15
»Nasen sind sein Brot!«, sagte Ramses und schauderte.
»Und er hat sie zum Essen eingeladen«, sagte Cloud.
Die Schafe blickten finster zum Schloss hinüber, wo Rebecca und der Häher zwischen den Nebengebäuden verschwunden waren.
Der Plan des Hähers war mehr als durchsichtig, und wenn Rebecca ein bisschen mehr an Geschichten und ein bisschen weniger an ihre roten Lippen gedacht hätte, würde sie ihn gewiss durchschaut haben. So hingegen... Die Schafe guckten betreten. Eine Schäferin ohne Nase würde nicht das Gleiche sein.
Sie waren kurz davor, sich in den Heuschuppen zurückzuziehen, als Monsieur Fronsac auf die Weide kam, eilig, eine Flasche in der Hand. Er klopfe an die Schäferwagetür, quakte, reichte die Flasche durch den Spalt und eilte dann wieder zurück Richtung Schloss. Tess schlüpfte aus der Tür und rollte sich im Schnee.
Kurze Zeit später näherte sich der Weide ein Schnurren. Ein glattes, metallenes Schnurren, wie von einer riesigen, mechanischen Katze.
»Ein Auto«, sagte Lane.
Die Schafe spähten zur Straße, wo sich Autos normalerweise aufzuhalten pflegten, aber da war nichts. Nur Dunkelheit. Und dann kam doch ein Auto. Ein dunkles Auto kroch vorsichtig mit geschlossenen Augen auf den Hof, schauderte und schwieg. Zwei dunkle Männer entstiegen ihm und eine Frau mit einer weißen Haube. Die Haube leuchtete blau in der Dunkelheit. Der kleinere der Männer (auch er war nicht besonders klein) hatte etwas Schneidendes in jeder Bewegung, und auch wenn er stillstand. Das Auto fürchtete sich vor ihm. Die beiden anderen fürchteten sich vielleicht auch ein bisschen.
Die Menschen gingen zu der Pforte, die direkt in den Turm führte, und das Auto rollte erleichtert weiter, mit dunklen Augen auf dunkler Straße, weg vom Schloss.
Alles verlief außergewöhnlich leise und sacht und dauerte nur ein paar Augenblicke, trotzdem ließ es bei den Schafen eine seltsame Unruhe zurück. Sie waren sicher, dass sie eben ein Anschleichen beobachtet hatten. Aber von wem? Und an was?
Sie waren gerade dabei, es sich endlich im Heuschuppen gemütlich zu machen, als Ritchfields aufgebrachtes Blöken sie wieder zurück auf die Weide rief.
Ritchfield stand im Schnee und regte sich auf.
»Rebecca!«, blökte er. »Rebecca hinter den Fenstern! Kein Schäfer darf die Herde verlassen!«
»Außer, er kommt zurück«, sagte Cloud beschwichtigend. »Oder sie.«
Die Schafe dachten. Der alte Leitwidder mochte manchmal ein bisschen durcheinander sein, aber er hatte noch immer die besten Augen der Herde. Und Rebecca war wichtig.
»Kannst du wirklich Rebecca sehen?«, fragte Lane.
Ritchfield sah sie fragend an.
»REBECCA?«, brüllte Lane.
Ritchfield nickte aufgeregt.
»Sie...«
Ritchfield bekam einen Niesanfall. »Sie steht...«
Ritchfield röchelte und hustete. »Sie geht...«
Der alte Widder keuchte und nieste. Dann hob er die Hörner und spähte mit stolzem Leitwidderblick zu den erleuchteten Fenstern hinüber. Die Schafe sahen ihn bewundernd an.
»Und?«, fragte Miss Maple.
»Und was?«, schnaubte Ritchfield ungeduldig.
»Was macht sie?«
Ritchfield überlegte einen Augenblick. »Nichts«, sagte er dann.
»Nichts?«, blökten die Schafe. Es kam ihnen ein bisschen wenig vor.
»Sie steht da und macht nichts«, sagte Ritchfield entschieden. »Und der Häher macht auch nichts«, fügte er hinzu. »Er trägt ein rotes Band um den Hals. Aber keine Glocke.« Es sollte nicht der Eindruck entstehen, er könne nicht genug erkennen.
Ein weiterer prüfender Blick zum Schloss. »Und jetzt...«
Ritchfield blökte erschrocken. »Er hat sie gerade in die Hand gebissen.«
Die Schafe sahen sich an. Das bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen!
»Sie sollte weglaufen!«, blökte Ramses. »Läuft sie weg?«
»Nein«, sagte Sir Ritchfield. »Aber sie ist rot im Gesicht. Sie gehen weiter, in das nächste Fenster, und...«
Wieder blökte Sir Ritchfield überrascht.
»Da ist Othello! In einem anderen Fenster!«
Seine Herde sah ihn skeptisch an.
»Und da ist Mopple!«
»Mopple?«, fragte Cordelia. »Im Schloss?« »Er frisst Blumen«, sagte Ritchfield.
Die Schafe sahen sich viel sagend an. Es gab keine Blumen im Winter. Jetzt war es heraus! Ritchfield phantasierte!
»Und Früchte«, sagte Sir Ritchfield. »Auf einem Tisch.«
»Und Sommergras, stimmt's?«, blökte Heide.
»Nein«, sagte Ritchfield. »Kein Sommergras. Aber ein Stück Stoff. Und Othello steht neben einem Wildschwein.« Ritchfield seufzte. Er war gerade dabei, die letzten Reste seiner Leitwidderglaubwürdigkeit einzubüßen, aber... wie die Luft roch! Wie ein Tag seiner Jugend, ein klarer, kalter, guter Tag____
»Was ist mit Rebecca?«, fragte Miss Maple.
»George ist im Schäferwagen!«, antwortete Sir Ritchfield gedankenverloren.
Von außen sah das Schloss größer aus als der Heuschuppen. Viel größer. Aber drinnen war es kleiner. Raum an Raum an Raum, und jeder von ihnen klein und lauernd. Es machte keinen Sinn. Warum so ein großes Ding, wenn man dann darin so wenig Platz hatte zwischen all den Winkeln und Wänden und Dingen?
Früher hatten die Schafe die Schlossinsassen manchmal ein wenig beneidet, um das gute Gefühl von Himmel-über-sich, das sich trotz des Daches in einem so hohen Gebäude einstellen musste. Jetzt wunderte sich Othello, warum die Schlossbewohner sie nicht vertrieben und selbst in den Heuschuppen zogen, wo man durch ein Fenster den Himmel sehen konnte und Schneeflocken atmen. Nicht, dass er sich so einfach treiben lassen würde. Und schon gar nicht hierher. Hier atmete man nur Staub und alte Luft, zu viel Wärme und ein bisschen Asche. Kein Wasser. Kein Gras. Warum an einem Ort bleiben, wo man kein Gras riechen konnte? Wände. Winkel. Öffnungen. Othello überlegte, was für Wesen die Menschen sein mussten, wenn sie sich hier wohl fühlten. Keine Weidetiere jedenfalls. Winkeltiere. Wesen der Löcher, Spalten und Ritzen. Mopple dachte weniger. Er versuchte, das Beste aus der Schlossgeschichte zu machen, und probierte alles, was halbwegs essbar aussah. Wer fraß, hatte keine Angst. Jedenfalls nicht so viel.
Sie waren Rebecca und dem Häher tief in den Bauch des Schlosses gefolgt, über rutschige Fliesen, hallende Steinböden und tiefe, samtige Teppiche, und die Dinge wurden immer seltsamer. Sommerwärme und Blumen und Früchte im Winter, kleine gefangene Feuer, die böse zischten, und jetzt eine Wand voller Menschengesichter. Die Gesichter hatten die Augen geschlossen und waren nicht echt.
»Kunst?«, fragte Rebecca zögerlich.
»Eher das Gegenteil«, sagte der Häher. »Natur. Freiheit. Das Ende der Zivilisation.«
»Also doch Kunst!«, sagte Rebecca.
»Keine von Menschen gemachte jedenfalls. Nicht wirklich. Das sind alles Totenmasken.«
Rebecca am anderen Ende des Raums trat nervös einen Schritt zurück.
»Totenmasken?«
»Wir sagen >Masken<, aber eigentlich sehen wir hier den Moment, wo alle Masken abgelegt wurden. Sehen Sie, wie schön die Gesichter sind, wenn erst die vielen Gedanken aus ihnen verschwunden sind? Als ob das Menschsein eine Krankheit war, und jetzt sind sie wieder gesund und ganz. Vollkommene Entspannung. Wenn ich mir überlege, wie ich ein Gesicht modellieren soll, komme ich oft hierher.«
»Sie sind schön«, sagte Rebecca leise. »Machen Sie das oft? Ganze Gesichter, meine ich?«
»Dann und wann«, sagte der Häher. »Es ist immer etwas sehr Besonderes. Ein neues Gesicht ist ein neues Leben. Hier entlang!«
Rebecca und der Häher gingen langsam weiter, aber Mopple und Othello blieben noch einen Moment lang vor der Wand mit den Gesichtern stehen.
»Er macht Gesichter«, sagte Othello. Es war fast mehr, als sich ein Schaf vorstellen konnte. »Ob er auch Mamas zweites Gesicht gemacht hat?«
Mopple hatte eine Bodenvase mit Blumen entdeckt und kaute ratlos.
Es war dunkel. Zu dunkel. Auf einmal war sich Maple sicher, dass sie nicht mehr im Heuschuppen war. Wind wehte. Es roch nach Tannen und mehr Schnee.
Maple blökte leise und unbehaglich.
Dunkel.
Schweigen.
Sie war allein.
Und dann konnte Maple auf einmal doch etwas sehen. Etwas sehr Helles kam aus dem Wald, durch den Weidezaun, als wäre sie gar nicht da, direkt auf Maple zu. Ein Leuchten. Ein Schaf. Es sah aus wie der ungeschorene Fremde, nur ohne Moos. Strahlend weiß und mondlichtbleich.
Maple wusste, dass es das Mondschaf war.
Sie hörte auf zu kauen - bisher hatte sie gekaut - und richtete sich auf. Dem Mondschaf begegnete man nicht alle Tage.
»Hallo!«, sagte das Mondschaf. Es war sehr groß.
Maple war erleichtert, dass das Mondschaf mit ihr sprach. Der fremde Widder hatte nicht mit ihr gesprochen, als sie ihn heute nach dem Garou gefragt hatte.
Seit das leuchtende Mondschaf neben ihr stand, konnte Maple wieder etwas sehen. Sie stand mitten auf der Weide, zwischen Schloss und Wald. Im Schloss brannten alle Lichter, und aus jedem Fenster blickte ein Mensch auf sie herab. Augen auf ihrem Fell, zu viele Augen. Maple sah schnell weg. Wo sonst der Schäferwagen stand, lag ein großer Stein auf der Weide, und der Heuschuppen war ganz verschwunden. Dafür war Yves wieder aus dem Schnee aufgetaucht und lag breit und unübersehbar unter der alten Eiche.
»Ein Opfer«, sagte das Mondschaf »Für Erkenntnis. Man sollte ihn nicht übersehen!«
Der Schrank neben der alten Eiche erwachte und klappte seine Türen auf und zu wie ein Insekt seine Kiefer.
Überall auf der Weide verstreut lagen Schafe, schlafende Schafe, jedes für sich, Ritchfield, Maude und Cloud, aber auch Lämmer und Schafe, die Miss Maple nicht kannte.
Maple wollte das Mondschaf fragen, was mit dem Heuschuppen passiert war, aber stattdessen fragte sie: »Was ist das?«
Erst im nächsten Moment verstand sie, was sie damit meinte. Die Geräusche. Das Knacken und Knirschen und Schleifen.
»Oh«, sagte das Mondschaf. »Das ist er.«
»Wer?«, fragte Miss Maple.
»Der Garouuuu!«, quietschte Mopple. Die letzte Blume fiel ihm halbzerkaut aus dem Maul.
»Das ist ein Nilpferd«, seufzte Othello.
»Und da hinten? Mit dem riesigen Maul?«
»Ein Krokodil.«
»Krokoko ...? Ist es gefährlich?«
»Sehr«, sagte Othello. »Es sitzt unter der Wasseroberfläche, dort, wo es so heiß ist, dass es keine Wolkenschafe gibt, und wenn du zur Tränke kommst, packt es deinen Kopf und zieht dich unter Wasser, bis du ertrinkst.«
»Wirklich?«, fragte Mopple, trat vorsichtig ein paar Schritte zurück und rempelte einen Wasserbüffel an. Der Wasserbüffel beschwerte sich nicht.
»Wirklich«, sagte Othello. »Zumindest haben das die Kamerunschafe im Zoo erzählt. Aber dieses hier ist nicht echt. Nichts ist hier echt. Und Wasser gibt es auch keins.«
»Das Gras hier ist rot«, sagte Mopple. »Und sehr kurz. Und es schmeckt nicht.«
»Das ist ein Teppich«, sagte Othello.
»Und es gibt keinen Himmel«, sagte Mopple und blickte nach oben. Das stimmte.
Maple sah nach oben, in den Himmel. Er kam ihr sehr leer vor ohne das Mondschaf.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich scheine«, sagte das Mondschaf. »Ich scheine zu sein.«
Maple verstand. Das Mondschaf schien, damit sie etwas sehen konnte. Etwas Bestimmtes. Das Wesen, das gerade aus dem Schrank getreten war, vielleicht. Das Wesen des Knackens, Knirschens und Schleifens. Maple konnte sehen, dass es zu viele Gesichter hatte - und zu viele Beine.
»Ist das...?«, fragte Maple.
Das Mondschaf nickte. »Eigentlich ist er hinter mir her. Aber er wird mich nie fangen. Ich bin zu hell und zu schnell.« Mit diesen Worten galoppierte es davon, aber sein Licht Maple war nicht hell und schnell.
Sie blickte hinüber zum Schrank, wo der Garou mit vielen Gesichtern schnüffelte.
blieb.
»Hey!«, flüsterte Mopple. Rebecca und der Häher hatten sich in einem der vielen Räume niedergelassen, saßen auf plüschigen Dingen und tranken übel vergorene Flüssigkeit. »Wie tragisch«, sagte Rebecca.
»Zach war der einzige Patient, der es nicht geschafft hat, von hier loszukommen, als die Klinik aufgelöst wurde«, sagte der Häher. »Seltsam. Aber er ist ein hervorragender Buchhalter.«
»Ich glaube, er ist sehr klug«, sagte Rebecca. »Irgendwie.«
»Sehr«, sagte der Häher. »Wenn er nur nicht die ganze Zeit in einem James-Bond-Film leben würde.«
»Hey!«, flüsterte Mopple wieder.
»Was?«, fragte Othello.
»Wasser!«, sagte Mopple, witterte und zog los.
Der Raum mit dem Wasser war noch kleiner als die meisten anderen und unangenehm dunkel, mit einem Boden glatt wie Eis und warm wie ein lebendiges Ding. Sie suchten zuerst am Boden und fanden das Wasser nicht. Schließlich entdeckte Mopple es doch, in einer tiefen weißen Schale, die aus der Wand wuchs.
Wasser! Die beiden Widder fühlten sich gleich besser.
Mopple hatte gerade seine Schnauze in die Schüssel gestreckt, um etwas von dem Wasser zu probieren, als es auf einmal viel heller war. Etwas bewegte sich in der Tür.
Mit mehr Glück als Verstand schafften es die Schafe rechtzeitig hinter einen komischen Plastikvorhang und sahen zu, wie der Häher in den Raum trat, sich an seiner Hose zu schaffen machte, etwas Rosiges hervorholte und... die Schafe trauten ihren Augen nicht. Wasser rauschte. Der Häher schnüffelte in die Luft und verzog das Gesicht. Dann griff er nach einer bunten Dose und sprühte Nebel in die Luft. Nebel, der roch, als hätte jemand eine Geruchswiese aus Plastik gebaut.
Mopple und Othello rümpften die Nasen.
Mit seinen vielen Beinen kam der Garou nicht besonders schnell vorwärts, aber einigermaßen schnell dann doch. Maple konnte weglaufen, aber die schlafenden Schafe um sie herum konnten es nicht. Sie musste sie aufwecken!
Maple blökte laut und alarmierend. Kein Schaf rührte sich.
Maple blökte noch lauter. Diesmal hob der Garou seine vielen Köpfe und lächelte sie mit vielen Zähnen an.
Plötzlich verschwand das Licht, als würde es jemand aufsaugen. Maple verstand, dass sie bald wieder im Dunkeln stehen würde und dass sie sofort etwas unternehmen musste. Sie galoppierte hinüber zu Cloud, die ihr am nächsten lag, und stupste sie mit der Nase und blökte und blökte.
Aber Cloud wollte nicht aufwachen.
Seit der Sache mit dem Wasser waren Othello und Mopple ausgesprochen schlecht auf den Häher zu sprechen. Er hätte überall hinpissen können, in jede der vielen überflüssigen Ecken des Schlosses, aber er pisste in die einzige Quelle, die sie bisher hier entdeckt hatten. Es war... krank vielleicht.
Der Häher sprach viel über Dinge. Über hölzerne Dinge mit Füßen, die nicht liefen, Steindinge, die auf den hölzernen Dingen standen, Stoffdinge an den Wänden und glitzernde Dinge, die von der Decke hingen. Alles schien fürchterlich alt zu sein, und Rebecca sagte »oh« und »ach«, und einmal gähnte sie verstohlen. Aber nicht verstohlen genug. Othello und Mopple, die hinter einem der schrecklich alten Holzdinge hervorlugten, sahen, wie der Häher einen Moment innehielt, wie um zu wittern.
Dann stieß er eine Tür auf, der er gerade noch den Rücken zugedreht hatte.
Der Raum hinter der Tür war wieder einmal kleiner, als den Schafen lieb war. Die Wände schienen mit glänzenden, hellen Stoffen bespannt, und in der Mitte stand wieder eines der alten Dinge mit Füßen.
»Wir kommen nun in den privatesten Teil des Schlosses«, sagte der Häher. »Hier auf diesem Kanapee hat meine Mutter meinen Vater und das Zimmermädchen in einer prekären Situation vorgefunden. Dort hinten auf dem Teppich, indische Seide, spätes 18. Jahrhundert, hat sie danach versucht, sich die Pulsadern zu öffnen. Mit einer Nagelschere, la pauvre. Meine Mutter war ein sehr unpraktischer Mensch. Natürlich wurde sie gerettet. Sogar der Teppich ist unversehrt. Das Zimmermädchen hingegen...«
Er drehte sich plötzlich zu Rebecca um, die ein bisschen blass in der Tür stand und zuhörte.
»Interessiert Sie das?«
Rebecca lächelte vorsichtig. »Na ja. Ja und nein. Das ist natürlich sehr privat. Aber...«
»Ja oder nein?«, fragte der Häher.
»Ja!«, sagte Rebecca, und die beiden lächelten.
Auf einmal hatte Othello das Gefühl, dass der Häher über all diese alten und vergangenen Dinge sprach, damit die Schäferin etwas anderes übersah. Etwas, das passierte.
»Was passiert?«, raunte Othello Mopple zu. »Was passiert?«
Mopple sah ihn zuerst überrascht an. Dann ließ er von dem doch etwas trockenen Vorhangstoff hinter sich ab und lauschte. Othello lauschte auch. Das Schloss schwieg, aber irgendwo klapperte Geschirr. Irgendwo sang eine Kinderstimme. Irgendwo stiegen Schritte eine Treppe hinauf. Stoppten. Stiegen weiter. Schritte hinter Mauern. Dann knallte eine Tür.
Die Tür knallte so laut, dass auch Rebecca sie hören konnte. Man konnte sehen, dass sie gar nicht wusste, dass sie etwas gehört hatte, aber ihr Gesicht drehte sich in die Richtung des Knalls.
»Was ist da hinten?«, fragte sie. »Der Turm«, sagte der Häher.
»Kann man sich den auch ansehen?«, fragte Rebecca. »Nein«, sagte der Häher ungewöhnlich kurz. Rebecca runzelte die Stirn.
»Es gibt auch gar nichts Interessantes zu sehen«, sagte der Häher. »Nichts als Käse.«
»Der Käse ist allerdings hervorragend. Erics Käse. Haben Sie den schon probiert? Das Klima ist gut für die Reifung. Wie eine Höhle.« Der Häher lachte leise. »Das hätte sich der alte Baron sicher nicht träumen lassen, dass sein Sohn einmal Käse herstellt. Aber nach den ganzen Problemen, die er hatte, kann er froh sein, dass er überhaupt wieder auf die Füße gefunden hat.«
»Probleme?«, fragte Rebecca.
»Drogen«, sagte der Häher. Er öffnete eine neue Tür und führte Rebecca weiter, weg vom Turmzimmer.
»Wo geht es dort hin?«, fragte Rebecca und zeigte auf eine Tür.
»Oh«, sagte der Häher. »Das ist die Dienstbotentreppe in den dritten Stock. Im dritten Stock waren früher die Patienten, und über diese Treppen konnte mein Vater sie heimlich beobachten.«
»Ungewöhnliche Methode«, sagte Rebecca.
Der Häher lachte bitter. »Das kann man wohl sagen! Mein Vater war besessen davon, die Natur des Wahnsinns zu erforschen. Wahrscheinlich hat er mehr gelernt, als ihm lieb war.«
Rebecca guckte neugierig auf die Dienstbotentür.
»Heute ist der dritte Stock verschlossen«, sagte der Häher bestimmt. »Dies hier ist übrigens der älteste Teil des Schlosses, frühes 16. Jahrhundert, bitte beachten Sie das wunderbare Eichenparkett.«
»Käse?«
»Was für ein seltsamer Spiegel«, sagte Rebecca.
»Ja«, sagte der Häher langsam. »Das ist wirklich ein seltsamer Spiegel. Mein Vater hat ihn von einer seiner Reisen aus dem Osten mitgebracht, und zwanzig Jahre später hat er sich davor erschossen. Mit einer Silberkugel. Sie können sich den Klatsch sicher vorstellen. Einige sagten, für eine Goldkugel hätte es nicht mehr gereicht. Andere sagten ... etwas anderes.«
Maple stand wieder im Dunkeln, aber sie konnte Clouds duftende Wolligkeit noch unter den Nüstern spüren. Cloud, die sie vor dem Garou retten musste. Cloud, die nicht aufwachen wollte.
In ihrer Verzweiflung kickte Miss Maple Cloud kräftig in den Bauch.
Cloud blökte panisch. Durcheinander und Knüffe. Plötzlich blökten überall Schafe.
Maple war so erleichtert, dass ihre Herde wieder wach war.
»Sie hat mich in den Bauch gekickt!«, blökte Cloud aufgebracht. »Im Schlaf. Warum hat sie mich in den Bauch gekickt?«
»Warum hast du sie in den Bauch gekickt?«, fragte Ritchfield streng. »Kein Schaf...«
»Ich musste sie warnen!«, blökte Maple glücklich. »Ich muss euch alle warnen. Ich glaube, wir sollten uns von dem Mondschaf fernhalten, aber Yves hat doch etwas zu bedeuten, und der Garou ...«
Dann verstummte sie. Sie verstand, dass ihr das Mondschaf drüben begegnet war, auf der Weide des Schlafs, und sie verstand auch, warum: ihre Herde durfte nicht schlafen, wenn der Garou kam. Sie musste ihnen endlich die Geschichte erzählen, die sie letzte Nacht am Schäferwagen belauscht hatte. Die Geschichte von der anderen Schafherde. Der toten Herde im Schnee. Jetzt! Sofort!
Es würde nicht einfach sein.
Und Cloud in den Bauch zu kicken war ein denkbar schlechter Start gewesen.
Mopple sah Othello an. »Was ist ein Spiegel?« »Ich weiß nicht«, sagte Othello.
Othello wollte es wissen. Er glitt aus dem sicheren Schatten des alten Holzdings über schweigsame Teppiche bis zur Tür und spähte in den Raum. Drinnen standen der Häher und zwei Rebeccas. Othello vergaß vor Überraschung, sich zu verstecken, und stand nur einfach staunend mitten in der Tür. Zwei Schäferinnen! War das gut oder schlecht? Othello sah doppelte Mengen Heu und Kraftfutter, aber auch doppelte Wachsamkeit und doppelten Ärger über angefressene T-Shirts. Würden zwei Rebeccas zwei Tierärzte rufen? Würden sie gleichzeitig aus verschiedenen Büchern vorlesen?
»Mit einer Silberkugel?«, hauchten die beiden Rebeccas mit einer Stimme.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht schockiert«, sagte der Häher.
Die beiden Rebeccas zuckten mit den Achseln. »Meinen Vater haben sie auf einer Schafweide gefunden. Mit einem Spaten in der Brust. Sie können es einem wirklich schwer machen.«
Der Häher nickte ernst. Dann lächelte er auf einmal. Ein echtes Lächeln. Das erste echte Ding, das Othello je an dem Häher gesehen hatte.
Eine der Rebeccas sah ihn an und lächelte zurück.
»Diner?«, fragte der Häher. Etwas in seiner Stimme war geschmolzen.
Die Rebeccas nickten.
Der Häher ging voran, zu einer Tür auf der anderen Seite des Raumes. Die Rebeccas nutzten den unbeobachteten Augenblick, um sich kritisch zu mustern. Sie zupften an ihren Haaren herum, strichen sich über die Augenbrauen und machten die roten Lippen spitz.
Dann hob eine der beiden Rebeccas den Blick und sah Othello. Othello tauchte unter ein hängendes Stoffding.
»Was ist?«, fragte der Häher.
»Ein... ein Schaf! Ich glaube ... nein... ich habe gerade ein Schaf gesehen! Eines von meinen Schafen! Hier in der Tür.«
»Du liest zu viele Kindergeschichten, Rebecca«, sagte der Häher.
»Ich ... es war so klar! Ich bin mir so sicher! Ich geh zurück! Ich muss sie zählen! Meine Güte, ich habe sie seit gestern früh nicht mehr gezählt!«
Schnelle Schritte näherten sich Othellos Vorhang.
»Unmöglich«, sagte der Häher. »Rebecca, wie sollte denn hier ein Schaf herkommen? Dies ist ein alter Ort. Ein Ort mit Geschichte - kein Wunder, dass du Dinge siehst. Feinfühlige Menschen sehen hier Dinge.«
Die Schritte verstummten.
»Aber Schafe?«, fragte Rebecca zweifelnd. »Es war so echt! Ich habe so etwas noch nie erlebt.«
Die Schritte waren wieder zu hören, aber diesmal wurden sie leiser.
»Was für eine Geschichte?«, fragte Rebecca. Der Häher seufzte. »Eine lange Geschichte.« Aber er erzählte sie nicht.
Othello spähte vorsichtig wieder aus seinem Versteck hervor und sah Mopple, der sich ebenfalls hinter dem dicken Holzding hervorgewagt hatte und nun rund, weiß und gut sichtbar mitten im Raum stand und versuchte, etwas von einem Stoffding abzubeißen. Es lag auf einem Holzding, und daraufstand ein Steinding. Das Stoffding war zäh, und Mopple zerrte. Je mehr Mopple zerrte, desto näher wanderte das Steinding an den Rand des Holzdings.
Othello galoppierte los, über lautlose Teppiche.
Mopple sah Othello kommen und versuchte, mit einem letzten energischen Ruck doch noch ein Stück von dem Stoffding abzubeißen. Das Steinding sprang vom Holzding und zerschellte mit viel Lärm auf dem Steinboden - dem einzigen Stück Steinboden weit und breit. Das Stoffding sprang hinterher und wickelte sich rachsüchtig um Mopple the Whale.
Mopple wand sich und schnaubte und kickte, bis er den Stoff wieder abgeschüttelt hatte. In der Tür zum Nebenraum tauchte der Kopf des Hähers auf. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich von blankem Unglauben zu so etwas wie Ärger - er war ganz offensichtlich nicht erfreut darüber, zwei Schafe und ein kaputtes Steinding zu sehen.
Mopple und Othello blickten ertappt zurück.
»Was ist?«, fragte Rebecca.
»Nichts«, sagte der Häher. »Nur der Wind...«
Mehr hörten Othello und Mopple nicht. Sie rannten, über Stein und Holz und Samt und Seide, vorbei an vielen alten Dingen - wie der Wind.
Als die erste Empörung verraucht war, schmiegte sich die Herde dicht um Maple herum.
»Du hast alles geträumt«, blökte Cloud. »Kein Wunder, dass du Angst hattest!«
Die anderen summten beruhigend.
Maple schwieg. Hatte sie wirklich alles geträumt? Das Mondschaf - sicher. Das Mondschaf kam nie vom Himmel herab. Aber der Garou? Und die tote Schafherde, von der Hortense erzählt hatte? Maple hätte diese Schafherde so gerne geträumt.
Aber das Mondschaf hatte ausgesehen wie der ungeschorene Fremde. Und der Ungeschorene war echt. Jeder konnte ihn sehen. Der Ungeschorene unterhielt sich mit Schafen. Aube und Tourbe und Päquerette. Schafen, die nicht mehr da waren. Wo waren diese Schafe?
»Was ist mit dem fremden Widder?«, fragte Miss Maple. »Was ist mit seinen Schafen? Wo sind sie?«
»Er spinnt!«, blökte Ramses. »Er ist zu lange allein gewesen, und jetzt spinnt er!«
Die anderen blökten zustimmend.
»Und warum?«, fragte Miss Maple. »Warum ist ein Schaf allein? Was muss passieren, damit ein Schaf alleine ist?« Etwas Schreckliches, so viel war klar.
»Ihr müsst mir glauben!«, blökte Maple aufgebracht. »Ihr müsst mir glauben, ob ihr wollt oder nicht!«
»Natürlich wollen wir!«, sagte Cloud ernst.
Dann begannen die Schafe, sich zu fürchten, erst alle zusammen, dann jedes für sich.
Mopple und Othello standen wieder zwischen dem Krokodil und dem Wildschwein.
Und nur wenige Schritte entfernt bewegte sich die Fronsac und machte sich mit einem Federwedel an dem Nilpferd zu schaffen. Die beiden Widder atmeten flach und versuchten, wie die anderen Tiere hier auszusehen. Unbeweglich. Glasäugig. Dingsartig.
Während die Fronsac wedelte und Staub um das Nilpferd tanzte, wand sich ein schreckliches Gefühl in Othellos Hörner. Das Gefühl, dass die Tiere doch echt waren - nur tot. Das Einzige, was an ihnen falsch war, waren ihre Augen. Und dass sie hier waren. Warum? Warum wollte jemand tote Tiere in seinem Schloss? Was machten sie hier? Othello stellte sich den Häher vor, wie er durch die Reihen schritt und Gipsgesichter verteilte. Natur! Freiheit! Von wegen! Der Häher war nicht begeistert davon gewesen, dass zwei Schafe durch sein Schloss trabten und Stoffdinge probierten, so viel war klar. Trotzdem hatte er Rebecca nichts verraten. Warum nicht? Weil er nicht wollte, dass sie nach draußen ging und sie zählte. Rebecca sollte hierbleiben. Warum? Was passierte dort draußen, was Rebecca nicht sehen durfte?
Die Fronsac schien mit dem Nilpferd zufrieden zu sein. Sie öffnete eine Glastür - ein Wunder aus echter, schneeiger Luft umwehte die beiden Widder - und wedelte ihren Staub nach draußen.
Draußen war... draußen eben! Die Welt! Die richtige Welt mit lebenden Tieren. Sie wollten nach draußen!
In diesem Moment hörten sie wieder das Heulen, klar und einsam und kalt wie die Sterne. Die Fronsac ließ ihren Wedel fallen, faltete ihre Hände vor der Brust und murmelte etwas. Dann hob sie seufzend ihren Wedel wieder auf und begann, das Krokodil zu kitzeln. Das Krokodil mit seinen starren Glasaugen hielt still. Mit einer ungewöhnlichen Portion Kühnheit raste Mopple an der Fronsac vorbei, durch die Tür nach draußen. Die Fronsac bemerkte ihn nicht einmal, aber sie bemerkte den Luftzug, fröstelte, und vor Othellos Augen zog sie die Glastür wieder zu. Othello hätte fast vor Frustration der Antilope hinter ihm ins Gesicht gekeilt, aber in diesem Moment sah er etwas Unerwartetes. Zwei Füße. Menschenfuße. Hinter einem Vorhang. Zuerst dachte Othello, dass zu dieser seltsamen Herde eben auch ein toter Mensch gehörte, aber dann sah er, wie weiter oben eine Hand hinter dem Vorhang auftauchte und ihn etwas beiseiteschob. Ein Gesicht mit Sonnenbrille sah der Fronsac dabei zu, wie sie versuchte, auf Knien auch den Bauch des Krokodils zu kitzeln. Othello staunte.
Nach dem Krokodil war Othello dran, und anders als die anderen Tiere hatte er etwas dagegen. Othello nieste. Die Fronsac erstarrte. Sah nach links. Und nach rechts.
Othello wich vorsichtig ein Stück zur Seite.
Das Walross drehte sich wieder zu ihm um und war überrascht, dass ihr Federbüschel ins Leere wedelte. Dann rückte sie wieder näher.
Othello blökte empört.
Der Federwedel fiel zu Boden, und sein Stiel klapperte auf dem spiegelglatten Holz. Die Frau kreischte. Dann fasste sie sich und ging mit ausgebreiteten Armen auf Othello zu.
Othello zögerte einen Moment. Die Fronsac war ängstlich, und niemand traute ihr viel zu, aber sie war ein großer, kräftiger Mensch, breit und schwer und vermutlich auch stark. Der Boden war glatt. Die Dinge waren gegen ihn.
Othello rannte.
Die Fronsac watschelte hinterher.
Tief im Schnee war der Heuschuppen dunkel und duftig und besonders gemütlich. Es war so still, als wäre die Welt draußen verschwunden, das Schloss, die Ziegen und der Wald, und in dieser Nacht war das ein schöner Gedanke.
Sie hatten Fluchtpläne geschmiedet und verworfen, den Garou in Silberpapier gewickelt, waren zusammen in den Wald gezogen, um ungeschoren zu werden, und hatten sich alle gemeinsam in der Futterkammer versteckt. Alles hatte einen Haken. Manche Pläne, wie der mit dem großen Blätterrechen, hatten fast nur Haken.
Jetzt standen sie im Dunkeln und wussten nicht weiter.
Und dann war da wieder das Heulen. Die Schafe trabten zum Heuschuppeneingang und sahen unbehaglich in die Nacht hinaus.
»Glaubt ihr, das ist er?«, fragte Ramses.
»Ich weiß nicht«, sagte Maple. »Aber wir haben es gehört, bevor Rebecca das Reh am Waldrand gefunden hat. Und bevor wir das Reh im Wald gefunden haben, war es wieder da, in der Morgendämmerung. Erinnert ihr euch?«
Die anderen Schafe hatten das schreckliche Heulen glücklicherweise längst vergessen und schüttelten die Köpfe.
Und dann hörten sie noch ein anderes Geräusch, nicht so unheimlich, aber noch seltsamer, sehr fremd und sehr vertraut zugleich. Tess, die alte Schäferhündin, saß mitten auf der Weide, die Schnauze zu den Sternen emporgereckt, und auch sie heulte mit ihrer guten, vertrauten Schäferhundstimme. Tess und der Garou heulten zusammen! Tess, die sie ihr ganzes Leben gekannt hatten!
Und dann heulte Tess auf einmal nicht mehr, sondern winselte nur, und schließlich rollte sie sich unter den Schäferwagenstufen zusammen und roch kälter und kälter und immer weniger nach Tess. Die Schafe wussten, dass der Tod auf ihre Weide gekommen war, und zogen sich vorsichtig von der Heuschuppentür zurück.
Der Garou aber heulte noch immer, und er klang trauriger als zuvor.
Zora stand im Wald, ein wenig abseits von Maude, Heide und Madouc, und hörte dem Garou beim Heulen zu. Sie vermisste das Meer. Zora wollte ihrem Lamm das Meer zeigen. Es war wichtig für ein Schaf, das Meer zu sehen.
Es war ihre zweite Nacht fern von der Herde, und diesmal verbrachten sie sie unter den schützenden Zweigen einer großen Tanne. Selbst Madouc, die gestern in dem Bushäuschen geschlafen hatte wie ein Stein - ein schnarchender Stein -, war heute unruhig. Ihre Hufe scharrten Muster in die überzuckerten Tannennadeln unter ihren Füßen, und manchmal murmelte sie »Nein, nicht mich! Nimm sie! Nimm sie!«. Zora, Maude und Heide waren hellwach und starrten mit weiten Augen in die Dunkelheit.
Und dann hatte Zora einen verrückten Plan. Sie wusste sofort, dass er verrückt war - sie hatte einfach schon viel zu viel Zeit mit dieser Ziege verbracht! Aber es war ein Plan.
»Wir gehen los!«, blökte sie. »Sofort! Wir gehen dahin, wo das Heulen herkommt!«
»Weg!«, korrigierte Heide. »Von dem Heulen weg, meinst du!«
»Nein«, sagte Zora. »Versteht ihr nicht? Wir haben das Heulen von der Weide aus gehört! Das bedeutet, dass das Heulen nicht zu weit von der Weide weg ist! Wenn wir dem Heulen folgen, führt es uns vielleicht nach Hause!«
»Was ist, wenn er jetzt einfach woanders heult?«, fragte Heide.
»Es ist möglich«, gab Zora zu. »Aber ich glaube es nicht.«
Madouc mochte den Plan - natürlich! Es bestätigte Zoras schlimmste Befürchtungen.
Die anderen waren zu müde, um ernsthaft zu protestieren.
Sie verließen den Schutz der alten Tanne und gingen wieder los, Zora voran, die anderen hinterher.
Und als das Heulen verstummte, gingen sie weiter.
Othello galoppierte durch Räume und Räume und Räume, vorbei an Feuern und Fenstern, um Säulen herum und im Zick-Zack zwischen alten Dingen hindurch. Einmal sprang er über ein kleines steinernes Pferd.
Zuerst machte sich Othello keine allzu großen Sorgen - die Fronsac war alt und schwerfällig. Doch sie kannte das Schloss und folgte Othello mit überraschender Hartnäckigkeit und Flinkheit. Othellos Atem wurde schneller. Zu glatte Böden. Zu viele Winkel. Othello schlitterte in einen offenen Schrank, verhedderte sich und kam wieder frei, ein Stück Stoff am Horn. Rannte einen langen Gang mit vielen Türen entlang. Die Fronsac hinterher.
Die Türen waren zu, alle. Othello galoppierte um eine Ecke. Noch mehr geschlossene Türen und dann, auf einmal, eine offene Tür. Ohne nachzudenken, sprang Othello hindurch, und die Tür schloss sich hinter ihm. Othello fuhr herum. Da stand Zach mit seiner Sonnenbrille und lächelte ihn an. Draußen walzte die Fronsac vorbei. Zach öffnete zwei andere Türen, eine für sich, eine für Othello, nickte dem Widder zu und verschwand.
Othello trabte weiter, auf der Suche nach dem Himmel.
Er fand den Himmel nicht, aber er fand... ein Schaf. In einem der vielen Räume, in die Othello auf der Suche nach dem Himmel hineinwitterte, im Halbdunkel eines Türrahmens, stand stumm und drohend ein schwarzer Widder. Ein Rivale, der sein Revier verteidigte. Othellos Herz pochte. Von allen seltsamen Schlossdingen schien dieses einsame Schaf, das im Dunkeln jenseits der Tür lebte, das seltsamste und schrecklichste zu sein. Wie war es hierher gekommen? Was fraß es, und was trank es? Wo war seine Herde? Wer hatte es hier eingesperrt? Und warum stand es dort reglos im Türrahmen wie ein Fremder?
Othello schnaubte. Sein Gegenüber blieb stumm. Othello kam vorsichtig näher, und auch das fremde Schaf trat aus dem Schatten des Türrahmens heraus ins Licht, lautlos wie ein Geist.
Othello blieb vor Verblüffung stehen. Er kannte den Widder, kannte ihn seit langer Zeit. Es war das Schaf der windstillen Tage, das Schaf vom Grunde der Pfützen, Teiche und Wassertröge. Othello blökte fragend, verhalten. Das Schaf vom Grunde blieb stumm. Kein Wunder. Es war das schweigsamste Schaf, das er je kennen gelernt hatte, schweigsamer noch als das schweigsamste Schaf der Herde. Othello hatte immer gedacht, dieses Schaf würde zu ihm gehören wie sein Schatten. Er hatte nie damit gerechnet, ihm einmal von Angesicht zu Angesicht, von Horn zu Horn zu begegnen, und schon gar nicht hier, in der steinernen Welt der Menschen.
Der schwarze Widder bewegte den Kopf hin und her und sah, dass das Schaf vom Grunde in einer ovalen Form gefangen war. Es musste so etwas wie eine Pfütze sein. Eine klare, glatte Pfütze, die im Zimmer herumgekrochen war und nun wie eine Spinne an der Wand saß. Ein höchst unnatürliches Verhalten. Othello guckte genauer: auch in der harten Pfütze gab es ein Feuer. Es brannte so hell wie das andere Feuer hier im Raum, aber es war kalt. Kalt und stumm. Am Grunde der Pfützen gab es Licht, aber keine Wärme. Das war etwas, was man über das Schaf vom Grunde wissen musste.
Ein Windhauch fuhr durch samtene Vorhänge. Der schwere Stoff schleifte über den Steinboden wie Katzenpfoten, sanft und beiläufig, aber mit einer Ahnung verborgener Krallen. Das Geräusch beunruhigte Othello. Er blickte zu den Fenstern hinüber. Die Vorhänge blähten sich spöttisch und schweigsam, ihre Krallen waren wieder verschwunden. Als Othello aufsah, war das Schaf vom Grunde nicht mehr allein. Ein kleiner weißer Geist war hinter ihm aufgetaucht.
Othello drehte sich um und hoffte, dass das Schaf vom Grunde das Gleiche tun würde. Er wollte seine Augen nicht im Nacken haben, wenn er sich dem Geist zuwandte.
Der Geist war wirklich sehr klein, etwa so hoch wie Othello, roch jung und lebendig, hatte sich ein weißes Stofflaken über den Kopf gestülpt und hielt ein graues Stofftier im Arm.
»Das ist ein Elefant«, dachte Othello, aber natürlich war es nicht wirklich ein Elefant.
Der kleine Geist raffte sein weißes Laken vom Boden, tappte barfüßig näher und begann zu sprechen.
Othello verstand nicht viel von dem, was der kleine Geist quakte. Aber ein bisschen verstand er dann doch. Dass der Stoffelefant Earl Grey hieß. Und dass der kleine Geist ihn sehr mochte. Es war wirklich schwer zu verstehen, Geist und Mensch und Stoff und Schaf, aber Othello verstand.
Der kleine Geist winkte Othello, dann begann er, ihm Türen zu öffnen. Die Tür zum Nebenzimmer, die Tür zu einem langen Gang, in dem es viel frischer roch und von dem viele Türen abgingen. An einer dieser Türen klebte die Plin. Sie hatte ihr Ohr gegen das Holz gepresst, und ihr Gesicht war ganz still, still wie die Gesichter, die der Häher machte. Aber ihre Hände krallten sich in den Stoff ihres Rockes, die Knöchel weiß. Zum ersten Mal sah Othello, dass auch die Plin rote Fingernägel hatte, genau wie Mama.
»Ich bin der Schlossbesitzer«, sagte eine Stimme hinter der Tür. »Sie sind die schöne Schäferin. Wie könnte ich mich da nicht in Sie verlieben? Meine Leute erwarten das.«
»Wenn Sie immer das tun, was Ihre Leute erwarten, werden Sie bald bei Vollmond mordend durch die Wälder ziehen. Das erwarten Ihre Leute«, sagte Rebecca.
Der kleine Geist wich einen Schritt zurück, damit die Plin ihn nicht entdeckte, öffnete eine andere Tür und dann noch eine, eine wichtige. Die Tür zum Himmel.
Bevor Othello hindurchschlüpfte, witterte er noch einmal ins Schloss. Es roch nach Dingen, Fisch und Kerzenschein.
Othello trat nach draußen, in die klare Kälte der Nacht, und ließ es zu, dass ihm kleine Geisterfinger scheu durch die Wolle strichen. Es fühlte sich seltsam an.