5

 

Nur der Fuchs wusste Bescheid.

Der Mensch ging durch den Schnee und hinterließ Spuren wie alle anderen Menschen. Er roch wie sie und bewegte sich wie sie zwischen den Bäumen, hoch und steif und lächerlich aufrecht, er machte Lärm wie sie und verstand nichts vom Unterholz.

Andere Menschen nickten ihm schweigend zu, als wäre er nichts Besonderes, Schafe und Ziegen hoben kaum den Kopf, wenn er vorbeischritt, selbst die Rehe drehten nur die Ohren nach ihm, hochmütig in ihrer Wachsamkeit.

Der Fuchs aber folgte der Fährte im Schnee zu unerhörten Genüssen.

Die Mäuse waren über die Jahre flinker und wendiger geworden, und die Kälte fand Winter für Winter tiefer unter sein Fell. Die unkomplizierten Mahlzeiten, die die Spuren im Schnee versprachen, kamen da wie gerufen.

Einmal, tief in seinem Bau an einem mageren, regnerischen Tag, hatte der Fuchs davon geträumt, ihm die Hand zu lecken, und hatte Blut geschmeckt und Salz. Im Wachen ließ ihn der Gedanke an Berührung - jede Berührung - erschaudern.

Besser als alle anderen wusste der Fuchs, dass mit diesem Menschen etwas nicht stimmte.

Der Fuchs lief schneller. Da war die Hütte, die der Fuchs nie betreten hätte. Die Spur des Menschen führte hin, aber dann - wie immer schnürte der Fuchs in weiten misstrauischen Kreisen um das dunkle Menschending - führte sie auch wieder weg. Weiter. Dann konnte er es schon riechen und brauchte all seine rotschwänzige Fuchsweisheit, um nicht vor Erwartung zu winseln.

Am Ende der Fährte war der Mensch schon fertig und stand einfach da, an einen Baum gelehnt. Der Fuchs leckte sich die Lippen, presste sich gegen den Boden und wartete.

Erst als der Mensch sich abwandte und davonging, freudentaumelnd wie eine Motte, schoss der Fuchs aus seiner Deckung und biss verzückt in den roten Schnee.

Dann ein Kitzel in seinem Nacken, wie Atem, nur flüchtiger. Der Fuchs blickte auf, und in einiger Entfernung, zwischen den Bäumen, stand der Mensch und blickte zurück.

Sie hielten den Blick eine Weile zwischen sich wie einen Spinnenfaden, hauchdünn und zäh und unentrinnbar, und wussten, dass sie da waren.

Den Menschen ließ dieses Wissen lächeln.

Den Fuchs machte es wachsam - und kalt.

Der Mensch ging weiter, und der Fuchs fraß. Fraß, bis der Mensch sich zu einem winzigen Punkt verdichtet hatte, der wie eine Fliege zwischen den Stämmen herumirrte.

Dann ließ er von der Beute ab, leckte sich ein letztes Mal die Lippen und schnürte wieder hinter der großfüßigen Menschenfährte her. Und wusste selbst kaum, warum. Hier war ein Festmahl für einen Fuchs - für viele Füchse. Aber dieser Fuchs war grauschnäuzig und schlau. Viele Sommer und viele Winter hatten ihm den blanken Pelz geschliffen, und der Fuchs war glatter geworden und glatter, bis er sich durch den Wald bewegen konnte wie ein saftiger Fisch durch Wasser. Der Fuchs schluckte den Wald und atmete den Wald mit jedem Schritt, jedem Blick, und um atmen zu können, musste er etwas wissen. Der Fuchs musste wissen, ob der Mensch wieder aus dem Wald verschwunden war. Jedes Mal.

 

Im Wald war es noch Nacht und so still wie im Schlaf. Das Flüstern des Windes wagte sich nicht hierher, und die Bäume schwiegen.

Auch die Schafe schwiegen beeindruckt. Bäume! Es überraschte sie dann doch ein bisschen. So viele! Sie hatten Bäume bisher nur als Einzelgänger kennen gelernt, als harmlose Schattenspender, deren Rinde man ungestraft annagen konnte und an deren Stamm man sich scheuerte, bis die Stelle glatt und glänzend war und kein befriedigendes Scheuererlebnis mehr hergab.

Aber hier war auf einmal alles voll von Bäumen, Stamm an Stamm, eine gewaltige Herde, so eng, dass die Schafe nicht in der beliebten Knäuelformation vorwärtskommen konnten, sondern immer nur hintereinander, drei oder zwei oder eins. Die Sache gefiel ihnen nicht. Hinter jedem Stamm konnte etwas lauern, und die Schafe hatten das ungute Gefühl, dass auch die Bäume selbst lauerten, wie sehr geduldige Katzen auf sehr vorsichtige Mäuse. Obwohl sie sich behutsam vorwärtsbewegten, zögerlich und sacht, galoppierten ihre Herzen im Galopp. Die Schafe vermissten den Himmel.

Nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten - der Wald die Schafe und die Schafe den Wald -, fasste sich Zora ein Herz und rupfte einige Knospen von einem zarten Zweig auf Schafshöhe. Von da an ging es entspannter weiter, wachsam zwar, aber nicht ohne den gelegentlichen appetitlichen Happen vom Wegesrand.

Die Bäume zerschnitten die Welt in schwarz und weiß. Weiß der Schneeflaum um ihre Hufe, schwarz die Stämme im Schnee.

Schwarz die stummen Vögel über ihnen, weiß der Morgennebel, der aus dem Boden stieg. Schwarz die gezackten Aste, weiß die Wolken darüber. Schwarz Othello, der ihnen vorantrabte, weiß Maple, Lane und Cordelia, die ihm folgten, dicht gedrängt wie ein einziges Schaf. Schwarz Zoras hübsches Gesicht, weiß ihre makellose Wolle. Schwarz die Schatten. Schwarz die Spuren. Schwarz die Witterung, die zwischen den Wurzeln saß. Weiß Maude. Weiß Heide. Weiß sogar das Winterlamm.

Schwarz ihr Verfolger, der in einiger Entfernung zwischen den Stämmen hindurchglitt, lautlos wie ein Gedanke.

Nur Ritchfield blieb grau.

»Das nächste Mal ist Sommer«, murmelte er.

 

Reglos, lautlos veränderte sich der Wald um sie herum. Der Boden stieg an. Die Luft schmeckte heller und klarer. Das Unterholz verschwand. Die Stämme wurden dicker und gerader und rückten höflich ein wenig auseinander. Nicht viel, aber gerade genug für eine klassische, wenn auch etwas lang gezogene Herdenformation.

Miss Maple ergriff die Chance und trabte schnell nach vorne, dicht neben Othello.

Man musste zugeben, dass Othello ein ausgezeichneter Leitwidder war. Der Vierhörnige schritt entschlossen voran, nicht zu schnell und nicht zu langsam, die Hörner hoch, die Nüstern weit, die Augen aufmerksam in alle Richtungen. Eine Weile sah es so aus, als würde er Maple keine besondere Beachtung schenken. Er prüfte den Boden eines Hanges, der hart und doch seltsam nachgiebig unter den Hufen knirschte.

»Nun?«, sagte er dann.

»Es ist nicht nur der Tierarzt, nicht wahr?«, schnaufte Miss Maple, während sie vorsichtig neben Othello den Hang hinaufkletterte. »Es ist auch etwas anderes, nicht wahr?«

Othello schwieg. Maple hatte Recht. Trotzdem war es einfacher, vor dem Tierarzt wegzulaufen. Sie kannten den Tierarzt. Er war schrecklich, aber er war nicht der Schnellste. Er trank Schnaps aus kleinen Flaschen und verhedderte sich im Kabel seiner eigenen Wollschneidemaschine. Das, was die schwarze Ziege und der Ungeschorene erzählt hatten hingegen ... und vor allem das, was sie nicht erzählt hatten... Es war besser, vor etwas davonzulaufen, das man kannte!

»Die Menschen ...«, sagte Othello nachdenklich. Er war sich nicht sicher, wie er es sagen sollte. Oder was er sagen sollte. »Die Menschen hier und die Ziegen und das fremde Schaf... sie erinnern sich an etwas. Und sie warten auf etwas.«

Miss Maple nickte. Heute früh, als sie im Morgengrauen über die Ziegenweide getrabt waren, taten die Ziegen das, was sie immer taten. Sie guckten unschuldig, sprangen herum, stanken und fanden überall Futter. Alle bis auf eine. Eine Ziege stand auf dem Sofa, etwas entfernt, und ließ den Wald nicht aus den Augen.

Ein Wachposten. Ein Späher. Graue Ziegenaugen gegen das blendende Weiß des Schnees.

»Manchmal ist es besser, nicht zu lange zu warten!« Othello schnaubte. »Manchmal ist es besser, einfach wegzugehen. Ich glaube, etwas, vor dem sich Menschen und Ziegen und Schafe fürchten, ist sehr gefährlich«, sagte er leise. »Wie Feuer.«

In diesem Augenblick hörten sie wieder das Heulen, dünn und verloren zwischen den Stämmen, leise wie eine Erinnerung. Ungeheuer fern.

 

Alle hatten sie Namen! Alle! Der alte Widder, der alles vergaß, und der junge Widder, der sich vor allem fürchtete. Das Winterlamm war weder besonders vergesslich noch besonders furchtsam. Wen interessierte das? Die Schafe bekamen erst Namen, wenn sie ihren ersten Winter überstanden hatten. Aber das Winterlamm war mitten im Winter auf die Welt gekommen, in einer kalten, dunklen Nacht vor etwa einem Jahr. Es hatte Milch gestohlen und Nähe und Wärme. Und im Frühjahr hatte es eben nur einen halben Winter überstanden. Und jetzt steckte es mitten in seinem zweiten Winter, und nichts! Nichts! Das Winterlamm kickte zornig nach dem Schnee. Wenn es gewusst hätte, wo man Namen findet, wäre es losgezogen, um einen zu stehlen. Etwas Schwarzes huschte hinter ihm vorbei. Das Winterlamm vergaß für einen Moment den geplanten Namensraub und spähte zitternd in den Wald. Schweigende Stämme, sonst nichts. Trotzdem hatte sich gerade noch etwas bewegt. Da, wieder! Schnell und schwarz, von Stamm zu Stamm. Mitten zwischen zwei Stämmen merkte die kleine Ziege, dass sie ertappt worden war. Sie hielt in der Bewegung inne, einen Vorderlauf zierlich angewinkelt, und blickte frech zu dem Winterlamm hinüber.

»Warum folgst du uns?«, blökte das Winterlamm, noch immer etwas erschrocken.

»Oh, ich folge euch nicht«, sagte die Ziege. »Ihr folgt mir!« Dann zog sie mit erhobenen Hörnchen an ihm vorbei und verschwand zwischen den anderen Schafen.

Das Winterlamm staunte.

 

Othello führte sie auf dem Kamm des Hanges entlang. Eine gute Wahl. Die Schafe konnten nach beiden Seiten weit durch die Stämme spähen und fingen an, sich im Wald ein wenig zurechtzufinden: vorne und hinten, oben und unten, Dickicht und Lichtung. Manchmal roch es unter dem Schnee ganz appetitlich, nach Knospen und Zweigen und gefallenem Laub.

Alles war so neu und aufregend, so weit und duftend und eng, dass es eine Weile dauerte, bis Mopple begann, sich über die kleine schwarze Ziege an seiner Seite zu wundern. War sie vorher schon da gewesen? War sie überhaupt da? Mopple versuchte, nicht hinzusehen.

»Hör zu«, sagte die kleine schwarze Ziege irgendwann. »Hör genau zu!«

Mopple dachte nicht daran, zuzuhören. Er war viel zu beschäftigt damit, herauszufinden, ob er sich die kleine schwarze Ziege vielleicht doch nur einbildete. Immerhin hatte er schon lange nichts Vernünftiges mehr zwischen die Zähne bekommen. Sein Kopf fühlte sich leicht an und seine Wolle wirr und schwer. Mopple the Whale tat, was er immer tat, wenn er nicht weiterwusste: er kaute. Kauen ohne Futter machte keinen besonderen Spaß - aber es half beim Nachdenken. Vielleicht sollte er nach der Ziege keilen - aber wer sagte, dass eingebildete Ziegen nicht ausweichen konnten? Oder böse meckern? Oder ihm etwas wegfressen?

Die Ziege kaute auch - einen langen Halm mit einer interessant aussehenden Rispe. Kaum zu glauben, dass sie den hier im Wald gefunden hatte. Oder bildete er sich den Halm etwa auch nur ein?

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte die Ziege mit vollem Mund. »Über den Garou.«

Mopple erinnerte sich nur zu gut an das, was die Ziege auf Sir Ritchfield über den Garou gesagt hatte.

»Nein«, sagte er schnell. »Das müssen wir nicht!«

»Du glaubst mir nicht!«, sagte die schwarze Ziege.

Mopple hatte sich eigentlich vorgenommen, seine eingebildete Ziege zu ignorieren. Aber dafür war es jetzt zu spät.

»Nein«, sagte er entschlossen. »Hast du ihn denn gesehen? Mit deinen eigenen Augen?«

»Niemand hat ihn gesehen«, sagte die Ziege. »Zumindest niemand, der nachher weitergetrabt ist, um davon zu berichten.«

Sie überlegte einen Augenblick. »Ich habe einmal ein Werhuhn gesehen. Ein weißes. Es sah aus wie alle anderen Hühner, aber wenn im Herbst nachts die Vogelschwärme über den Wald zogen und schrien, verwandelte es sich in einen Menschen, ganz weiß und nackt, und ist über den Hof getorkelt und hat gegluckst und im Staub gescharrt. Das habe ich gesehen!«

Sie blickte Mopple triumphierend an.

»Und dann?«, fragte Mopple.

»Die Dicke hat es geschlachtet«, sagte die kleine Ziege nachdenklich.

»Ich weiß nicht«, murmelte Mopple. Zora würde es nicht gut finden, wenn er sich hier mit Ziegen über Werhühner unterhielt - eingebildet oder nicht. Mopple kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und trabte schneller hinter Lanes wolligem Hinterteil her.

»Ich heiße Madouc«, sagte die Ziege neben ihm. »Zumindest manchmal.«

Mopple starrte entschlossen auf Lanes Schwanz und schwieg.

»Wenn ich nicht Madouc sein möchte, dann bin ich nicht Madouc«, erklärte Madouc unverdrossen. »Dann bin ich Circe. Sie hat nichts dagegen. Wenn du willst, kannst du auch Circe sein.«

»Ich bin Mopple the Whale«, sagte Mopple the Whale. Und schwieg.

»Madouc«, sagte Madouc. »Ich glaube, wir werden gute Freunde, Whale.«

Mopple prallte gegen Lane, die stehen geblieben war. Weiter vorne schien es eine kleine Aufregung zu geben.

Ritchfield genoss es, hinter seiner Herde herzutraben, all die wolligen Rücken vor sich. Er mochte seine Herde. Mochte es, auf sie aufzupassen. Der alte Leitwidder war sich seiner Verantwortung in der empfindlichen Schlussposition bewusst, hielt die Hörner hoch und die Augen weit offen.

Ein wunderbarer Ausflug. Und seltsamerweise kam es Ritchfield so vor, als würden sie nicht vorwärts laufen, sondern zurück. Auch das war wunderbar, denn dort gab es Sommer voller Duft und Klang und Glück, es gab ehrenvolle Duelle und das Meer, und es gab Melmoth. Die Welt war so viel leiser geworden seither.

Ritchfield spähte voller Erwartung in den Wald, um zu sehen, ob er Melmoth vielleicht schon irgendwo erkennen konnte. Dort hinten bewegte sich zweifellos etwas Graues zwischen den Stämmen - aber es war nicht Melmoth. Zu unförmig. Zu dunkel. Und irgendwie nicht elegant genug.

Ritchfield hatte die besten Augen der Herde. Er blieb kurz stehen und spähte neugierig dorthin, wo er die Bewegung gesehen hatte. Rund und groß. Etwas wackelig, aber zielstrebig. Vorsichtig und geschickt zwischen den Bäumen.

Ein Schaf? Ritchfield war sich nicht sicher.

 

»Das ist aufregend!«, blökte Heide. »Ich hätte nie gedacht, dass Bäume so aufregend sein können!«

»Ich auch nicht«, sagte Zora, die neben ihr trabte. Nicht dass der Wald ihr gefallen hätte. Das nicht. Zu unübersichtlich. Zu eng. Zu fremd. Aber er berührte sie. Wie das Meer. Wie der Sternenhimmel. Wie ...

»Wie werden wir denn Cloud finden?«, fragte Heide.

»Wir gehen dahin, wo es sich gut anfühlt«, erklärte Zora.

»Und dann?«

»Cloud wird auch dahin gehen, wo es sich gut anfühlt«, sagte Zora. »Dort finden wir sie.«

»Und was, wenn es sich an mehreren Stellen gut anfühlt?«, fragte Heide. »Was, wenn es sich nirgends gut anfühlt?«

Zora schwieg und blieb stehen.

Heide rannte in Willow, die auch stehen geblieben war. Willow schwieg stoisch. Dafür blökte Lane, die Heide von hinten schubste. Heide blökte empört zurück.

Die Schafe spähten neugierig nach vorne.

 

Othello stand still und aufrecht und sah mit seinen vier imposanten Hörnern fast auch ein wenig wie ein Baum aus. Stand und witterte. Witterte und lauschte. Aber mittlerweile blökten hinter ihm so viele Schafe, dass er vermutlich nicht viel hören konnte. Im nächsten Moment war der schwarze Widder losgetrabt, schnell und schweigend, den Hang herunter. Die Schafe folgten ihm erschrocken. Othello führte sie direkt in ein Dickicht aus Weißdorn, Brombeerhecken und halbwüchsigen Birken. Dort war es eng und ungemütlich. Zweige piekten und zwickten sie von allen Seiten. Der Leitwidder blieb stehen.

Maude witterte. »Das ist...«

»Still!«, schnaubte Othello.

Die Schafe standen still wie Steine.

Etwas bewegte sich zwischen den Stämmen, ein gutes Stück entfernt.

Rot.

Und schwarz.

Und braun.

Und ein bisschen Gold.

Eine Glocke.

Und Stimmen.

Und wieder die Glocke.

Komm, sang die Glocke. Schafe, viele Schafe, eine Herde, deine Herde. Zusammen, versprach die Glocke, geborgen, Flanke an Flanke, warm und ganz...

»...und warum dann die ganze Heimlichkeit?«, sagte eine Männerstimme. »Die Treffen, die gezielte Fehlinformation -und warum das Licht im Turm? Und was suchen die beiden Fremden hier?«

»Das sind Touristen, Zach«, sagte Rebecca. »Wintergäste.«

»Sie sind hier seit genau 21 Tagen. Seit dem ersten Schnee. Wer bleibt hier schon 21 Tage?«

»Du«, sagte Rebecca. »Ich. Mama.« Sie seufzte.

»Du hast deine Schafe, und ich bin hier stationiert. Das ist etwas ganz anderes. Normalerweise bleiben Touristen höchstens zwei Wochen. Selbst ohne meine Ausbildung würde ich merken, dass hier etwas faul ist. Und was machen sie die ganze Zeit im Wald? Glaubst du, die sammeln Pilze?«

Rebecca lachte. »Sie gehen spazieren. Was soll man hier auch sonst machen? Der Kleine, Monsieur... ich vergesse den Namen immer, hat eine Lungengeschichte, sagt Madame Fronsac.«

Rebecca blitzte zwischen den Bäumen auf, mit roter Mütze und der Schafsglocke in der Hand. Hinter ihr kam Zach, unverkennbar in seinem schwarzen Anzug und Mantel und mit Sonnenbrille. Zach trug immer Sonnenbrille, sogar nachts. Das wussten die Schafe, seit Zach einmal eine ganze Nacht auf dem Dach des Schäferwagens gelegen hatte, um das Schloss zu beobachten. Doch das Schloss hatte genau dasselbe getan wie immer: nichts. Und am Morgen hatte ihn Mama entdeckt und gekreischt.

»Und der Große? Was ist mit dem Großen?«

»Ich weiß nicht, vielleicht ist es sein Bruder. Irgendeinen Grund wird es schon haben.«

Rebecca und Zach flackerten zwischen den Bäumen hin und her, mal rot, mal schwarz und mal braun, mal sichtbar, mal von den dunklen Stämmen verdeckt. Manchmal klingelte das Glöckchen.

Es dauerte eine Weile, bis die Schafe verstanden, dass sich die beiden direkt auf ihr Gebüsch zubewegten. Direkt auf ihr Gebüsch! In stummer Panik beobachtete die Herde, wie Zach an einem Ast hängen blieb, stolperte, sich dann wieder aufrichtete und den Kragen seines Mantels zurechtrückte. Die Schafe mochten Zach. Er tat interessante Dinge, andere als die anderen Menschen. Er versteckte sich zwischen den Ginsterbüschen, blies blauen Puder über die Schäferwagenstufen, fotografierte den Boden und sprach mit einer Uhr an seinem Handgelenk. Und er achtete auf Dinge, auf die Menschen sonst nicht achteten: Fußabdrücke, Steine, Gerüche, Krümel auf der Fensterbank. Einmal hatte er die Futterkammer nach Waffen durchsucht und anschließend die Tür nicht wieder richtig zugemacht.

Und anders als die meisten Europäer konnte er sprechen.

»Sein Bruder? Ha!« Zach klang beleidigt.

Rebeccas Stimme lächelte. »Wahrscheinlich nicht. Vielleicht sind sie schwul? Oder sie arbeiten für die Steuerfahndung? Egal. Ich bin wirklich froh, dass du mitgekommen bist, Zach. Allein wäre es mir hier jetzt schon ein bisschen unheimlich, nach der Sache gestern.«

Zachs Miene hellte sich auf. »Nichts zu danken, Rebecca, der Fall interessiert mich natürlich auch beruflich.«

»Mein ausgebüxtes Schaf?«, sagte Rebecca. »Ein Fall?«

Einen Augenblick lang blitzte Zachs ernstes Sonnenbrillengesicht hinter einem Stamm auf, dann war er wieder verschwunden.

»Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen«, sagte er. »Die Sache ist komplexer, als es den Anschein hat. Alles hängt zusammen. Alles folgt einem Plan. Erst das Reh, jetzt dein Schaf. Und all die anderen Rehe. Und der kleine Junge. Und die Frau und das Mädchen. Und natürlich auch der alte Herr mit der Silberkugel im Kopf tot vor dem Spiegel. Du glaubst doch nicht etwa an diese absurde Werwolfsgeschichte?«

»Werwolfsgeschichte?«, sagte ein schwarzer Baumstamm mit Rebeccas Stimme. »Was für eine Werwolfsgeschichte?«

Rebecca tauchte an anderer Stelle wieder zwischen den Bäumen auf. »Welche anderen Rehe?«, fragte sie dann. »Und welcher Junge? Und was für ein alter Herr?«

»Darüber darf ich nicht sprechen«, sagte Zach. Wenn Zach über etwas nicht sprechen durfte, dann sprach er nicht darüber. Das wusste auch Rebecca und fragte nicht weiter.

Es war seltsam, ihre Schäferin so auf sie zustapfen zu sehen. Sie sah kleiner aus zwischen all den Bäumen. Klein, aber kühn. Einige Schafslängen vor ihrem Dickicht blieb Rebecca stehen und sah sich um. Sah sie an. Die Schafe versuchten, leicht und flockig auszusehen. Leicht und flockig und unbeweglich, wie der Schnee.

Das Glöckchen klingelte.

»Wenn ich das sagen darf, diese Glocke ist nicht gerade ideal für eine verdeckte Operation«, sagte Zach.

»Vielleicht nicht«, grinste Rebecca, »aber die Schafe kennen die Glocke. Sie mögen die Glocke. Wenn wir unterwegs sind, bekommt der Schwarze sie um den Hals. Wenn Cloud die Glocke hört, kommt sie vielleicht.«

Rebecca und Zach standen nun so nah, dass die Schafe sie gut wittern konnten. Nicht nur als ganze Menschen, sondern alle Einzelheiten. Rebeccas Haare, warm und erdig unter der roten Mütze, die Kekse in ihrer Tasche und den interessanten Wollpulli. Zachs kalte Füße und nasse Hosenbeine, das Kräuterbonbon, das er lutschte, und seine Entschlossenheit. Zach war immer entschlossen.

»Hoffentlich finden wir sie«, sagte Rebecca. Jetzt blickte die Schäferin direkt zu ihnen hinüber. Und sah sie nicht. Und roch sie schon gar nicht. Und ging weiter. Es war schwer zu verstehen. Die Menschen sahen nicht die Dinge, die da waren, sondern die Dinge, von denen sie dachten, dass sie da waren. Rebecca konnte stundenlang in der Futterkammer nach einem Eimer suchen, der vor der Tür stand. Die Menschen dachten zu viel. Oder an die falschen Sachen. Meistens dachten sie zu wenig an Schafe. Und wenn sie auf etwas trafen, das sie nicht denken konnten, waren sie hilflos wie Lämmer.

Irgendwo im Wald knackte ein Ast, und Rebecca zuckte zusammen.

»Keine Sorge«, sagte Zach. »Du bist vollkommen sicher. Ich habe meine Dienstwaffe dabei!«

Er klopfte sich mit der Hand auf den Mantel. Rebecca schmunzelte »Ich habe auch meine Dienstwaffe dabei«, sagte sie und zog etwas aus ihrer Manteltasche, nur einen Moment lang.

Die Schafe erschraken. Georges Kanone! Das Schießeisen! Es machte einen Höllenlärm und war zu nichts zu gebrauchen.

»Damit hat mein Vater sich Drogendealer vom Leib gehalten! Gut, was?«

Das war nun eine glatte Lüge. Das Einzige, was sich der alte George mit dem Schießeisen vom Leib gehalten hatte, war eine windschiefe, wehrlose Zielscheibe gewesen.

Rebecca läutete wieder die Glocke. Die Schafe mochten die Glocke wirklich. Sie war beruhigend wie das Murmeln eines Mutterschafs. Langsam machte sich der Wald wieder daran, die beiden Menschen zu verschlucken. Ein Bein, einen Arm. Ein wenig Rot und Schwarz und Braun und ein bisschen Gold. Und die Stimmen. Und die Glocke.

»Früher war das hier unsere Basis, weißt du«, sagte Zach. »Ein Ausbildungszentrum für Agenten. Getarnt als Klapsmühle. Streng geheim. Aber dann wurde alles aufgelöst und die Agenten abgezogen. Alle bis auf mich. Und ich sehe zu und frage mich die ganze Zeit: was steckt dahinter? Warum haben sie mich hier stationiert? Ich wüsste wirklich zu gerne, warum sie mich hier stationiert haben, all die Jahre!« Einen Augenblick lang klang Zach viel jünger, und ein bisschen verloren.

»Aber diesmal bin ich ganz dicht dran. Das ist natürlich alles streng vertraulich«, sagte er dann und klang wie immer.

»Natürlich«, sagte Rebecca, »streng vertraulich...«, bevor auch ihre Stimme zwischen den Stämmen verschwand.

Eine Weile war noch das Glöckchen zu hören, dann Stille.

Die Schafe hatten es eilig, aus dem stacheligen Dickicht herauszukommen, aber ausgerechnet Maude, die sonst immer so für Bequemlichkeit zu haben war, bestand darauf, dass sie sich nicht vom Fleck bewegten. Maude war ihr Warnschaf. Sie roch Dinge, die andere nicht rochen. Also ließen sich die Schafe weiter vom Weißdorn stechen und warteten.

Und wirklich. Nach einer kurzen Weile bewegte sich wieder etwas im Wald. Dunkel diesmal. Dunkel und schweigsam. Auf einen Stock gestützt. Direkt auf sie zu. Stapf, stapf und stapf. Sie erkannten die Witterung, noch bevor sie die Gestalt zwischen den Stämmen richtig sehen konnten: der Geruch von zu vielen Ziegen und ein bisschen Wurst. Die Schafe hielten den Atem an. Aber der Ziegenhirt hatte den Blick auf den Boden gerichtet und folgte Zachs und Rebeccas Spuren im Schnee, ohne aufzusehen. Stapf, stapf und stapf.

Dann war die Luft rein.

Othello führte sie nicht zurück den Hang hinauf, sondern einen Graben entlang. Die Schafe liefen schneller und breiter gestreut. Ihre Schäferin war ihnen dicht auf den Fersen - sie wusste es nur noch nicht. Um diese Zeit dösten sie normalerweise noch alle im Heuschuppen, und die Schafe konnten sich Rebeccas Überraschung vorstellen, wenn sie statt Cloud eine ganze Herde entflohener Schafe fand. Irgendwie glaubten sie nicht, dass Rebecca sich besonders freuen würde.

 

Zora trabte flott am äußeren Rand der Herde. Zora mochte Ränder. Jeder Rand war ein bisschen wie ein Abgrund, und von jedem Abgrund konnte man etwas lernen.

Plötzlich streifte etwas Dunkles ihr Gesicht. Ein Krähenschatten. Er kreiste und verschwand. Zora sah sich neugierig um. Im nächsten Augenblick war sie einen riesigen Satz zur Seite gesprungen. Ihr Herz klopfte im Galopp. Etwas zwischen den Bäumen hatte sie angesprungen. Ein Bild. Zora zitterte. Sie wollte weglaufen, und doch musste sie wissen, was sie so erschreckt hatte.

Warten. Wittern. Ein winziger Schritt.

Nichts.

Noch ein Schritt, den Hals lang und die Ohren spitz.

 

Vor einiger Zeit, als der Wind noch dabei war, die letzten bunten Blätter von den Bäumen zu zupfen, war Zora aufgewacht, früher als alle anderen Schafe. Die Luft hatte sich kühl und schwer und fremd angefühlt. Undurchdringlich. Wie der Wald. Der Wald war auf ihre Weide gekommen.

Zora war aufgestanden, neugierig, widerwillig, und zur Tür ihres Stalls getrabt.

Und erschrocken.

Auf ihrer Weide, nicht weit vom Waldrand, stand ein großes, fremdes Tier:

Ohren wie flatternde Schmetterlinge, riesige schwarze Augen, gewölbt wie Tautropfen. Es trug eine Witterung so voll von Wildheit und Freiheit und - Verletzlichkeit, dass Zora noch bei der bloßen Erinnerung schwindelig wurde. Das Tier hatte einige Augenblicke stillgestanden, schwarz vor dem milchweißen Morgenhimmel. Zwei andere wie es tauchten hinter ihm auf, gefroren ebenfalls. Die drei sahen Zora an, und Zora, hypnotisiert, hilflos, starrte zurück. Dann lief ein Zittern über die Flanken der Fremden wie Wasserwellen über einen Teich. Und sie stoben davon, lautlos, weit über den Weidezaun hinweg, so als wäre er gar nicht da, hinein in den Wald. Der Wald stand schwarz und schwieg, während der untere Rand des Himmels langsam errötete. Rehe, sagten die Ziegen.

Rehe waren wie Geister, machtvolle Gedanken von Flucht und Wachsamkeit. In ihrer Welt gab es keine Zäune. Keine, die sie hielten. Keine, die sie beschützten. Zora verstand, warum ihre Augen so groß waren, ihre Beine so lang und ihre Ohren so zart und nervös. Rehe mussten schneller sein als die Gefahr.

Und doch lag nun eines vor Zora - oder besser gesagt: etwas, das einmal ein Reh gewesen war. Noch vor kurzem. Vor langer Zeit.

»Das war der Garou!«, sagte eine kleine schwarze Ziege neben Zora.

»Ich glaube, das war ein Reh!«, sagte Zora.

»Das ist schön«, murmelte das Winterlamm.

Seltsamerweise verstand Zora, was es meinte. Auf einmal schien die Sonne durch die Bäume und zeichnete filigrane Schattenmuster in den Schnee. Das Weiß und das Schwarz. Das Weiß und das Schwarz und das Rot.

Wie eine Blume im Schnee.