19

 

Kurze Zeit nachdem die Schafsfeinde mit ihrem Schießeisen vom Weidezaun abgezogen waren, tauchte Mama wieder auf den Stufen des Schäferwagens auf, rauchte eine Zigarette nach der anderen und blickte nervös zum Wald. Zweimal holte sie ein Sprechgerät aus der Tasche. Und zweimal steckte sie es wieder weg.

Auch Vidocq blickte unter dem Schäferwagen hervor.

Und dann wedelte er sacht mit dem Schwanz.

Rebecca war am Waldrand aufgetaucht, mit roten Wangen, so rot, dass das Fehlen der roten Mütze diesmal gar nicht weiter auffiel, und steuerte schnurstracks auf den Schäferwagen zu.

Mama schnippte vor Erleichterung ihre fünfte Zigarette in den Schnee.

»Und?«, fragte sie, als Rebecca beim Schäferwagen angekommen war.

»Er will uns helfen«, sagte Rebecca. »Malonchot hat ihm heute Tess zur Obduktion vorbeigebracht - und jemand hat ihr tatsächlich Gift gegeben, stell dir vor! Ich hab's gewusst!«

»Schweine!«, sagte Mama.

»Anscheinend hat ihm jemand nahegelegt, sich nicht einzumischen. Er wollte nicht sagen, wer, aber die Landwirtschaft hier mit den Ziegen und Schweinen und Kühen ist wahrscheinlich eine seiner Haupteinnahmequellen, wenn du mich fragst, und dann kann man es sich eigentlich denken.«

Mama zückte eine neue Zigarette und bot auch Rebecca eine an. Rebecca schüttelte den Kopf.

»Aber er hilft uns trotzdem, hat er gesagt. Er hat das letzte Mal die Schafe wegbringen müssen, und er hat gesagt, so was will er nicht noch mal sehen. Er kennt einen Hof mit einem freien Stall, einen Pferdegnadenhof, und wenn alles klappt, können wir übermorgen hin. Wir müssen nur den Transport organisieren. Und natürlich sollen wir die Sache nicht an die große Glocke hängen. Ich bin wirklich froh! Weißt du was: gib mir doch eine!«

Auch die Schafe waren erleichtert. Anscheinend hatte Mopple damals doch die richtige Karte gefressen! Der dicke Widder wurde umringt und freundlich beknabbert, und obwohl er sich nicht an seine Heldentat erinnerte, machte er ein zufriedenes Gesicht.

Nur...

»Übermorgen ist weiter weg als morgen«, sagte Cloud. »Bis übermorgen kann viel passieren.«

Zuerst einmal passierten aber die richtigen Sachen. Rebecca streckte wieder ihren Zeigefinger aus, um sie zu zählen. Sie zählte zwei Mal. Zum ersten Mal zählte sie auch den Fremden mit, der gar nicht weit entfernt von den anderen graste und sich kauend mit Aube und Päquerette unterhielt. Aube und Päquerette zählte sie nicht.

»Alle da!«, sagte Rebecca und stellte den Futtereimer ab. »Gott sei Dank. Ich hatte ein blödes Gefühl, aber sie sind alle da. Wenigstens das!«

Rebecca schmierte Zoras Hinkefuß mit einer stinkenden Salbe ein, und alle Schafe grasten zufrieden. Alle bis auf eines.

Heathcliff stand etwas abseits von den anderen und sah finster hinüber zum Futtertrog. Sein Kopf fühlte sich zwar etwas besser an, und seine Rippen schmerzten nicht mehr bei jedem Atemzug, aber Hals und Hufe stachen wie Brennnesseln von innen, kleine, scharfe, spitze Schmerze bei jeder falschen Bewegung. Die meisten Bewegungen waren falsche Bewegungen. Das Einzige, was sich gut anfühlte, war sein Name. »Heathcliff«! »Heathcliff« fühlte sich hervorragend an, wie etwas Warmes, Glühendes, Sattes im Inneren. Er überlegte, wie gut sich erst die Ziegen fühlen mussten. Voller Namen, rund und gesund.

Heathcliff trabte hinüber zum Ziegenzaun und starrte sehnsüchtig durch die Latten.

Auf einmal stand die kleine schwarze Ziege neben ihm, auf der Schafseite, und auch sie lehnte ihren Kopf gegen den Zaun.

Heathcliff seufzte.

»Ich wäre gerne eine Ziege«, sagte er.

»Ich auch«, sagte Madouc.

»Aber du bist eine Ziege!«, sagte Heathcliff.

Madouc schüttelte den Kopf. »Der Hirt ist meine Mutter, deswegen ist es nicht so einfach. Man saugt es mit der Muttermilch auf, oder aber eben nicht. Wenn nicht, ist es kompliziert.«

Heathcliff überlegte, was er so alles mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Alles Mögliche, so viel stand fest. Er war von Mutterschaf zu Mutterschaf gestolpert und hatte Milch gestohlen, wo es eben ging. Und dann war George gekommen und hatte ihn mit einer Flasche gefüttert. Was war in der Flasche gewesen? Menschenmilch? Schafsmilch? Auf einmal hatte Heathcliff das Gefühl, dass in dieser Flasche Ziegenmilch gewesen sein könnte.

Heathcliff atmete vorsichtig aus. Er fühlte sich wieder wie oben in der Eiche, schwindelig und unsicher und trotzdem gut. Er hatte sich seinen Namen aus den Asten einer Eiche geholt. Man musste die Dinge selbst zwischen die Hörner nehmen - selbst wenn die Hörner, wie in Heathcliffs Fall, noch kurz und stumpf waren.

»Ich habe Ziegenmilch aufgesaugt«, sagte er dann.

»Wirklich?«, Madouc sah ihn neidisch an.

»Vielleicht können wir beide Ziegen werden«, sagte Heathcliff vorsichtig.

»Warum nicht«, sagte Madouc.

 

Nach der Zählaktion war Rebecca nochmals zum Schloss aufgebrochen, und kurze Zeit später kam sie schlecht gelaunt zurück.

»Nicht zu erreichen!«, sagte sie zu Mama. »Kein Telefon, nichts! Wie vom Erdboden verschluckt! Vielleicht... vielleicht hat er ja einen Patienten!«

»Hier?«, fragte Mama. »Ich dachte, seine Praxis ist in Paris.«

»Ist sie auch«, sagte Rebecca. »Nur... gestern im Schloss habe ich einen Mann gesehen. Ich war auf dem Weg zum Klo und guckte aus dem Fenster, und schräg unter mir, auf einem kleinen Balkon zum Innenhof, steht ein Mann und raucht. Und so ein Gesicht... ich habe noch nie so ein Gesicht gesehen. Die eine Seite war... fast weg, würde ich sagen. Nichts als ein Loch. Und alles rot und frisch. Mir ist ganz kalt geworden. Und trotzdem stand er mit einer Seelenruhe da und rauchte. Ich … irgendwie war ich froh, dass er mich von dort unten nicht sehen konnte.«

»Na siehst du«, sagte Mama. »Der Schnösel arbeitet.«

»Trotzdem«, sagte Rebecca. »Er hätte sich melden können. Er hätte etwas sagen können, nicht?«

»Was willst du überhaupt von ihm?«, fragte Mama. »Nach all dem, was du mir erzählt hast, würde ich mich von ihm fernhalten!«

»Ich glaube, ich wollte ihm eine Chance geben«, sagte Rebecca. »Sich zu erklären. Irgendwie.«

»Dich muss es ja ganz schön erwischt haben«, sagte Mama. »Es kommt kalt rein!«

Sie zog die Schäferwagentür wieder hinter sich zu.

Rebecca machte sich an einer Metalldose zu schaffen, und nach viel Fluchen und gutem Zureden gelang es ihr, sie aufzuklappen und den Inhalt in eine Schüssel zu kippen.

Die Schafe machten lange Hälse, aber das Futter war für Vidocq, der unter dem Schäferwagen lag und traurig aussah.

Die Schafe verstanden ihn ein bisschen: Er sah so aus wie ein Schaf, aber er war kein Schaf. Rebecca war seine neue Schäferin, aber er kannte sie kaum. Der große Hirtenhund war ziemlich allein. Rebecca schien das auch zu verstehen. Sie fuhr Vidocq freundlich durch die zottigen Stirnfransen, undVidocq wedelte matt mit dem Schwanz. Dann saßen Schäferin und Hirtenhund gemeinsam schwermütig vor dem Schäferwagen.

»Das Leben!«, seufzte Rebecca, und Vidocqs Schwanz klopfte zustimmend auf das Holz der Schäferwagenstufen. Gerade als die allgemeine Melancholie dabei war, auch auf die Schafe überzugreifen, sprang Rebecca auf einmal von den Stufen und kroch selbst unter den Schäferwagen.

»Ich hab's!«, rief sie. »Ich hab's, ich hab's! Stöckchen! Stöckchen!«

Das Stöckchen, das Rebecca unter dem Wagen hervorzog, war ein ausgewachsener Ast, und Vidocq sprang plötzlich auf und ab wie ein großer begeisterter Schneeball.

Die Schafe konnten den allgemeinen Enthusiasmus nicht ganz nachvollziehen. Ein Ast. Na und? Im Wald gab es viele Äste!

Rebecca hielt den Ast über den Kopf und wedelte mit ihm hin und her. Vidocq wirbelte um sie herum, baffte und zeigte seine rosa Zunge. Dann flog der Ast durch die Luft, und Vidocq flog hinterher. Er erwischte den Ast noch in der Luft, raste in weitem Bogen über die Weide, hütete im Vorbeirennen ein paar Schafe und sauste dann wieder auf Rebecca zu, die sich vor Aufregung kaum noch helfen konnte.

»Fein! Guter Junge! Brav! Bring das Stöckchen! Wo ist das Stöckchen?«

Die Schafe trauten ihren Ohren nicht. Sie grasten hier Tag für Tag vorbildlich unter schwersten Bedingungen und fanden nebenbei sogar noch Zeit, Rebecca vor dem Garou zu beschützen. Nicht ein Wort! Und nun geriet ihre Schäferin völlig aus dem Häuschen, weil der Hund einen Ast über die Weide trug.

Vidocq legte den Ast vor Rebeccas Füße, Rebecca hob ihn auf, und wieder flog der Ast. Vidocq hinterher. Der Ast hatte keine Chance.

So ging das eine ganze Weile.

Die Schafe sahen sich an, wackelten mit den Ohren und verdrehten die Augen. Alle bis auf Zora.

»Seht euch das an!«, sagte sie. »Wie er hinter dem Ast her ist! Er kann nicht anders!«

Es stimmte: Vidocq folgte dem Ast wie ein Besessener. Dabei interessierte er sich kaum für ihn, wenn er ihn erst einmal zwischen den Zähnen hatte. Er interessierte sich für die Bewegung.

»Erjagt!«, sagte Cordelia und schauderte.

Und dann traf der Ast Mopple am Kopf, Mopple the Whale, der nichtsahnend am Hang graste. Mopple riss die Augen weit auf und fiel um - auf den Ast. Im nächsten Moment hatte sich Vidocq auf den dicken Widder gestürzt. Mopple blökte panisch, konnte aber nicht aufstehen, weil Vidocq auf ihm saß und nach dem Ast schnüffelte, undVidocq konnte den Ast unter Mopple nicht finden und bewegte sich deswegen nicht vom Fleck.

»Oh shit!«, sagte Rebecca und rannte den Hang hinauf, um Vidocq und Mopple zu trennen. Dann war erst mal Schluss mit dem Ast.

Rebecca und Vidocq kehrten zurück zum Schäferwagen und guckten wieder melancholisch.

 

Mopple stand lange Zeit einfach nur da, mit weiten, starren Augen, und tat gar nichts. Er kaute nicht einmal, und das war für Mopple ausgesprochen untypisch. Schließlich blinzelte er.

Die Erinnerung war zurück, die ganze Erinnerung. Plötzlich. Mopple versank in ihr wie in Wasser. Er war einmal in Wasser getaucht worden, zu Hause in Irland, irgendwelcher dubiosen Parasiten wegen, und auf einmal erinnerte er sich genau: Kälte und ein Gefühl des Schwebens. Kälte und Enge. Kälte und Angst.

Mopple schnappte nach Luft. Da war Irland und das Meer und George und der Metzger. Süßkraut und Heu und Rebecca, Europa und die schmackhafte Landkarte. Sehr viel Kraftfutter. Die Geschichte vom Garou und Ziegen und Bernie und der Wolfhund. Der Häher, Blumen und Krokodile. Frische kalte Nachtluft, Mondlicht und ein Heulen. Viel zu viele Bäume und auf einmal ein sehr schlechtes Gefühl. Ein Gefühl des Lauerns. Beschleichens. Dann ein Reh, das im Schnee lag und schlief - wie tot. Auf einmal - wie durch ein Wunder - Zora, und dann eine Bewegung hinter Mopple - ein Zweibeiner, aber vielleicht kein Mensch. Der Zweibeiner jagte hinter Zora her, und Mopple stand starr vor Entsetzen.

Er war bei dem schlafenden Reh geblieben. Das Reh war zwar keine Herde, bei weitem nicht, aber es war besser als gar niemand. Erst als der Wald begann, schon grau und morgenrosig zu werden, hörte er wieder etwas: der unheimliche Zweibeiner kam zurück.

Mopple wollte weg. Hinaus aus dem Wald. Sofort. Und dann fiel ihm etwas ein, etwas, das man tun konnte, wenn man irgendwo herauswollte. Vernünftig war es nicht.

Mopple the Whale plumpste in den Schnee und spielte tot. Ohne Zappeln, ohne Blöken. Einfach tot. Der Zweibeiner beachtete ihn nicht. Vielleicht konnte er Mopple im nächtlichen Schnee gar nicht sehen. Er hockte sich über das Reh und wartete. Und wartete. Zeit verging. Mopple spielte weiter tot. Der Zweibeiner legte seine Hand auf das Reh, und die weiße Hand und die graue Flanke hoben und senkten sich gemeinsam im dünnen Morgenlicht. Es gefiel Mopple nicht. Er verstand nicht viel von Rehen, aber er verstand, dass sie wild waren. Frei. Sie wurden nicht gefüttert und nicht geschoren und bekamen kein Kraftfutter und keine Kalziumtabletten. Sie wollten keine Hände. Eine Hand so einfach auf ein wildes Tier zu legen, im Schlaf, wenn es sich nicht wehren konnte - das war gemein. Das Reh wurde unter dem Gewicht der fremden Hand unruhiger, und schließlich schreckte es aus dem Schlaf.

Dann blitzte ein Messer im Mondlicht auf, und das Reh schrie, fast lautlos, und sprang auf. Sprang auf drei Beinen durch den Wald, unbeholfen, schwankend, mit panischen, wirkungslosen Bewegungen. Der Garou auf seinen zwei gesunden Beinen hinterher. Kurz darauf hörte Mopple wieder einen der lautlosen Schreie, und dann nichts mehr.

Mopple blieb noch eine ganze Weile im Schnee liegen, dann stand er vorsichtig auf. Der Wald war stiller als zuvor. Er wollte die weiße Hand auf dem wilden Fell vergessen, und dann, wunderbarerweise, vergaß er sie wirklich. Die Hand und alles andere, während dicke Flocken durch den Wald schwebten. Und dann war es auf einmal hell gewesen und Tag, und Mopple hatte sich gefühlt wie vom Himmel gefallen.

»Und?«, fragte Heide gespannt. »Wer ist es?«

Mopple überlegte einen Moment. »Ich weiß nicht«, sagte er dann. »Ich habe ihn nicht erkannt.«

»Das Walross ist es nicht«, sagte er nach einer Weile.

»Ist es wirklich ein Wolf?«, fragte das Winterlamm.

»Ich weiß nicht. Es sah aus wie ein Mensch, aber die Bewegungen ... wie ein Mensch, der vergessen hat, dass er ein Mensch ist. Oder der es vergessen möchte.«

»Und du weißt wirklich nicht, wie er ausgesehen hat?«, fragte Miss Maple. »Gar nicht?«

Mopple schlackerte verlegen mit den Ohren. »Es war dunkel. Ich lag im Schnee. Ich habe ihn nur von hinten gesehen. Er hatte eine Mütze auf. Aber... aber vielleicht roch er ein kleines bisschen nach Ziege. Vielleicht auch nicht.«

Nach Ziege? Plötzlich hatte Ramses einen neuen, schrecklichen Verdacht.

»Was ist, wenn der Garou gar nicht in einem Menschen wohnt?«, blökte er. »Sondern in einer Ziege?«

Es war ein furchtbarer Gedanke. Sie alle kannten die gruselige Geschichte vom Wolf im Schafspelz. Einen Wolf im Ziegenpelz konnten sie sich noch besser vorstellen, meckernd und witternd und lauernd und voller dummer Sprüche.

»Oder in einem Schaf!«, blökte Heide und sah misstrauisch zu dem fremden Widder hinüber, der sich mit geschlossenen Augen im Abendlicht sonnte. »Ein Schaf würde andere Schafe anlocken, und dann...«

Die Schafe waren kurz davor, in hysterisches Blöken auszubrechen, als Ritchfield mit seinem Stern im Gehörn für Ordnung sorgte. Der alte Leitwidder stellte sich neben den Fremden und richtete sich zu seiner vollen Leitwidderhöhe auf.

»Ich bin mir sicher, das ist ein Schaf!«, erklärte er allen, die es hören wollten, und auf einmal kamen sie sich albern vor. Sie blökten dem Fremden freundlich und ein wenig verlegen zu und grasten so eng um ihn herum wie nie zuvor.

»Marcassin!«, blökte der Ungeschorene gutmütig.

Maple hörte auf einmal mit dem Grasen auf.

Da war eine Spur, direkt vor ihr. Irgendwo. Sie glaubte nicht wirklich, dass der fremde Widder der Garou war. Trotzdem hatte Heide gerade etwas Wahres gesagt. Ein Schaf lockte andere Schafe an - und viele Schafe zusammen - was lockten die an?

Miss Maple blickte sich um. So viele Schafe auf dem Schnee. So weiß!

Und dann erinnerte sie sich an die große Spinne, die im Herbst zwischen den Ginsterbüschen ihr Netz gespannt hatte. Eines Tages war ein Eichenblatt in diesem Netz hängen geblieben, und Miss Maple hatte beobachtet, wie die Spinne es gewissenhaft und mit großer Eleganz entfernt hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis Maple verstanden hatte, warum, aber schließlich verstand sie es doch: Das Blatt hätte das Netz den Fliegen verraten - also musste es weg.

»Es ist eine Falle!«, blökte sie laut. »Wir sind eine Falle! Und Yves war ein Blatt!«

Die anderen sahen sie verständnislos an.

»Yves war viel zu groß für ein Blatt«, sagte Cloud beschwichtigend.

»Und nicht flach genug«, erklärte Heide. »Und er ist nicht auf einem Baum gewachsen«, sagte Mopple. Die Sache war mehr als eindeutig, aber Maple schüttelte stur den Kopf.

»Ich sage nicht, dass er wirklich ein Blatt war. Aber er war wie ein Blatt. Deswegen musste er sterben!«

»Friss ein bisschen was!«, sagte Cloud besorgt.

Maple dachte nicht daran, zu fressen. Sie stand da und käute wieder - Gräser und Gedanken.

»Die Spinne hat ihr Netz nicht, um Blätter zu fangen. Sie will Fliegen fangen, aber manchmal erwischt es doch ein Blatt, und dann muss es weg, damit es die Fliegen nicht abschreckt. Und wir - wir sind wie ein Netz für den Garou! Erinnert ihr euch an den Werwolfsjäger? Wo könnte er sich besser auf die Lauer legen als hier auf der Weide? Der Wald ist groß und unübersichtlich, aber die Weide ist einfach zu beobachten. Und jeder weiß, dass der Garou sich schon einmal für Schafe interessiert hat. Und dann kam Yves, wie ein Birkenblatt, und hat Rebecca jede Nacht beobachtet. Und der Werwolfsjäger wollte ihn loswerden, damit der Garou wirklich kommt, und deswegen hat er ihn erschossen. Damit sich der Garou an uns herantraut! Er muss sehr entschlossen sein, den Garou zu fangen. Und das bedeutet, dass er fast so gefährlich ist wie der Garou selbst!«

Die Schafe sahen sich beunruhigt nach dem riesigen Spinnennetz um, in dem sich Yves verheddert haben musste, und konnten nichts entdecken.

Schließlich hielt es Heide nicht mehr aus.

»Und wo ist das Netz?«, blökte sie.

»Das Netz sind wir«, sagte Maple. »Aber wer ist die Spinne?«

Während die anderen Schafe nach dem Spinnennetz Ausschau hielten - und nach der dazugehörigen überdimensionalen Spinne! -, näherte sich Madouc Sir Ritchfield, der noch immer solidarisch neben dem Ungeschorenen graste und von der ganzen Aufregung nicht viel mitbekam.

Erst als sich Madouc direkt vor seiner grasenden Nase postierte, blickte der alte Leitwidder auf und musterte Madouc streng.

»Wo ist die andere Schwarze?«, fragte er streng. »Keine Ziege darf die Herde verlassen!«

Madouc sah den alten Leitwidder sehr lange und sehr gründlich an.

»Du siehst sie?«, fragte sie dann. Und - nach einer Weile: »Du bist auch zwei!«

»Manchmal«, gab Sir Ritchfield zu. »Eigentlich immer. Er besucht mich jetzt öfters. Er heißt Melmoth.«

»Wir heißen Madouc«, sagte Madouc. »Alle beide!«

»Angenehm«, sagte Sir Ritchfield, aber wahrscheinlich meinte er nur die Sonne, die ihm mit ihren letzten dicken Strahlen auf den grauen Pelz schien.

 

Als die Sonne längst hinter dem Schloss verschwunden war und die Schafe schon über einen Rückzug in den Heuschuppen nachdachten, knarrte auf einmal das Tor, und Zach trat auf die Weide, seine Sonnenbrille auf der Nase und eine Kiste in den Händen. Er hielt die Kiste mit beiden Armen vor sich hin und bewegte sich unendlich vorsichtig und langsam wie eine Schnecke auf den Schäferwagen zu.

»Rebecca!«, rief er halblaut, als er endlich vor der Schäferwagentür angekommen war. »Rebecca!«

Rebecca riss die Tür auf, und als sie Zach erkannte, sah sie ein bisschen enttäuscht aus, aber nur einen Moment lang.

»Ich habe eine Bitte an dich, Rebecca«, sagte Zach, und die Schafe konnten hören, wie seine sonst so ruhige Stimme zitterte. »Die Sache ist etwas delikat.«

Rebecca nickte. »Komm rein, Zach.«

Zach schüttelte heftig den Kopf. Den Rest seines Körpers und die Kiste hielt er dabei seltsam still. »Tut mir leid, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass dein Wagen verwanzt ist.«

Verwanzt? Igitt! Bei ihnen achtete Rebecca immer so auf Sauberkeit, und sie selbst... Die Schafe beschlossen, sich zukünftig nach Möglichkeit von Rebecca und ihrem Ungeziefer fernzuhalten.

Rebecca zog sich den Schal enger um die Schultern. »Meine Güte, Zach, der Wind ist eisig. Komm rein!«

Aber Zach stand nur da, Sonnenbrille, Mantel und dünne schwarze Agentenschuhe, und bewegte sich nicht vom Fleck.

Rebecca seufzte. »Na gut. Wir können in den Heuschuppen gehen, da ist es wenigstens windgeschützt. Der Schuppen wird ja wohl nicht verwanzt sein.«

Die Schafe guckten hochnäsig. Natürlich nicht! Daran sollte sich Rebecca ein Beispiel nehmen.

Zach legte den Kopf schief und schien einen Augenblick über die Wahrscheinlichkeit von Ungeziefer im Heuschuppen nachzudenken. Dann nickte er zufrieden.

»Ich gehe gleich. Du kommst in zehn Minuten nach.«

»Zach ...«, sagte Rebecca, aber Zach war schon mit seinem Karton unterwegs, noch immer seltsam vorsichtig, wie auf Eis, und verschwand im Heuschuppen.

Wenige Minuten später ging die Schäferwagentür wieder auf, und eine Gestalt, die unter Brotmütze, Schal, Mantel und Handschuhen nur noch am Geruch als Rebecca zu erkennen war, stapfte hinter Zach her.

Wenn Rebecca in den Heuschuppen ging, mussten die Schafe mit. Sie konnten nicht anders. Rebecca im Heuschuppen bedeutete frisches Heu in der Raufe und frisches gelbes knuspriges Stroh am Boden. Und obwohl die Schafe wussten, dass Rebecca diesmal nur Zach treffen wollte, konnten sie das Heu schon riechen: Sonne, Staub und alter Sommer.

Rebecca ging voran - die Schafe hinterher.

Zach stand schon in einer Ecke, rotnasig vor Kälte und reglos. Er hatte den Deckel des kleinen Kartons entfernt und hielt ihn mit ausgestreckten Händen vor sich hin. Futter? Die Schafe äugten neugierig auf den Karton, aber sie trauten sich nicht an Zach heran.

»Es ist mir gelungen, die hier im Wald sicherzustellen.«

Rebecca warf einen Blick in den Kasten. »Tannenzapfen?«

Zach lachte bitter. »Raffinierte Tarnung, was? Nein, Rebecca, das sind Sprengsätze. Hochexplosiv. Von den Russen.«

»Ah«, sagte Rebecca ohne große Begeisterung. »Und was soll ich damit?«

Zach warf einen hastigen Blick zur Tür des Heuschuppens. »Ich werde verfolgt, Rebecca. Bei mir sind sie nicht mehr sicher. Aber hier... kann... kann ich sie hierlassen? Nur für ein oder zwei Tage, bis ich sie meinem Kontaktmann übergeben kann.«

Rebecca nickte ungeduldig. »Okay, Zach. Lass sie einfach hier.«

Vorsichtig, vorsichtig stellte Zach den Karton auf dem Boden ab, und vorsichtig, vorsichtig setzte er wieder den Deckel darauf. Dann trat er schnell auf Rebecca zu und drückte ihr die Hände. »Ich bin dir so dankbar, Rebecca. Es... es tut mir wirklich leid, dass ich dich so einem Risiko aussetze, aber ich muss verhindern, dass die Russen... Ich werde dir das nie vergessen.«

Eine einzelne Träne rollte unter Zachs Sonnenbrille hervor und glitzerte im fahlen Licht des Heuschuppens.

»Schon gut, Zach«, sagte Rebecca verlegen. »Jetzt ein Tee, ja?«

Zach schüttelte den Kopf. »Ich muss weiter. Spionageabwehr!«

Die beiden wandten sich zum Gehen.

»Hast du gar keine Angst, dass die Schafe die Sprengsätze auslösen?«, fragte Rebecca in der Tür.

»Oh nein«, sagte Zach. »Tiere haben Instinkte. Die riechen sofort, wie gefährlich das Zeug ist. Die geringste Erschütterung, und alles fliegt in die Luft. Glaub mir, die werden die Dinger nicht anrühren.«

Mopples Nase, die gerade dabei war, den Deckel des Kartons zu erkunden, erstarrte.

 

Die Schafe standen lange schweigend um den Karton herum und witterten.

Sie rochen nicht, wie gefährlich das Zeug war. Nicht einmal Maude. Der Karton roch wie ein feuchter Karton mit Tannenzapfen darin. Das war alles. Wanzen? Russen? Springsätze? Irgendetwas stimmte mit ihren Instinkten nicht!

Es gefiel ihnen nicht, auf einmal einen Karton voller Springsätze im Heuschuppen zu haben. Sie wollten nicht in die Luft fliegen wie Vögel - oder Wolkenschafe. Sie mochten es, die Wolkenschafe von unten zu beobachten, und sie stellten sich auch gerne vor, dass diese Schafe am Himmel glücklich waren, und frei. Aber selbst dort hinauf, weit weg von allem Gras?

Dieser Gedanke gefiel ihnen schon weniger.

Die Schafe beschlossen, ein wenig draußen auf der Weide zu warten. Vielleicht würden die explosiven Springsätze ja ganz von alleine davonhüpfen, wie kleine Ziegen.

Draußen ertappten sie den Häher, der mit hängenden Armen vor der Tür des Schäferwagens stand, nach Lavendel roch und unentschlossen aussah. Unentschlossen und sehr erschöpft.

Schließlich klopfte er doch. Die Tür ging zögerlich auf, und einen Moment lang sahen die Schafe Rebecca, ein schlanker Schattenriss vor dem gemütlichen, rötlichen Licht des Schäferwageninneren.

»Kann ich mit dir sprechen?«, fragte der Häher. »Nur kurz. Ich weiß, du musst wer weiß was denken ...«

»Nicht hier«, sagte Rebecca nach kurzem Überlegen. »Meine Mutter schläft.«

»Genau!«, rief es aus dem Schäferwagen. »Ich komm kurz nach draußen.«

Rebecca schlüpfte aus der Tür, und dann gingen die beiden an der Schlossmauer auf und ab, auf und ab und sprachen mit gedämpften Stimmen. Als der Häher Rebecca zum Schäferwagen zurückbrachte, kam den Schafen das Licht auf ihrem Gesicht weicher vor. Weicher und lebendiger. Auch Rebeccas Stimme war weich wie das Bauchfell eines Lamms.

»Danke, Maurice!«, sagte sie. »Danke, dass du mir das alles erzählt hast!«

Der Häher schwieg einen Augenblick.

»Ich wollte nicht, dass du das Falsche denkst«, sagte er dann. Er lachte leise. »Das Falsche ist hier wohl ziemlich falsch.«

Rebecca blieb auf der obersten Stufe stehen, viel länger, als eigentlich nötig gewesen wäre.

»Da«, sagte sie. »Der Mond ist zu sehen. Und er ist rot. Ob das etwas zu bedeuten hat?«

»Das Wetter ändert sich«, sagte der Häher mit samtiger Stimme. »Vielleicht taut es bald.«

Die beiden schwiegen und standen und sagten gar nichts mehr.

Auch die Schafe sahen nach oben, wo der Mond hing wie eine Frucht, tatsächlich außergewöhnlich rosig. Rosig und fett, wie der letzte Apfel im Apfelgarten.

»Was es wohl bedeutet?«, fragte Mopple.

»Nichts«, sagte Maude. »Was soll es schon bedeuten? Der Mond ist dort oben, und wir sind hier unten. Der Mond ist so weit weg, dass man ihn nicht einmal riechen kann.«

»Wenn der Mond ein Ziegenkäse wäre, könnte man ihn riechen«, sagte Heide. »Egal, wie weit er weg ist.«

»Ich glaube nicht, dass er so weit weg ist«, sagte Mopple. »Und ich glaube, er schmeckt. Wenn man auf etwas Hohes klettert und den Hals lang macht, kann man vielleicht hineinbeißen.«

Die Schafe blickten mit neuem Interesse hinauf zum Mond, der wie ein fast vollkommener Haferkeks am Himmel hing.

»Wisst ihr noch, was die kleine Ziege über den Mond gesagt hat?«, fragte Zora. »Den Mond und den Garou?«

Die anderen nickten. Der Wolf brauchte Mondlicht, um aus seinem Menschen herauszukriechen. Ohne Mondlicht konnte der Garou sich nicht verwandeln.

Wenig später hatten die Schafe einen perfekten Plan: Mopple sollte den Mond fressen und sie so auf immer von der Wer-wolfsplage befreien! Sicher, sie würden den Mond vermissen, aber es war für einen guten Zweck. Einen sehr guten Zweck.

»Ich glaube, er schmeckt wie ein Apfel«, blökte Heide aufgeregt. »Ein sehr großer.«

»Er schmeckt ganz sicher wie ein Keks«, sagte Cordelia. »Ein Keks, den jemand in hellen Honig getaucht hat.«

Mehr Motivation brauchte es nicht. Mopple zog los, um in den Mond zu beißen, und Heide kam mit, um ihm zu helfen. Dort unten am Tor, die Hufe auf den Rand des Futtertroges gestellt, musste es am besten gehen!

Mopple fand eine bequeme Position und machte sich lang.

»Den Hals länger!«, blökte Heide. »Noch länger!«

»Ich habe ihn fast!«, ächzte Mopple und machte sich länger als je zuvor in seinem Leben, so lang, dass er fast nicht mehr dick war. »Fast! Er ist ganz nah!«

Dann knirschte Schnee. Mopple verlor das Gleichgewicht und plumpste in den Futtertrog. Der Häher kam über die Weide, zurück Richtung Schloss. Mopple und Heide ließen vom Mond ab und beobachteten ihn, bis er auf seine seltsame Schlangenbeschwörerart wieder von der Weide gehinkt war.

Als der Häher das Weidetor öffnete, flatterte etwas aus seiner Tasche. Etwas, das selbst in der Dunkelheit funkelte und flirrte wie verrückt.

Mopple und Heide sahen sich an.

»Hast du das gesehen?«, fragte Heide.

Mopple nickte. »Das ist ein Silber.«

»Wie das, das er Rebecca gegeben hat!«, sagte Heide.

Mopple und Heide ließen vom Mond ab, der sich als ein doch etwas zu ehrgeiziges Unterfangen herausgestellt hatte, und beschlossen stattdessen, das neue Silber auf Sir Ritchfield zu spießen. Mehr Silber half vielleicht sogar gegen Mehrwölfe!

Anders als die anderen Silberpapiere ließ sich die kleine Karte leicht einkreisen und fangen. Sie lag nur einfach flach gegen den Boden gepresst und rührte sich nicht. Sie aufzuheben war schon schwieriger.

Mopple versuchte es mit den Zähnen.

Heide mit den Lippen.

Schließlich gelang es Mopple, die Karte vom Boden loszuscharren, und Heide nahm sie vorsichtig zwischen die Zähne. Im nächsten Augenblick hatte sie sie auch schon wieder ausgespuckt.

»Was ist?«, fragte Mopple.

»Das ist kein Silber!«, blökte Heide empört.

An diesem Abend trabten noch verschiedene Schafe zu der kleinen, glänzenden Karte im Schnee. Sie schnaubten sie an und berochen sie. Mopple knabberte sie sogar an. Sie kamen alle zu demselben Ergebnis. Das Ding sah aus wie Silber und spielte mit dem Licht wie Silber, aber es roch nicht wie Silber, knisterte nicht wie Silber, und vor allem schmeckte es nicht wie Silber, kalt und metallisch. Es schmeckte wie Papier, mehlig, fade und hölzern. Das Silber des Hähers war eine Fälschung!