13
Deshalb wusste sie, dass niemand im Schäferwagen war«, sagte Rebecca. »Weil du ihr Tess vorbeigebracht hast!«
»Und dann hat sie die alte Tess doch allein gelassen!«, sagte Mama.
Rebecca rauchte. Mama blätterte durch ihre Karten, wieder und wieder. Tess saß dabei und wedelte jedes Mal, wenn sie ihren Namen hörte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Mama schließlich. »Der Gehängte fehlt.«
»Irgendwie bin ich froh«, sagte Rebecca. »Ich meine, es ist eine traurige Geschichte, aber immerhin war es nicht Zerstörungswut oder so. Sie hat es getan, weil sie mich mag!«
»Der Gehängte fehlt«, sagte Mama störrisch. »Wie soll ich ohne den Gehängten ...«
Rebecca zuckte mit den Achseln. »Ohne die Gerechtigkeit geht es doch auch!«
»Das ist etwas anderes«, sagte Mama scharf. »Etwas ganz anderes! Der Gehängte steht für Opfer und Erkenntnis. Wie soll man ohne Opfer und Erkenntnis vernünftig Karten lesen können?«
Die Schafe standen im Windschatten des Schäferwagens und versuchten, Rebecca zu ignorieren. Seit die Schäferin ihr Silber zum zweiten Mal im Abfalleimer versenkt hatte, waren sie gar nicht mehr gut auf sie zu sprechen.
»Es war sicher die falsche Karte«, sagte Cordelia fröstelnd. »Jetzt liegt Yves unter der Eiche, na und? Zu was soll das gut sein?«
»Mopple soll eine andere Karte fressen!«, blökte Cloud.
»Wo ist Mopple?«, fragte Ramses.
Die Schafe sahen sich um. Mopple war nirgends!
Sie rückten enger zusammen. Es war nicht zu übersehen, dass sie weniger wurden. Zuerst Zora, Heide und Maude, das Warnschaf. Dann Othello. Jetzt Mopple. Sie kamen sich dünn vor - wie geschoren. Alle ihre Pläne gegen den Garou hatten bisher nicht zu mehr Sicherheit, sondern immer nur zu weniger Schafen geführt. Diesmal wollte sich niemand mehr von der Weide wagen, um das Papier zu holen.
»Marcassin!« Der Ungeschorene war näher an sie herangetrabt, nicht so nah, dass er sie berührte, aber so nah, dass sie ihn riechen konnten. Niemand störte sich daran. Ein Schaf mehr war ein Schaf mehr, und es fühlte sich warm und gut an.
»Was zieh ich heute Abend bloß an?«, sagte Mama und starrte auf ihre Karten.
Rebecca holte tief Luft.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte sie dann. »Ich sorge dafür, dass die Antenne aufs Dach kommt, und du bleibst heute Abend zu Hause.«
»Ich bin dir peinlich«, sagte Mama.
»Ich möchte die Schafe nicht alleine lassen«, sagte Rebecca und blickte zu Boden. »Nicht, nachdem all diese Sachen passiert sind. Aber ich würde gerne gehen. Ich war noch nie richtig im Schloss, nur unten in der Küche und in der Bibliothek.«
»Ich frag die Karten«, sagte Mama.
Rebecca schnippte wütend ihre Zigarette in den Schnee. Die Schafe vergaßen einen Moment, sie zu ignorieren, und staunten.
»Immer werden die blöden Karten befragt! Immer! Was zum Teufel glaubst du denn, ist in diesen Karten, was nicht auch hier draußen in der Welt ist?«
»Nichts«, sagte Mama. »Aber manchmal helfen sie uns zu sehen.«
Miss Maple guckte neugierig. Rebecca schwieg. »Ich bleib hier«, sagte Mama. Rebecca schwieg.
»Übrigens, Hortense war da«, sagte die Schäferin schließlich. »Mit dem kleinen Jungen, du weißt schon, dem ganz kleinen.«
»Jules«, sagte Mama. »So klein ist er nicht.«
»Er will die Karten gelegt bekommen«, sagte Rebecca. »Machst du das? Und erzähl ihm bloß keinen Blödsinn!«
Mopple the Whale hatte gründlich genug von Ziegen, echten wie eingebildeten. Er war von einer dicken gelben Tigerkatze angefaucht worden und von einem stinkenden Schwein angegrunzt, er wäre fast in einem Misthaufen versackt und beinahe zwischen zwei dicken Tonnen stecken geblieben. Mopple hatte sogar das extragroße Auto gesehen, schlafend, in einer Ecke. Nur von Zora, Heide und Maude fehlte weiterhin jede Spur.
»Ich will zurück!«, blökte Mopple, aber auf einmal schienen die drei Ziegen tauber als Sir Ritchfield zu sein. Endlich blieben sie doch stehen, im Schutze eines Holzstapels.
»Er ist nicht hier!«, seufzte Kalliope.
»Hier ist er nicht«, bestätigte Amaltee.
»Ihr wisst, was das bedeutet«, sagte Circe.
Die anderen beiden nickten. »Wir müssen herum!«
Die Art, wie sie »herum« sagten, gefiel Mopple nicht.
»Warum?«, fragte er. »Wo herum?«
»Darum!«, sagten die drei Ziegen und blickten nach oben. Nach sehr weit oben. Mopple legte ebenfalls den Kopf in den Nacken.
»Ums Schloss?«, fragte er leise.
Circe nickte. Vorsichtig glitt sie aus dem Schatten des Holzstapels hervor, auf das Schloss zu. Dann Amaltee. Dann Kalliope. Dann - sehr widerwillig - Mopple.
Sie folgten dem Graben, der das Schloss umrundete, vorbei an starren, kahlen Bäumchen und einem Schwan aus Stein. Unten im Graben roch es nach Wasser. Mopple riskierte einen Blick und erschrak: Da unten trabten auch drei Ziegen und ein Widder. Ein ziemlich rundlicher Widder. Wo er bei dem ganzen Schnee so viel Futter fand, hätte Mopple schon interessiert. Die Ziegen sahen schlanker aus, und verwegener. Der dicke Widder guckte eingeschüchtert zu Mopple hinauf. Er tat ihm leid. Mit drei Ziegen im Graben - kein Vergnügen! Wenigstens war Mopple hier oben im Freien, konnte Wind riechen und in alle Richtungen sehen. Ermutigt trabte der dicke Widder weiter.
Dann waren sie plötzlich aus dem Schatten des Schlosses herausgetreten und standen auf einer Art steinernem Plateau. Und dahinter...
»Was ist das?«, krächzte Mopple.
»Das«, sagten die Ziegen im Chor. »Das ist das Labyrinth!«
»Etwas nach links«, sagte Rebecca. »Etwas nach rechts«, sagte Mama.
Zach stand auf dem Dach des Schäferwagens und balancierte ein Geweih aus Metall hin und her. Die Schafe standen da und sahen zu.
Alle bis auf Miss Maple. Miss Maple hatte als Lamm Ahornsirup von Georges Brot gestohlen, und jetzt war sie dabei, eine von Mamas Karten von den Stufen des Schäferwagens zu stehlen. Die Karten mochten nicht funktionieren wie die Landkarte, aber sie halfen zu sehen, hatte Mama gesagt - und Miss Maple wollte sehen: die Wahrheit und notfalls sogar den Garou. Auf der ersten Karte, die ihr unter die Nase kam, war etwas, das ein bisschen wie das Schloss aussah. Menschen flogen durch die Luft. Nicht besonders appetitlich, aber Maple hatte keine Zeit, wählerisch zu sein, und biss zu, kaute, kaute noch einmal und schluckte. Hart und trocken. Und ein bisschen bitter. Sie verstand nicht, was Mopple an Karten fand.
Sie trat ein paar Schritte vom Schäferwagen weg und blickte umher. Sah sie schon besser? Sie sah Zach, Mama und Rebecca, ihre Herde und den Ungeschorenen, die Ziegen jenseits des Zauns, den Wald und das Schloss. Nichts Neues. Mamas Karten funktionierten genauso wenig, wie das Stielaugengerät funktioniert hatte. Auf einmal hatte Maple das seltsame Gefühl, dass sie gar nicht sehen musste. Dass sie schon gesehen hatte - nur nicht verstanden. Die Spur des Garou war in ihrem Kopf, irgendwo, zum Rupfen nah.
Maple schloss die Augen und spähte wieder. Diesmal sah sie kein Schloss und keine Weide. Nur das Meer. Dann einen Fluss. Nein, es war nicht wirklich ein Fluss. Ein Moment auf der Landstraße, mit dunklem Gewitterhimmel und Sonne davor, der nasse Asphalt schimmernd wie ein Fluss. Sie waren nicht mehr auf der Landstraße, weil die Frau mit den strengen Haaren sie eingeladen hatte. Warum hatte die Frau sie eingeladen? Eine Spinne, die sich damit abmühte, ein verirrtes Birkenblatt wieder aus ihrem Netz zu lösen. Die Weide im schrägen, gelblichen Licht, Momente, bevor die Sonne hinter dem Schloss verschwand. Selbst wenn die Sonne sich hinter dem Schloss versteckt hatte, konnte man sie erahnen an den leuchtend hellen Rändern. Auch den Garou musste man in seinem Menschenversteck erahnen können. Doch wo waren die Ränder eines Menschen? Maple wusste es nicht und blickte weiter. Das Reh im Wald. Der Blick der kleinen Ziege, bevor sie der Spur des Garou folgte. Warum war die kleine Ziege so wild darauf, den Garou zu finden? Die anderen Ziegen schien er nicht zu stören. Zach im Wald. Hortense mit den Jungmenschen auf der Weide. Der Ziegenhirt hier und der Ziegenhirt im Wald. Yves unter der alten Eiche. Zu was war das gut? Es musste zu etwas gut sein! Auf einmal war sich Miss Maple sehr sicher, dass nicht Rebecca Yves auf dem Gewissen hatte. Sonst hätte sie vorhin nicht so ausdauernd versucht, ihn zu finden. Also war es irgendjemand anderes gewesen - und dieser Jemand musste dafür einen Grund gehabt haben. Vielleicht war Yves unter der alten Eiche ja doch zu etwas gut! Aber zu was? Maple machte die Augen wieder auf.
»Genau da!«, sagten Mama und Rebecca im Chor. Das kleine Metallgehörn auf dem Schäferwagen sah albern aus.
»Da entlang!«, sagte Circe. »Da entlang!«, sagte Amaltee. »Da entlang!«, meckerte Kalliope.
Die drei Ziegen blickten in drei verschiedene Richtungen, und Mopple the Whale blickte zwischen ihnen hin und her.
»Gibt es keinen anderen Weg?«, stöhnte Mopple. Sie waren in einen Irrgarten immergrüner Hecken eingetaucht, und hinter jeder Hecke wartete eine Ecke, wartete eine Ecke, wartete eine Ecke, und dann noch eine Hecke. Nichts als Ecken und Hecken. Unnatürlich.
»Doch«, sagte Amaltee. »Aber dieser hier ist interessanter! Da entlang!«
»Warum sind wir hier? Was soll das? Was wollt ihr überhaupt?« Mopple hatte gründlich genug von Hecken und Ecken.
Auf einmal sahen ihn alle drei Ziegen vorwurfsvoll an.
»Wir sind Ziegen«, sagte Circe geziert. »Wir wollen nicht!«
»Aber wir werden auch nicht so einfach herumstehen, wenn der Garou herumschleicht«, sagte Amaltee.
»Egal was die Alten sagen.«
»Die Alten sagen viel!«
Die drei Ziegen verdrehten die Augen.
»Was sagen die Alten?«, wollte Mopple wissen.
»Dass der Garou noch nie eine Ziege geholt hat. Dass der Garou Ziegen in Ruhe lässt.«
»Und was machen wir hier?«, fragte Mopple noch einmal.
»Ihr wollt«, erklärte Amaltee.
»Ihr wollt etwas gegen den Garou unternehmen«, sagte Kalliope.
»Wir wissen, wo sich der Garou versteckt«, sagte Circe. »Vielleicht«, sagte Kalliope.
»Zumindest wissen wir, wer vielleicht weiß, wo sich der Garou versteckt!«, korrigierte Amaltee. »Da entlang!«, sagte Circe. »Da entlang!«, meckerte Kalliope. »Ich will zurück«, japste Mopple.
»Das ist das Labyrinth«, sagte Circe leise. »Hier gibt es kein Zurück. Zurück ist auch voran! Da entlang!«
»Ich glaube, wir wissen etwas, was wir nicht wissen«, erklärte Miss Maple.
Die anderen Schafe sahen sie besorgt an. Es war verdienstvoll von Maple gewesen, eine von Mamas Karten zu fressen, aber anscheinend war sie ihr nicht besonders gut bekommen.
Sie hatten sich zum gemeinsamen Ermitteln hinter den Heuschuppen zurückgezogen, und Maple redete wirres Zeug.
»Ich glaube, wir wissen etwas über den Garou«, begann Maple noch einmal. »Etwas, was uns nicht die kleine Ziege erzählt hat. Etwas, das wir gesehen haben - oder etwas, das wir fast gesehen haben. Was wissen wir über den Garou?«
Die Schafe strengten sich an. Silber und Kugeln und glühende Augen und Wolfssalben - alles Ziegenverrücktheiten. Alle bis auf das Reh. Das Reh war sehr echt gewesen, sehr rot und sehr tot.
»Er muss sehr dick sein!«, platzte Ramses plötzlich heraus. »Rehe sind groß und schwer, und wenn er viele Rehe gefressen hat...«
Sie sahen sich an. Sehr dick! Dann kam eigentlich nur die Fronsac als Versteck in Frage!
Maple guckte einen Moment lang träumerisch hinunter zum Schäferwagen, wo Rebecca und Zach und Mama Hände schüttelten.
»Nein!«, sagte sie dann nachdenklich. »Nein, das muss er nicht!«
»Warum?«, blökte das Winterlamm.
»Weil er die Rehe nicht frisst!«, sagte Miss Maple. »Und das ist... interessant.«
Auf einmal musste Miss Maple an die Kinder denken, die vor dem Hoftor Schaf gespielt hatten. Schafe rupften Gras, und Schafe fraßen Gras. Die Kinder hatten das Gras gerupft, aber nicht gefressen. Weil sie nicht wirklich Schafe waren. Weil sie nur Schafe gespielt hatten.
»Wölfe fressen Rehe«, sagte sie. »Und Menschen. Und« - sie seufzte, aber es musste gedacht werden –
»Schafe. Aber der Garou hat das Reh nicht gefressen - er hat es nur... verstreut. Wie die Kinder das Gras. Die Kinder wussten nicht, was sie mit dem Gras anfangen sollten, weil sie keine Schafe sind. Und der Garou frisst die Rehe nicht, weil er kein echter Wolf ist. Er ist ein gespielter Wolf. Ein Wolf, den sich jemand vorstellt!«
Die Schafe kauten. Mit eingebildeten Ziegen hatten sie nun schon ein bisschen Erfahrung. Eingebildete Wölfe hingegen...
»Aber was frisst er dann?«, fragte Cordelia.
Lane schauderte. »Vielleicht frisst er seinen Menschen. Von innen!«
Circe wollte nach links, Amaltee und Kalliope wollten nach rechts, und natürlich hätte keine von ihnen zugegeben, überhaupt zu wollen. Mopple wollte auch, weg nämlich, aber für ihn interessierte sich niemand.
»Megära würde auch nach rechts gehen!«, meckerte Kalliope, um Circe zu überzeugen. »Und Xantippe und Arachne und Io!«
»Und Madouc!«, blökte Mopple. Hauptsache, es ging weiter!
Auf einmal sahen ihn alle drei Ziegen scharf an. »Oh«, meckerte Kalliope. »Du darfst nichts auf das geben, was Madouc tut.«
»Madouc ist keine Ziege!«, sagte Amaltee. »Nicht wirklich.« »Warum nicht?«, fragte Mopple. »Sie hat etwas getan«, sagte Amaltee.
»Schrecklich. Schrecklich«, murmelten Circe und Kalliope. »Was denn?«, fragte Mopple. »Was ist sie dann?« Die drei Ziegen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten.
»Ein Mensch ist sie auch nicht«, murmelte Kalliope.
Circe drehte den Kopf und sah Mopple über ihren roten Rücken hinweg an. »Wir wissen nicht, was Madouc ist.«
»Der Hirt hat sie mit einer Flasche aufgezogen«, sagte Kalliope.
»Verzogen.«
»Leichtsinnig. Leichtsinnig«, murmelten Circe und Amaltee.
»Und sie hat allerhand Menschendummheit mit der Milch aufgesogen.«
»Leider. Leider«, murmelten Circe und Amaltee. Die Ziegen kicherten.
»Da entlang!«, meckerte Circe und bog links um die Ecke. Die anderen folgten.
Auf einmal lag das verflixte Labyrinth hinter ihnen. »Endlich!«, dachte Mopple. Dann dachte er: »Der Garou!«
Im nächsten Moment wusste er, dass er sich getäuscht haben musste, denn der Garou war einer, und die Tiere waren zwei. Sie saßen links und rechts von einer Pforte auf Podesten und brüllten lautlos in den Nachmittag.
Mopple und die Ziegen wichen ein bisschen zurück. Raubtiere, so viel war klar, mit langen, gebogenen Klauen und zu vielen scharfen Zähnen im Maul, geduckt, steinern, sprungbereit.
»Da entlang!«, meckerte Circe auf einmal entschlossen und machte einen Schritt auf die Pforte zu.
»Und ihr seid euch sicher, dass sie nichts tun?«, fragte Mopple.
»Sicher nicht«, sagte Amaltee.
»Was ist schon sicher?«, sagte Circe.
»Der einhörnige Bock trifft die Mitte!«, sagte Kalliope.
Die anderen beiden Ziegen sahen sie an, als hätte sie gerade etwas sehr Weises gesagt.
»Stein ist ein Ding, bleibt ein Ding, immer ein Ding«, murmelte Circe, aber Mopple sah, wie sich ihr Fell unter den Blicken der steinernen Raubtieraugen sträubte.
Die rote Ziege keilte kurz nach hinten aus, dann galoppierte sie durch die Pforte. Dann die Graue. Dann die Gescheckte. Die beiden Raubtiere konnten sich nun voll und ganz auf Mopple konzentrieren.
Mopple kniff die Augen zu, dachte an Zoras schöne Hörner und galoppierte los.
Jenseits der steinernen Raubtiere war es überraschend hübsch. Eine einladende offene Fläche, die im Sommer sicher einen guten Weidegrund abgab, gesäumt von Büschen und jungen Birken, und auf der anderen Seite ein kleines, weißes Haus mit einigen Nebengebäuden. Das Einzige, was das friedliche Bild störte, waren zwei ferne braune Flecke auf dem Weiß des Schnees: die beiden Männer, die immer spazieren gingen, liefen über die Wiese auf das Schloss zu.
Mopple und die Ziegen versteckten sich in einem Ginsterbusch und warteten.
Die Männer unterhielten sich, nicht besonders freundlich. Es war seltsam, dass zwei Menschen, die sich so wenig mochten, so viel Zeit miteinander verbrachten. Vielleicht hatten sie Angst, allein in den Wald zu gehen. Oder vielleicht mochten sie sich doch, denn auf einmal lachten die beiden. Lachten und lachten und lachten, bis sich der Dicke vor Aufregung in ein buntes Tuch schnauzen musste.
»Was haben sie gesagt?«, fragte Mopple, als die beiden Spaziergänger prustend vorbeigezogen waren.
Amaltee legte den Kopf schief. »>Diesmal muss es ja nicht wie ein Unfall aussehen<, hat der Kleine gesagt. Ist das lustig?«
»Ich weiß nicht«, sagte Mopple. »Und jetzt?« »Hier wohnt Eric und macht Ziegenkäse«, erklärte Kalliope stolz.
»Früher hat er auch Schafskäse gemacht«, fügte Circe tröstend hinzu. »Und wenn wir Glück haben, wohnt hier auch Bernie.«
»Wer ist Bernie?«
Die drei Ziegen schauderten. »Bernie ist verrückt!«
Mopple und die Ziegen trabten flott auf das weiße Haus zu und verpassten so den schwarzen Widder, der den beiden Männern in einigem Abstand folgte.
»Woher weiß Madouc so viel vom Garou, wenn sie ihn noch nie gesehen hat? Wenn ihn noch niemand gesehen hat?«
Maple stand noch immer hinter dem Heuschuppen und dachte. Den anderen Schafen war die Sache zu kompliziert geworden, und sie hatten sich grasend zerstreut. Nur das schweigsamste Schaf der Herde stand noch neben ihr und hörte nachdenklich zu.
»Und woher weiß Mama von dem Werwolf? Und die Fronsac?«
Das schweigsamste Schaf der Herde wusste keine Antwort.
»Nicht von Madouc jedenfalls«, sagte Maple. »Also muss es anders herum sein: Madouc hat die Geschichte von einem Menschen. Eine Menschengeschichte! Der Garou ist ein erfundener Wolf Deswegen kann er in einem Menschen wohnen. Er wohnt im Kopf«
Das schweigsamste Schaf der Herde sah sie fragend an.
Maple nickte. »Die Frage ist: Wer hat die Menschengeschichte erzählt? Und wie ist der Wolf aus der Geschichte herausgekommen?«
Auf einmal witterte sie eine Bedeutungsspur. Klar und breit wie ein Weg. Das schweigsamste Schaf der Herde war ein überraschend inspirierender Gesprächspartner.
»Weißt du, was das bedeutet?«, blökte sie aufgeregt. »Das bedeutet, dass der Mensch sich nicht wirklich verwandelt. Er denkt nur, dass er sich in einen Wolf verwandelt. Und das bedeutet, dass jemand, der den Garou gesehen hat, den Menschen wiedererkennen kann! Aber niemand hat den Garou gesehen ...«
Das schweigsamste Schaf der Herde schnaubte. Maple spürte so etwas wie einen sanften Widerspruch.
»Du hast Recht«, sagte sie. »Einer schon!«
Sie blickte hinüber zu den Ginsterbüschen, wo der Ungeschorene stand und sich sonnte.
»Und dann haben wir geerbt. Und dann sind wir nach Europa gefahren. Nur dass mit Europa etwas nicht gestimmt hat. Dann habe ich die Landkarte gefressen, und jetzt sind wir hier!« Mopple the Whale guckte stolz zu den Ziegen hinüber. Er hatte beschlossen, ein wenig Konversation zu treiben, um sich von den vielen offenen Türen abzulenken - und von der Frage, was hinter ihnen so alles lauern konnte. Um das hübsche weiße Haus herum gab es eine Menge weniger hübscher Schuppen und Hütten und Ställe, und die Ziegen trabten nun zwischen ihnen herum und witterten prüfend in jede Tür.
»Aber jetzt wollen wir wieder weg. Mit dem Auto. Wegen dem Wolf. Zora ist das Auto suchen gegangen, und dann ...«
Die drei Ziegen sahen ihn ein wenig mitleidig an.
»Wer glaubt denn heute noch an Wölfe?« Die Ziegen machten aufgeklärte Gesichter.
»Wölfe sind eine Erfindung der Hirten«, erklärte Amaltee.
»Damit sie uns besser unterdrücken können«, meckerte Circe.
»Ziegen sind nämlich gar nicht leicht zu unterdrücken.«
Die drei Ziegen reckten rebellisch die Hälse.
»Kassandra wiederum behauptet, dass Hirten eine Erfindung der Wölfe sind«, wandte Kalliope ein.
»Was weiß schon Kassandra!«, meckerten Circe und Amaltee.
Die drei Ziegen trabten weiter, in einen geflüsterten Disput um Hirten und Wölfe vertieft. Mopple hinterher.
Sie kamen an einer halbgeöffneten Stahltür vorbei. Drinnen war es hell und roch seltsam, nach Milch und Säure und ein bisschen nach Ziegen.
»Guck mal!«, sagte Circe. »Das ist interessant!«
Mopple wollte nicht gucken, aber natürlich guckte er doch. Drinnen stand Eric und hantierte mit Ziegenkäse, tunkte ihn in Flüssigkeit und hob ihn dann wieder heraus. Die Ziegenkäse glänzten in einem kalten, weißen Licht wie Monde.
»Ziegenkäse«, sagte Amaltee mit einer Mischung aus Spott und Stolz.
Mopple hatte keine Augen für den Ziegenkäse. »Der Hund!«, hauchte er.
Und was für ein Hund! Mopple hatte noch nie so einen Hund gesehen. So groß. So grau. So langbeinig und zottig. Der Hund döste zufrieden, gar nicht so weit von der Tür, und seine Füße hetzten im Traum Kreaturen durch den Schnee - weiße, rundliche Widder, vermutete Mopple.
»Er kann uns nicht wittern«, flüsterte Amaltee. »Dazu stinkt es dort drin viel zu sehr nach Käse.«
»Früher gab es viele von ihnen«, tuschelte Circe. »Ein ganzes Rudel. Damit die Patienten nicht wegliefen!«
»Oh«, sagte Mopple wieder. »Oh.«