stelle würde sie sofort weg.«

»Sag ich doch! Sag ich doch! Sag ich die ganze Zeit!«, dröhnte Mama aus dem Schäferwagen.

Rebecca schwieg, und Hortense zuckte verlegen mit den Schultern.

Und dann, fast unmerklich, veränderte sich etwas zwischen den Menschen. Sie wurden stiller, aber nicht ruhiger. Die Schlossmenschen rückten fast unmerklich etwas weiter vom Weidezaun ab, Rebecca schob sich abwesend eine Locke zurück hinters Ohr, Mama postierte sich auf den Schäferwagenstufen und flatterte mit den Wimpern. Tess bellte noch lauter. Alles, weil auf dem Hof ein weiteres Auto vorgefahren war, größer und schwärzer als alle anderen.

Der Häher stieg aus. Der Häher war so etwas wie der Leitwidder der Schlossmenschen, und er sah nicht wirklich wie ein Eichelhäher aus, nicht so bunt und klein, und natürlich hatte er auch keinen Schnabel. Doch etwas an der Art, wie er sich bewegte, scharf und schnell und präzise, erinnerte die Schafe an den jungen Häher, der vor einiger Zeit auf ihrer Weide gesessen hatte.

Der Häher auf ihrer Weide hatte einen hängenden Flügel gehabt.

Der Häher aus dem Schloss hinkte. Nicht viel, und die meisten Menschen bemerkten es wahrscheinlich kaum, aber die Schafe wussten es, und der Häher selbst wusste es auch.

Einer der Mützenmänner ging auf ihn zu und sagte etwas. Der Häher nickte, dann ging er weiter, hinauf zum Schäferwagen, und legte dem Walross sanft die Hand auf den Arm. Auf einmal liefen dem Walross Tränen über die Wangen, und es wurde von Hortense und Monsieur Fronsac weggeführt.

Der Häher trat an den Pferch und sah finster auf die Schafe herab. Die Schafe blickten unbehaglich zurück. Bisher hatten sie ihn nie besonders ernst genommen, weil er hinkte und vermutlich zu langsam war, um ihnen gefährlich zu werden, aber jetzt standen sie eingepfercht. Das große schmale Gesicht des Hähers schwebte dicht über ihnen, und es gab kein Entkommen vor seinen Augen. Zwei Hände schoben sich beiläufig über die oberste Latte des Zauns, schwarz von Handschuhen und selbst in den Handschuhen lang und schmal wie Vogelkrallen. Die Schafe fürchteten, eine dieser beweglichen langen Hände könne sich nach ihrer Wolle ausstrecken, eine Hand, der sie hier in der Enge nicht ausweichen konnten. Was dann?

Doch die Hand kam nicht, nur die Hähersaugen sahen sie weiter an, mit kaltem, bohrendem Interesse und so etwas wie Ärger - als wären die Schafe an irgendetwas schuld. Ab und zu flatterte sein Blick zu Rebecca hinüber, und was dann mit den Augen passierte, gefiel den Schafen noch weniger. Sie wurden tief und schmal, dunkel und glänzend wie Brunnen.

»Attacke!«, meckerte jemand unter ihnen.

»Futter!«, blökte Mopple the Whale, der sich unter den pickenden Blicken des Hähers wieder aufgerappelt hatte.

Bald blökten alle Schafe nach Futter. Für Futter musste Rebecca das Tor aufmachen. Futter war jetzt die richtige Strategie. Futter war meistens die richtige Strategie.

Doch Rebecca rührte sich noch immer nicht.

»Tja«, sagte jemand. »Wir sitzen in der Falle, was?«

Sie saßen in der Falle! Mopple und Maude blökten alarmiert. Ritchfield hustete, und Ramses setzte sich vor Schreck aufs Hinterteil.

»Es ist nicht wirklich eine Falle«, sagte Zora beschwichtigend. »Es ist nur ein Pferch. Rebecca hat uns hier hereingelockt. Sie wird uns wieder herauslassen. Sie muss. Es steht im Testament.«

Im Testament stand eine ganze Menge wichtiger Dinge. Dass Rebecca sie füttern und ihnen vorlesen musste. Dass kein Schaf verkauft werden durfte oder »geschlachtet« - was auch immer das genau bedeutete. Auch der Tierarzt stand im Testament. Leider. Auf den Tierarzt hätten die Schafe verzichten können.

»Das ist kein Schaf!«, murmelte Sir Ritchfield, der alte Leitwidder. Niemand beachtete ihn.

»Vielleicht sollten wir uns verstecken«, sagte Cordelia.

»Und wo?«, fragte Heide spitz. »Etwa im Futtertrog?«

»Das ist kein Schaf«, wiederholte Sir Ritchfield mit Überzeugung.

Der alte Leitwidder stand eingekeilt zwischen Lane und Zora und starrte in den Futtertrog. Und im Futtertrog stand eine kleine, schwarze Ziege und starrte zurück.

Die Schafe erschraken. Eine Ziege mitten unter ihnen! Und niemand hatte sie gewittert!

»Attacke!«, meckerte die Ziege und sprang auf Mopples breiten Rücken. Mopple bekam einen Schluckauf.

Die anderen waren schockiert. Dass Ziegen auf Bäume kletterten, war allgemein bekannt. Aber dass Ziegen auch auf Schafe kletterten? Es passte jedenfalls ins Bild. Sie versuchten, die Ziege zu ignorieren. Das war gar nicht so einfach. Von Mopples Rücken hüpfte die Ziege weiter auf Maude, dann auf Lane. Sie übersprang Ramses, machte einen vorsichtigen Bogen um den schwarzen Rücken Othellos und landete schließlich auf Sir Ritchfield.

»Kein Schaf...«, blökte Sir Ritchfield. Die Ziege beugte den Kopf und flüsterte ihm etwas in Ohr.

»Schweine?«, brüllte Sir Ritchfield aufgeregt. Die Ziege kicherte.

Irgendwann hielt Heide es nicht mehr aus. »Was suchst du hier?«, fragte sie die Ziege. Ritchfield nieste.

»Gesundheit«, sagte die Ziege. »Den Tierarzt.«

Sie schniefte zierlich. »Ein Schnupfen. Er hat mich angesteckt.« Die Ziege klopfte mit ihrem Vorderhuf auf Ritchfields grauen Rücken. Ritchfield nieste zum zweiten Mal.

Die Schafe sahen sich viel sagend an. Vollkommen verrückt!

»Der Tierarzt ist weg«, sagte Mopple the Whale, um die Ziege wieder loszuwerden.

»Aber er kommt wieder!«, sagte die Ziege triumphierend.

Das wiederum klang nun leider fast zu vernünftig.

Die Schafe schwiegen und lauschten Mopples Schluckauf. Wenn der Tierarzt wiederkam, würden sie längst weg sein. Irgendwie. Irgendwo. Vielleicht im Schatten der alten Eiche. Oder unter dem Schäferwagen. Oder hinter der Futterkammer. Oder - idealerweise - in der Futterkammer. Oder notfalls im Futtertrog. Überall. Nur nicht hier im Pferch.

»Du suchst nicht wirklich den Tierarzt, oder?«, gluckste Mopple nach einer Weile.

»Nein«, gab die Ziege zu. »Ich suche das Abenteuer!«

»Hier?«, hickste Mopple aufgeregt. »Auf Sir Ritchfield?« »Genau hier«, bestätigte die Ziege.

Mopple beschloss, sich in Zukunft von Sir Ritchfield fernzuhalten. Ein Schluckauf war schlimm genug. Bei Schluckauf konnte man nicht vernünftig fressen. Das Abenteuer hatte ihm gerade noch gefehlt!

»Ich will euch warnen«, sagte die Ziege. »Ich werde euch warnen!«

»Zu spät!«, stöhnte Ramses. »Der Tierarzt war schon da!« Die Ziege schüttelte den Kopf. »Schnee?«, fragte Maude. »Noch mehr Schnee?« »Auch«, gab die Ziege zu. »Hört zu!«

Die Schafe staunten. Rebecca hatte sie vergessen, ihre Weide wurde von Mützenmenschen überrannt, und auf Sir Ritchfield stand eine kleine schwarze Ziege und hielt eine Ansprache. Es ging um Geheimnis, Gefahr und Abenteuer. Um den Mond, der - wie die Ziege behauptete - ein riesiger Ziegenkäse war. Um Schnee, einen Wolf, der kein Wolf war, und einen Plan, der eigentlich auch kein Plan war.

Kurz - es ging um eine Menge Dinge, von denen die Schafe nichts wissen wollten. Sie hörten weg, so gut es ging.

»Ich denke, wir sollten zusammenarbeiten!«, schloss die Ziege. »Die anderen denken, ich bin verrückt«, fügte sie stolz hinzu.

»Schweine!«, blökte Sir Ritchfield kopfschüttelnd.

»Wir denken auch, dass du verrückt bist«, sagte Heide.

»Hervorragend«, sagte die Ziege. Sie hopste von Sir Ritchfields Rücken und landete wieder im viel zu leeren Futtertrog. Dort begann sie, hin und her zu trotten, hin und her, auf und ab, auf und ab. Die Schafe sahen ihr fasziniert zu. Wie klein sie war. Und wie fellglänzend und schwarz - schwärzer noch als Othello. Wie gelb und seltsam ihre Augen waren und wie spitz ihre Hörnchen. Und wie sie roch!

Die Ziege trabte und trabte und murmelte Dinge wie »sie glauben dir nicht«, »noch nicht!«, »was kann man von Schafen schon erwarten?«, »meinst du, wir sollten?« und »na gut«. Den Schafen wurde ein wenig schwindelig vom vielen Auf und Ab.

Plötzlich war die Schwarze stehen geblieben.

»Heute ist euer Glückstag!«, verkündete sie. »Ihr habt drei Wünsche frei!«

»Kraftfutter«, blökte Mopple sofort. »Hick!«

»Die Menschen sollen weg«, sagte Maude.

»Rebecca soll uns wieder aus dem Pferch lassen!«, blökte Heide.

»Cloud soll zurückkommen!«, sagte Cordelia - etwas zu spät.

Kurz daraufkippten die letzten der Mützenmenschen Reste von kaltem Tee in den Schnee und gingen zurück zu ihren Autos.

»Revenons a nous moutonsh, sagte jemand, und Rebecca sah auf einmal zu den Schafen herüber. Endlich! Dann wurden sie doch noch gefüttert, von einer zerstreuten Schäferin, die ihnen sechs statt der üblichen fünf Futtereimer in den Trog kippte, einen davon direkt auf die Ziege.

Während alle sich den Magen vollschlugen, ging Rebecca zusammen mit dem Ziegenhirten den Zaun ab und kontrollierte die Pfosten.

Dann knarrte das Tor auf, und die Schafe strömten zurück auf ihre lädierte Weide.

Ohne Cloud.

 

Das Winterlamm war nicht wie die anderen sofort aus dem Pferch getrabt. Es stand noch immer neben der kleinen Ziege am Futtertrog. Sie waren ungefähr gleich groß.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte das Winterlamm.

»Was?«, fragte die Ziege unschuldig. »Das mit den Wünschen«, sagte das Winterlamm. »Ein Ziegenzauber«, sagte die Ziege. »Wirklich?«, fragte das Winterlamm.

»Nein«, sagte die Ziege. »Schafe wünschen sich sowieso immer nur das, was ohnehin passieren wird. Zieg'en hingegen...« Sie sah das Winterlamm mit gelben Ziegenaugen an. »Wenn du dir wünschst, dass etwas passiert, dann musst du dafür sorgen, dass es passiert.«

»Und was wünschst du dir?«, fragte das Winterlamm.

»Viel«, sagte die Ziege. »Ich wünsche mir einen Ort, wo immer Süßkraut wächst, und den längsten Ziegenbart der Welt und dass Megära irgendwann ein fauler Apfel auf den Kopf fällt. Aber im Augenblick...«, sie legte den Kopfschief und dachte nach,»... im Augenblick wünsche ich mir, dass jemand kommt und den Mond auffrisst. Ganz auffrisst.«

Sie blickte Richtung Tor, wo sich der Schatten des Schlosses wie jeden Nachmittag anschickte, über den Zaun auf die Weide zu klettern.

»Ich muss gehen«, sagte sie. »Wenn ihr mich braucht - ich bin nicht da!«

Das Winterlamm hätte gerne Dinge gefragt - vor allem nach ihrem Namen.

 

Diesen Abend kauten die Schafe noch lustloser als sonst auf ihrem Wintergras herum. Sogar Mopple. Alles roch falsch. Zu sehr nach Hundetatzen, Puder und Gummistiefeln. Nach Menschenschweiß und Zigarettenrauch. Und nach etwas anderem, das die Schafe nicht verstanden. Und viel zu wenig nach Cloud.

»Kein Schaf darf die Herde verlassen!«, blökte Sir Ritchfield bekümmert.

»Außer, es kommt zurück!«, sagte Cordelia.

»Warum kommt Cloud nicht zurück?«, fragte Heide.

»Auf eine Weide voller Hunde und Mützen würde ich auch nicht zurückkommen«, sagte Miss Maple. »Wahrscheinlich hat sie sich versteckt. Und vielleicht ist es gar nicht so einfach, aus so einem Wald wieder herauszufinden. Zu viele Bäume.«

Sie beschlossen, in den Wald hineinzublöken. So laut wie möglich. Vielleicht kam Cloud dann heraus!

»Cloud!«, blökten sie im Chor. »Der Tierarzt ist weg! Wir sind noch da! Komm zurück!«

Aber der Wald schwieg.