12

 

Othello zögerte.

Eigentlich war er nur ein paar Schritte in den Wald getrabt, um nicht vom Ziegenhirten entdeckt zu werden, aber jetzt hörte er eine Stimme. Wütend, gedämpft und nervös. Und zu der Stimme gehörte eine Spur, die nicht weit von Othello durch den Schnee führte und in einer Senke verschwand. Die Spur lockte Othello. Er wollte ihr folgen - und er wollte es nicht. Er wollte bei seiner Herde bleiben und sie vor dem Garou beschützen. Immer. Aber diese Spur war wichtig. Jemand hatte wie Othello die Weide von außen umrundet, im Schutz des Waldes. Othello schnaubte. Niemand hatte seine Weide zu umschleichen. Niemand!

Der schwarze Widder blickte noch einmal zurück zu seiner Herde. Sie war sicher. Noch. Ein Gefühl, mehr noch, so etwas wie eine Erinnerung. Etwas, das die kleine Ziege über den Mond gesagt hatte ... Othello schnaubte und verschwand zwischen den Stämmen, hinter der Spur her. Keine Wolfsspur, so viel war klar. Eine plumpe, simple Menschenspur.

Anders als die anderen Schafe hatte Othello einmal einen Wolf gesehen - vielleicht. Im Zoo, vor langer Zeit. Sicher war er sich nicht. Othello war sehr jung gewesen - mit vier spitzen Hörnchen, die gerade erst zu wachsen begonnen hatten -, schwärzer und neugieriger als ein Rabe. Deshalb war er nicht wie der Rest der Herde ans andere Ende des Geheges geflohen, als die Witterung den Weg heraufwehte. Der Witterung folgte ein summendes Gefährt mit zwei Menschen vorne und einem Käfig hinten. Und in dem Käfig stand ein Wesen, bei dessen Anblick sich alles an Othello sträubte. Alles. Jedes Haar in seinem Fell. Das Wesen war groß, groß und schön, ein bisschen wie ein Hund, aber auch sehr anders als ein Hund. Langbeinig und lebendig und grau wie ein Geist. Es hatte Othello angesehen, mit grauen, brennenden Geisteraugen, und Othello hatte verstanden, dass auch seine Haare sich sträubten, vor Hitze und Entzücken; dass sie sich kannten, seit langer Zeit...

Othello blieb abrupt stehen.

Am Boden der Senke, halb verdeckt von kahlen Brombeerhecken, kniete ein Mann. Einer der Männer, die immer spazieren gingen. Der Dickere und Größere von beiden. Diesmal ging er nicht spazieren, sondern quakte wütend und europäisch. Vor ihm lag ein totes Reh, seltsam verdreht, den Kopf in einer Drahtschlinge, und schwieg. Der Mann hatte sehr weiße Hände (oder vielleicht waren es Handschuhe?), und eine dieser Hände hielt ein Messer, die andere ein Gefäß. Der Mann stach das Reh in den Hals. Er hatte das schon ein paar Mal getan. Nichts passierte. Er quakte ärgerlich. Ab und zu blickte der Dicke schnell über die Schulter. Othello verstand, warum er so nervös war: Direkt dort oben führte ein Weg an der Senke vorbei, und jeder, der diesen Weg kam, würde sie sehen. Den Dicken und das Reh, das nicht bluten wollte. Es war ein dummer Ort. Jedes respektable Raubtier hätte seine Beute von hier weggezerrt, zumindest bis ins nächste Gebüsch.

Schließlich ließ der Dicke von dem Reh ab. Er häufte Schnee darauf, dann ging er schnell davon, tiefer in den Wald hinein, eine plumpe Menschenspur hinter sich herziehend.

Othello blieb im Schatten eines umgefallenen Baumstamms zurück und wunderte sich. So hatte er sich den Garou nicht vorgestellt.

Ein Krachen ließ den schwarzen Widder zusammenzucken. Er wollte fliehen und wusste nicht, wohin und wovor. Dann sah er den Ast, der unter der Last des Schnees geborsten und zu Boden gestürzt war. Ein Ast so dick wie Othellos Kopf.

Der Leitwidder lauschte dem Knarren der Bäume, dem Jammern von eiskaltem Holz und dem schweren Schweigen des Schnees. Er verstand, dass überall solche Aste unter Schnee ächzten. Und einige davon würden brechen.

Der Wald im Winter war ein gefährlicher Ort.

 

Zora, Maude, Heide und Madouc blieben an einem Kreuzweg stehen. Bisher waren sie der Straße gefolgt, und weil sie an einem eckigen Schild mit einem gemalten Reh vorbeigekommen waren, waren sie sich einigermaßen sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Das Schild war ihnen schon auf dem Hinweg vom Auto aus aufgefallen. Aber nun gab es auf einmal drei Wege und viele spitze Schilder, die in alle möglichen Richtungen zeigten. Schilder mit Zeichen. Weiße und gelbe, blaue und braune.

Maude witterte wichtigtuerisch hin und her, aber da war nichts, nur Schnee und Wald, Wald und Schnee. Zora spähte durch die Baumkronen nach der Sonne, Heide war dafür, einfach zu raten. Nur Madouc legte den Kopf schräg und blickte weiter zu den Schildern hinauf.

»So viele Schilder«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, es hat einen Grund, dass sie hier sind.«

»Was für einen Grund?«, blökte Heide. »Es gibt auch keinen Grund dafür, dass die Bäume hier sind!«

»Doch«, sagte Madouc. »Die Bäume sind hier, weil wir im Wald sind!«

Das stimmte. Die Schafe sahen sich die bunten Metalldinger noch einmal genauer an. Die meisten von ihnen waren spitz auf der einen Seite und flach und eckig auf der anderen. Auf allen waren Zeichen, die Zeichen, aus denen Geschichten sind, aber nur auf einem war auch ein Bild.

»Das da!«, meckerte Madouc. »Das ist der Turm!«

Sie hatte Recht. Der Turm auf dem Bild war viel kürzer und dicker als der Turm des Schlosses, aber beide hatten die gleiche gezackte Spitze.

»Na und?«, sagte Maude und witterte das Schild an. »Es riecht nicht wie der Turm!«

»Das ist die Nase«, sagte Heide und blickte auf den spitzen Teil des Schildes. »Die Schraube da ist das Auge, und der Turm bedeutet, dass es zum Turm guckt!«

Es war eine kühne Theorie, aber es war ihre einzige Theorie. Die Schafe bogen nach rechts und folgten der Nase des braunen Schildes, tiefer in den Wald hinein.

Heide war kalt, und sie traute sich nicht einmal, klagend zu blöken. Kälte war unter Schafen kein populäres Thema. Wenn man nur genug wollte, war Kälte kein Problem, hieß es. So weit die Theorie. Die Praxis sah anders aus.

Maude war deprimiert, weil sie trotz ihres guten Geruchssinns nichts als Wald und Schnee riechen konnte, so weit die Nase reichte. Wie konnte sie wissen, dass sie noch immer gut riechen konnte, wenn sie nichts roch?

Madouc lief zick-zack.

Zora dachte.

»Und?«, fragte sie Madouc schließlich. Madouc hörte auf zu zack-zicken. »Und was?«

»Hast du den Garou nun gesehen?«, fragte Zora. »Meistens nicht«, sagte die kleine Ziege. »Teile von ihm.«

»Teile?«, schnaufte Maude. »Was für Teile?«

»Hände«, sagte Madouc.

»Haben Wölfe Hände?«, fragte Heide.

»Dieser schon«, sagte Madouc. »Zwei. Die braucht er, um sich mit Werwolfsalbe zu bestreichen. Nur ist die Salbe ein Pulver.« Sie kickte dramatisch nach hinten aus, und pulvriger Schnee staubte.

»Woher weißt du das alles?«, fragte Zora. »Das mit der Salbe, meine ich, und mit den Kugeln und dem Silber und dem Mond und all die anderen Sachen über den Garou?«

»Der Hirt hat es mir erzählt«, sagte Madouc. »Der Hirt spricht von nichts anderem.«

»Der Hirt spricht mit dir?«, fragte Zora.

»Der Hirt spricht nur mit mir«, sagte Madouc stolz. »Mit den anderen spricht er schon lange nicht mehr.«

»Warum nicht?«, fragte Heide.

»Weil die anderen doof sind«, sagte Madouc. »Doof und verrückt ist nicht das Gleiche, wisst ihr? Der Hirt versteht das.« Madouc schwieg einen Moment.

»Früher waren alle verrückt«, sagte sie dann. »Das ganze Schloss. Und jetzt sind nur noch ein paar verrückt. Heimlich verrückt, sozusagen.«

»Wer sagt das?«, fragte Zora.

»Der Hirt«, sagte Madouc. »Wir haben bis vor kurzem alle zusammengewohnt.«

»Wer - alle?«, fragte Heide.

»Na - ich und er«, sagte Madouc.

»Wirklich?«, fragte Heide. »Auf der Weide?«

Sie versuchten, sich den Hirten grasend und rupfend und springend vorzustellen, und konnten es nicht.

»Nicht auf der Weide«, sagte Madouc. »In einem Haus aus Stein und Holz und Feuer.«

»Warum denn das?«, blökte Heide. Aber Madouc wollte nicht sagen, warum.

 

Die Schafe hätten sich viel länger über das Verschwinden Othellos gewundert, wenn nicht Eric auf ihrer Weide aufgetaucht wäre, Eric, der im Herbst vor Hortenses Fenster ein Musikinstrument malträtiert hatte. Die Schafe beobachteten ihn skeptisch. Jemand, der sich Tag für Tag mit Ziegenkäse beschäftigte, konnte nicht ganz richtig im Kopf sein.

Im Gegensatz zu den anderen Menschen bemerkte Eric das Silberpapier. Er blieb stehen und sah kurz zu, wie es mit der Sonne und dem Wind spielte, funkelte und knisterte. Die Schafe hielten den Atem an, aber es sah nicht so aus, als ob Eric sich besonders fürchtete. Er lächelte. Dann fuhr er sich mit der Hand durch das helle Haar, ging weiter zum Schäferwagen und klopfte höflich. Die Tür ging auf, und Mama stand auf den Stufen, in wallende blaue Gewänder gehüllt, mit einem glitzernden Band um die Stirn. Heute trug sie schon ihr drittes Gesicht, mit rosenfarbenen Lippen und viel Blau um die Augen, so als hätte sie sich mit jemandem geprügelt. Der alte George hatte sich einmal geprügelt, zum Spaß, und seine Augen hatten anschließend ungefähr so ausgesehen.

Mamas Auftritt wäre um einiges beeindruckender ausgefallen, wenn in diesem Moment nicht Tess aus dem Schäferwagen gesprungen wäre und um Eric herum einen kleinen Hundetanz aufgeführt hätte. Tess mochte Eric. Und Eric mochte Tess. Er ging in die Hocke und kraulte Tess hinter den Ohren, unter dem Kinn, am Bauch und an den Flanken. Tess rollte im Schnee und gab gurgelnde Laute des Entzückens von sich, während Mama mit ihren dramatisch gespreizten Armen ein wenig überflüssig aussah.

Endlich erinnerte sich Eric doch an Mama, klopfte sich Schnee von der Hose und überreichte ein Päckchen. Die Schafe witterten gespannt, aber unter dem Papier war wieder einmal nur Ziegenkäse. Für Ziegenkäse konnte sich nicht einmal Mopple begeistern. Mama lächelte und deutete mit roten Fingernägeln ins Innere des Schäferwagens, Eric lächelte auch, und die beiden verschwanden. Tess hinterher.

Die Schafe weideten und versuchten, nicht an Yves zu denken, der unappetitlich auf dem Gras und unter dem Schnee lag. Nur Mopple graste nicht. Er stand neben dem ungeschorenen Fremden am Zaun und blickte bekümmert zum Schloss hinüber.

»Es kann nicht so schwer sein, ein so großes Auto zu finden!«, sagte er. »Sie mussten längst wieder da sein!«

»Tourbe!«, bestätigte der Fremde. »Gris. Tache. Marcassin!«

Beide seufzten. Heute verstand Mopple das fremde Schaf gut.

Hortense kam aus dem Schloss, mit federnden Schritten und besonders viel Veilchenparfum, und schlüpfte zu Mama und Eric in den Schäferwagen. Einige Zeit später kam sie wieder heraus, Eric am Arm. Die beiden gingen schweigend über die Weide, blond und golden, und verschwanden schweigend zwischen den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses.

 

Rebecca kam gegen Mittag zurück. Ihr roter Schal flatterte stolz im Wind.

»So«, sagte sie zu den Schafen. »Jetzt gibt es Mittagessen, und dann werden wir ja ...«

Die Schäferin verstummte und starrte auf den Haselstrauch.

»Na, so was«, sagte sie. »Habe ich nicht vorhin...Ich hätte schwören können ...«

Rebecca stapfte zum Haselstrauch, pflückte das Silberpapier aus den Zweigen und trug es wieder hinüber zum Abfalleimer.

»Komisch«, sagte sie.

Die Schafe fanden die Sache gar nicht komisch.

Rebecca versenkte das Werwolfsilber zum zweiten Mal im Abfalleimer, dann ging sie zurück zum Schäferwagen und klopfte.

Mama streckte ihr drittes Gesicht aus der Tür. »Sind sie weg?«, fragte Rebecca.

Mama nickte und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. »Willst du eine?«

Mamas Zigaretten waren länger und dünner als die von Rebecca, und normalerweise verzog Rebecca bei ihrem Anblick das Gesicht. Aber nicht heute.

Die beiden Frauen hockten sich auf die Stufen, mit ihren komischen rauchenden Stängeln im Mund, und auf einmal sahen sie sich ähnlich.

»Der Tierarzt ist nirgends aufzutreiben«, sagte Rebecca. »Gestern hat mir seine Sprechstundenhilfe noch gesagt, dass er krank ist, und heute rührt sich gar niemand mehr. Ich brauche ihn ja gar nicht persönlich, die Impfungen können warten, ich will nur wissen, wo ich mit den Schafen ein neues Quartier finden kann.«

»Gestern?«, fragte Mama.

»Gestern!«, sagte Rebecca.

»Komisch. Ich dachte, ich hätte ihn gestern Vormittag mit der Plin sprechen sehen, bevor... na ja, vor der Seance.«

»Komisch«, sagte Rebecca ohne besonderes Interesse.

Die beiden Frauen bliesen Rauch in die Luft.

»Und?«, fragte Rebecca schließlich. »Hast du was Wichtiges erfahren bei deinem Hexenzauber?«

»Vielleicht!« Mama saugte genüsslich an ihrem Stängel.

Rebecca sah neugierig aus, aber sie sagte nichts.

»Ich weiß, woher der Schrank kommt!«, platzte Mama heraus.

»Na ja«, sagte Rebecca. »Nicht gerade unser dringlichstes Problem.«

Mama schwieg und betrachtete kritisch ihre roten Fingernägel.

»Woher?«, fragte Rebecca endlich.

»Woher?«, blökten die Schafe. Die Sache interessierte sie auch. Wenn sie wussten, woher der Schrank kam, konnten sie ihn vielleicht überreden, auf seinen kleinen Füßchen dorthin zurückzutrippeln, mit seinem unheimlichen Innenleben aus Wäldern und Pelzmänteln und Halbziegen, und so obendrein neue Weidefläche gewinnen.

»Aus dem Schloss!«, sagte Mama.

»Jeder weiß, dass er aus dem Schloss kommt«, sagte Rebecca. »Wo gibt es denn sonst solche Schränke aus Eichenholz mit Schnitzereien und Beschlägen und Löwenfußen.«

»Wenn du schon alles weißt, musst du ja nicht fragen«, sagte Mama und klopfte Asche in den Schnee. »Aber es ist keine schlechte Geschichte.«

Die Schafe rückten näher, sogar der fremde Widder, der vermutlich kein Wort verstehen konnte.

»Erzähl schon!«, sagte Rebecca.

»Wusstest du, dass das hier früher eine Nervenheilanstalt war?«, fragte Mama. »Ja«, sagte Rebecca.

Es war kein guter Anfang. Mama saugte ein bisschen säuerlich an ihrer Zigarette und schwieg.

»Warum hast du mir das nicht erzählt?«, fragte sie schließlich.

»Ich wollte deine Fantasie nicht noch zusätzlich beflügeln. Und, na ja, es ist vorbei, stimmt's? Jetzt ist es eben nur noch ein Schloss.«

»Nun, die Geschichte stammt aus der Zeit, als es noch eine Anstalt war«, sagte Mama. »Das ist übrigens noch gar nicht so lange her. Fünf Jahre oder so. Der Vater von diesem Schnösel war ein Nervenarzt...«

»Er ist kein Schnösel!«, sagte Rebecca.

»Wenn das kein Schnösel ist! Ich habe noch nie einen Mann im Pelz... na ja, egal. Jedenfalls war es die Art von Anstalt, bei der sich die Verwandten nicht ganz so schlecht fühlen müssen, wenn sie ihre alten Eltern einliefern, mit Schloss und Park und jeder Patient ein Zimmer für sich. Nobel. Nur war in den Zimmern nichts! Gar nichts, kein Tisch, kein Stuhl, nichts, nur Metallbetten. Und irgendwann hat sich jemand beschwert, dass er schon gar nicht mehr wisse, wie Möbel überhaupt aussehen, und dass er ein Recht auf einen Schreibtisch habe. Und dann hat der Arzt angeordnet, Möbel auf die Weide hier zu bringen, den Schrank und das Sofa und die Kommode, die feinsten Möbel, damit all seine Patienten sie sehen konnten, wenn sie aus ihren Fenstern im dritten Stock guckten. Er sagte, es sei therapeutisch. Therapeutisch! Kannst du dir vorstellen, wie sich die Leute gefühlt haben müssen, als sie die Ziegen auf dem Sofa gesehen haben? Wenn du mich fragst, das war ein Sadist.«

»Das ist eine gute Geschichte«, sagte Rebecca anerkennend, drückte ihre Zigarette im Schnee aus und steckte sie säuberlich in die Tasche. »Von wem hast du die denn?«

»Eric. Oder besser gesagt: Hortense, aber die hat sie von Eric. Hortense war damals noch gar nicht hier, aber Eric hat geholfen, die Möbel auf die Weide zu tragen. Die müssen damals so einen richtig bösen Ziegenbock gehabt haben.« Auch Mama hatte ihre Zigarette ausgedrückt und wusste nicht so recht, wo sie jetzt mit dem Stummel hinsollte.

»Irgendwas stimmt nicht mit diesem Eric!«

Rebecca seufzte. »Was stimmt denn jetzt schon wieder nicht?«

»Naja, ich habe ihm die Karten gelegt, und er hat sich überhaupt nicht dafür interessiert. Keine Regung. Nichts. Als wäre das gar nicht sein Leben.«

»Er glaubt eben nicht daran! Hortense hat ihn zu dir geschleift, weil sie in ihn verschossen ist, das ist alles.«

»In wen sollte sie hier auch sonst verschossen sein, das arme Kind.« Mama hatte mit ihrem Fuß ein Loch in den Schnee gebohrt, und in einem unbeobachteten Moment ließ sie den Zigarettenstummel hineinplumpsen.

»Die Fronsac hat mich gefragt, ob ich Kontakt mit den Toten aufnehmen kann«, sagte sie unvermittelt.

»Und?«, fragte Rebecca. »Kannst du?«

»Sei nicht albern«, sagte Mama und scharrte heimlich ihr Schneeloch wieder zu.

Rebecca schwieg. Mama schielte wieder nach der Schachtel mit Zigaretten.

»Der Fernseher funktioniert nicht«, jammerte sie dann.

Rebecca lachte leise auf. »Das hätte ich dir gleich sagen können.«

»Oh, ich glaube nicht, dass er kaputt ist«, sagte Mama würdevoll und rückte ihr Stirnband zurecht. »Das trauen sich die Leute dann doch nicht. Aber die Antenne müsste aufs Dach, und wenn ich Yves' Kauderwelsch gestern richtig verstanden habe, wollte er das heute früh machen. Aber aufgetaucht ist er nicht. Du hast Recht. Das ist ein schmieriger Mensch. Ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl.«

»Du und dein Gefühl«, sagte Rebecca und erhob sich von den Stufen. Sie sah hinüber zur Ziegenweide, wo drei Ziegen auf dem Sofa standen und ein kleines Meckerspektakel veranstalteten.

»Komisch, dass die Möbel noch immer hier stehen, nicht wahr? Ich hätte die Dinger längst weggeräumt!«

Mama nickte. »Das habe ich auch gesagt, und Hortense hat es übersetzt, und Eric hat mich ganz entgeistert angestarrt, als... als hätte er noch immer Angst vor dem alten Herrn.«

»Vielleicht kommt der ja noch ein, zwei Mal im Jahr vorbei und meckert«, sagte Rebecca.

»Der meckert nicht mehr«, sagte Mama. »Der ist tot. Aber wie er gestorben ist, erzählt mir hier auch keiner.«

Mama blickte ungehalten hinüber zum Schloss.

»Du kannst ja Kontakt mit ihm aufnehmen!«, schlug Rebecca vor. »Ich rufe inzwischen Yves an. Die Fronsac hat mir, glaube ich, mal seine Nummer gegeben, für Reparaturen und so. Ich frage ihn, ob er uns doch noch die Antenne aufs Dach setzt. Ich hätte mal wieder Lust auf einen Film. Das war was! Ein Werwolfsfilm, damit du weißt, was du fotografieren musst. Was meinst du?«

Sie piekte ihr Sprechgerät mit einem spitzen Zeigefinger, und das Sprechgerät quiekte empört.

»Du solltest das ein bisschen ernster nehmen. Und jetzt essen wir etwas, ja?«, sagte Mama und erhob sich ebenfalls, überraschend anmutig. »Ich koche!«

Rebecca machte kein besonders begeistertes Gesicht, aber sie nickte und folgte Mama in die Tiefen des Schäferwagens. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, klingelte am Fuße der alten Eiche unter viel Schnee ein Sprechgerät.

 

Die Schafe beobachteten, wie außergewöhnlich schwarzer Rauch aus dem Schäferwagen wallte, zuerst nur aus dem kleinen, bemützten Schornstein, dann auch aus dem Fenster und schließlich zur Tür hinaus. Rebecca und Mama flüchteten hustend auf die Schäferwagenstufen. Tess rieb ihre Schnauze im Schnee.

»Nudeln mit Soße!«, schimpfte Rebecca. »Nudeln mit Soße! Was kann denn da schon schiefgehen?«

»Ich bin deinen Kocher nicht gewohnt«, sagte Mama.

»Schon über drei Wochen hier und noch immer nicht meinen Kocher gewohnt...«, murmelte Rebecca. »Rauch nicht schon wieder! Wie kannst du jetzt rauchen? Ich hatte aufgehört, weißt du, und dann kommst du vorbei! Hast du wenigstens was über meine Klamotten herausgefunden mit deinen Wahrsagekünsten?«

»Noch nicht. Aber wahrscheinlich war das auch dieser Yves! Ich habe das im Gefühl. Dem traue ich alles zu!«

Rebecca lachte. »Nein, das war ausnahmsweise einmal nicht Yves. Der Typ ist vollkommen farbenblind - der würde meine roten Sachen gar nicht erkennen. Habe ich gemerkt, als wir im Herbst Apfel gepflückt haben. Ich habe ihm immer gesagt: nicht die Grünen, und er... es war zum Wahnsinnigwerden!«

»Ich könnte heute Nachmittag die Karten...«, sagte Mama etwas kleinlaut.

»Ach was, Karten! Wir versuchen es anders. Einen roten Schal habe ich noch!« Rebecca grinste grimmig. »Und du kannst auch etwas tun! Ich will, dass du heute Nachmittag von der Weide verschwindest. Geh duschen! Und nimm Tess mit!«

Und wirklich: diesen Nachmittag ging Mama überraschend folgsam duschen, Tess an der Leine.

Rebecca sah den beiden nach. Kurz daraufhängte sie ihren letzten roten Schal an einen Haken außen in der Schäferwagenwand.

»Zum Lüften«, sagte sie und blinzelte den Schafen zu. Die Schafe standen herum und versuchten, entspannt und vollzählig auszusehen. Bisher waren sie wie durch ein Wunder um das Zählen herumgekommen!

Der rote Schal züngelte im Wind wie eine Flamme.

Rebecca setzte wieder die braune Brotmütze auf, wickelte sich diesmal einen blauen Schal um und sperrte mit viel Aufhebens den Schäferwagen ab. Dann war sie wieder unterwegs und verschwand durch das Hoftor. Die Schafe sahen ihr nach.

Wenige Minuten später tauchte Rebecca auch schon wieder auf, durch eine kleine Pforte seitlich in der Hofmauer. Von weitem hätten die Schafe sie fast nicht erkannt, so ohne einen einzigen Flecken Rot an ihr. Rebecca kroch vorsichtig an der Mauer entlang, dann, im Schutze der Obstbäume, zum Waldrand - und verschwand im Wald. Aber die Schafe konnten sie weiter wittern. Rebeccas Witterung schlich im Schutze des Waldes wieder näher an die Weide heran und ließ sich schließlich in der Nähe der schönen Buche nieder.

Die Schafe sahen sich an, zuckten mit den Ohren und begannen wieder zu grasen.

Monsieur Fronsac ging über den halben Hof, schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und kehrte wieder um. Eine Tür in der Mauer öffnete sich, und der Gärtner kam heraus, ein Bündel Reisig in den Händen. Madame Fronsac ging über den Hof und sah flüchtig zu den Schafen hinüber. Ein Fuchs schnürte am Weidezaun entlang. Es war noch zu früh für Lämmer, trotzdem ließen die Schafe ihn nicht aus den Augen. Madame Fronsac ging ein zweites Mal über den Hof. Dann ein drittes Mal. Sie blickte schnell nach links und nach rechts und nach oben zum Schloss.

Sie wischte sich ihre großen, kälteroten Hände an der Schürze ab, hastete zum Weidetor und durch das Tor Richtung Schäferwagen. Die Schafe fingen an, sich zu wundern. Mehr verstohlene Blicke in alle Richtungen, dann hatte das Walross den Schal geschnappt und verschwand damit hinter dem Schäferwagen, wo man sie vom Schloss aus nicht sehen konnte. Aber Rebecca, die irgendwo bei der schönen Buche hockte, konnte das Walross vermutlich ganz hervorragend sehen.

Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig.

Hortense trat auf den Hof, den kleinen Jules an der Hand, das Walross zückte ein Kartoffelmesser, und Rebecca brach aus dem Wald hervor wie ein zierliches, aber entschlossenes Wildschwein.

 

Diesmal lag es nicht am Hunger. Mopple hatte vorhin am Futtertrog eine ordentliche Portion Kraftfutter abbekommen. Vielleicht war es doch die Kälte? Oder der Schnee? So viel Weiß überall konnte ein Schaf ganz schön durcheinanderbringen.

Mopple graste einfach weiter, den Kopf tief im Schnee, und versuchte, den Ginsterbusch zu ignorieren.

»Psst!«, zischelte der Ginsterbusch. »Hierher! Hierher, Mopple the Whale!«

Mopple sah nicht hin. Ein winterkahler, europäischer Ginsterbusch, der seinen Namen kannte? Die Sache gefiel ihm nicht. Erst eingebildete Ziegen und jetzt sprechende Ginsterbüsche. Was würde als Nächstes kommen? Er sah sich schon in wilde Diskussionen mit einem Büschel Dicklippkraut verstrickt. Mopple seufzte. Es wurde Zeit, dass der Winter vorbeiging.

Der Ginsterbusch begann, mit Schnee nach ihm zu kicken, und Mopple wurde langsam wütend. »Hör auf!«, sagte er zu dem Busch.

»Nur, wenn du mitkommst, höre ich auf«, flüsterte der Ginsterbusch.

Jetzt war Mopple sicher, dass er sich die ganze Sache nur einbildete.

»Wenn du gehst, komme ich mit!«, sagte er kühn zum Ginsterbusch.

»Hervorragend!«, sagte der Ginsterbusch. Drei junge Ziegen streckten ihre spitzen Köpfe zwischen den Zweigen hervor, eine Graue, eine Rote und eine Braun-Gescheckte.

»Ich bin Amaltee«, sagte die Graue.

»Ich bin Circe«, sagte die Rote.

»Und ich bin Kalliope«, sagte die Braun-Gescheckte.

Mopple setzte sich vor Überraschung aufs Hinterteil.

»Wollt ihr wirklich etwas gegen den Garou unternehmen?«, fragte Kalliope. »Ein bisschen Glitzer wird da nämlich nicht reichen!«

Mopple nickte tapfer.

»Dann komm mit!«, flüsterte Circe.

Die drei Ziegen drehten sich um und trabten mit schwingenden Schwänzen zurück zu der Latte im Ziegenzaun. Mopple zögerte einen Moment lang, dann dachte er an Zora und die anderen Expeditionsmitglieder, die jetzt vielleicht in Schwierigkeiten waren. Mopple wollte etwas gegen den Garou unternehmen. Am Schäferwagen schien es eine Aufregung zu geben, und in einem unbeobachteten Moment zwängte sich Mopple durch die Latte und trabte entschlossen hinter den drei Ziegen her.

 

Das Walross heulte und zitterte und schluchzte, Rebecca fauchte »Pourquoi? Pourquoi?«, Hortense rief »Becca! Becca!«, und die Schafe staunten.

Rebecca hatte das Walross gestellt. In flagranti. Auf frischer Tat ertappt. So viel stand fest.

Der gerettete Schal und das Messer lagen jetzt im Schnee, und alle regten sich auf.

»Ich möchte wissen, warum!«, zischte Rebecca, zu aufgebracht für ihr mühevolles Europäisch. »Ich habe ihr nie etwas getan - nie! Wenn sie mir nicht sagt, warum, rufe ich die Polizei!«

»Becca!«, sagte Hortense vorwurfsvoll, aber dann sprach sie doch mit dem Walross.

Das Walross zitterte so sehr, dass es zuerst gar nichts sagen konnte - nicht einmal auf Europäisch.

Schließlich quakte es doch los, schluchzend und schniefend, und alles, was die Schafe verstanden, war das Wort »Garou«.

»Sie wollte dir helfen«, sagte Hortense.

»Ha!«, sagte Rebecca. »Findet sie, dass Rot mir nicht steht, oder was?«

»Rot ist die falsche Farbe«, sagte Hortense und sah zu Boden. »Niemand trägt hier Rot.«

Hortense atmete tief ein. Sie warf einen Blick hinüber zu Jules, der am Weidezaun stand und mit großen Augen zum Schäferwagen blickte, dann trat sie ganz nah an Rebecca heran.

»Ecoute, Becca«, sagte sie leise. »Rot ist die falsche Farbe, weil es den Garou anzieht. Das kannst du glauben oder nicht glauben, aber es ist so. Der kleine Junge im Wald hatte eine rote Jacke an, und die Frau hatte einen roten Rock an und das Mädchen eine rote Mütze. Und weil sie wusste, dass du ihr nicht glauben würdest, hat sie es getan - weil sie dich nicht im Schnee finden wollte. Und le petit, das war ihr Junge. Ihr Enkel, der zu Besuch war. Und sie hatte ihm die Jacke geschenkt. Voila!«

Rebecca ließ die Arme hängen, starrte Hortense und das Walross an und sagte kein Wort. Das Walross tupfte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen aus den Augen. Jetzt, wo sie einmal mit dem Quaken angefangen hatte, gab es kein Halten mehr.

Sie ergriff eine von Rebeccas hängenden Händen und quakte und quakte.

»Was sagt sie jetzt?«, murmelte Rebecca. »Becca!«, seufzte Hortense.

»Ich will es wissen«, sagte Rebecca mit einer seltsam flachen Stimme.

»Sie sagt, dass du heute Abend nicht mit dem patron essen sollst«, sagte Hortense. »Voila! Und jetzt Schluss mit diesem ganzen Unsinn. Ich muss mich um Jules kümmern.«

Sie ließ die Schäferin und das Walross stehen und ging zu dem kleinen Jungmenschen hinüber. Jules hielt ihr ein graues Stofftier mit einem Rüssel entgegen.

Das Walross quakte noch eine ganze Weile eindringlich auf Rebecca ein und streichelte ihr die Hand. Dann umarmte sie die Schäferin, die sich steif wie ein Stockfisch machte, und eilte zurück Richtung Schloss.

Rebecca hob den roten Schal aus dem Schnee und sah ihn lange und kritisch an.

»Unsinn«, murmelte sie dann. »Unsinn!«

Die Schafe glaubten nicht, dass es Unsinn war. Sie hatten das Reh im Schnee gesehen. Kein Zweifel: der Garou mochte Rot.

 

Hin und her, hin und her, her und hin. Mopple konnte die Augen nicht von den lebhaft schwingenden Schwänzen der Ziegen nehmen. Als würden sie sich auf etwas freuen. Auf was man sich hier, im Niemandsland zwischen Wald und Hofmauer, freuen konnte, war Mopple ein Rätsel. Sie hatten sich schweigend von der Weide gestohlen und trotteten jetzt schweigend an der Mauer entlang, die Ziegen im Pulk voran, Mopple hinterher. Das Schweigen gefiel Mopple nicht. Alles war ohnehin viel zu still, der Schnee und die Mauersteine, der Pfad, der Ginster und die braunen Brombeerhecken und sogar Mopples Magen. Mopple mochte Magengeräusche - vor allem zufriedene Verdaugeräusche. Aber sein Magen schwieg.

Mopple schielte nach unten, auf der Suche nach möglichen Gräsern am Wegesrand. Als er wieder aufblickte, waren die Ziegen verschwunden. Mopple blökte erschrocken, und ein grauer Ziegenkopf tauchte wieder um eine Ecke in der Mauer auf.

»Blöke nicht«, sagte Amaltee. »Komm!«

Mopple dachte an Zoras schwarzen, klugen Kopf und bog entschlossen um die Ecke. Die Ziegen waren vor einer wettergebleichten Holztür stehen geblieben. Circe presste ihre kleinen, spitzen Hörnchen gegen das Holz, und die Tür knarrte ein Stück auf.

Mopple schlüpfte schicksalsergeben mit hindurch.

Wände, nichts als Wände. Ein Wirrwarr aus Mauern und Gassen und Plätzen und Offnungen. Und überall roch es verdächtig nach Menschen und Maschinen und sogar nach Schweinen.

Mopple merkte, dass er zitterte wie ein Milchlamm.

»Keine Sorge«, raunte Circe ihm zu. »Wir haben einen Plan! Jede Ziege hat einen Plan. Wir haben drei Pläne. Plan B und Plan F, und wenn alles andere schiefgeht, Plan Z.«

Mopple war kurz davor, wieder Schluckauf zu bekommen. Amaltee lauschte, Circe spähte, und Kalliope witterte. Alle drei Ziegen dachten.

»Was suchen wir hier eigentlich?«, blökte Mopple nervös.

»Bernie«, sagten die drei Ziegen im Chor. »Wir suchen Bernie!«