7

 

Die Sonne stand hoch am Himmel, der Schnee glitzerte, und die Schafe warfen kurze, dicke Schatten - vor allem Mopple the Whale. Das angekündigte Schwein hatte sich bisher nicht blicken lassen, und auch vom Tierarzt war nichts zu sehen.

Sie waren überrascht, wie friedlich ihnen ihre Weide nach der lauernden Stille des Waldes vorkam - selbst wenn noch immer irgendwo der Garou herumschlich. Selbst wenn Rebecca drinnen im Schäferwagen kreischte. Sogar die Ziegen schienen vernünftiger und das Wintergras weniger fade. Sie wünschten sich nur, Rebecca würde das Schäferwagenfenster schließen oder endlich ein bisschen Ruhe geben.

»Krank!«, schimpfte Rebecca. »Das ist doch vollkommen krank! Was soll das denn? Was soll das? Kann mir bitte jemand sagen, was das soll?«

Dann stand sie auf den Stufen des Schäferwagens, mit rotem Gesicht und etwas, das aussah wie ein Haufen roter Fetzen, in den Händen. Sie öffnete die Hände, und Rot regnete herab.

»Da!«

Rebecca starrte mit tränenglitzernden Augen auf die Fetzen im Schnee. Es sah beunruhigend so aus wie das, was der Garou mit dem Reh angestellt hatte.

Mama steckte hinter Rebecca ihren Kopf aus der Schäferwagentür, seltsame bunte Röllchen im Haar.

»Aber ich sage dir doch, ich war es nicht! Warum sollte denn ich... Denk doch mal nach! Zum Teufel, ich war doch gar nicht da!«

»Wer soll es denn sonst gewesen sein?«, fauchte Rebecca.

»Das...«, sagte Mama und zündete sich eine Zigarette an, »... das ist die Frage.«

Sie zeigte mit der rauchenden Zigarettenhand in den Schnee. »Heb das auf, Kind. Das sieht vielleicht aus wie ein Haufen Lumpen, aber es sind Beweise. Und ob es das richtige Futter für deine Schafe ist, weiß ich auch nicht.«

Die Schafe sahen böse zu ihr herüber. Futterfragen sollte die alte Frau gefälligst ihnen überlassen. Mopple hatte gerade den ersten Stofffetzen zwischen den Zähnen, und abgesehen von der Textur, die vielleicht ein bisschen zäh war, kam er ihm ganz vielversprechend vor.

»Oh, shit!«, sagte Rebecca und hopste mit weiten Scheuchbewegungen von den Schäferwagenstufen. Mopple entkam mit einem zweiten Stoffstück im Maul, und die Schäferin machte sich daran, das Rot wieder aus dem Schnee zu lesen.

Draußen am Weidezaun stapfte der Gärtner vorbei und sah neugierig zu ihnen herüber. Und als er das viele Rot sah, sah er wieder weg.

»Da!« Wieder zeigte die rauchende Zigarettenhand, diesmal hinüber zu Schloss, Hof und Stallungen. »Dort musst du suchen. Ich wette meine Chaneltasche darauf, dass es einer von denen war!«

»Wer?«, murmelte Rebecca. »Warum denn bloß? Und wann? Wann warst du denn weg?«

»Eigentlich... lass mich nachdenken.« Mama saugte an ihrer Zigarette. »Ich bin um acht aufgestanden, dann Kaffee, dann haben zwei Kunden angerufen, bis ich mit denen fertig war... dann Frühstück. Ich würde sagen, ich bin um neun aus dem Haus, na ja, Haus, und zurück war ich kurz vor dir, gegen zwölf.«

»Drei Stunden!« Rebecca blickte überrascht von den roten Fetzen auf. Mama bewegte sich selten aus dem Schäferwagen, und drei Stunden waren ein neuer Rekord.

»Was hast du denn drei Stunden da draußen gemacht?«

»Ich war im Gästehaus des Schlosses, duschen«, murmelte Mama und hüllte sich in Rauch.

»Drei Stunden?«

»Erst war das Wasser eiskalt. Wieder mal. Einer dieser beiden komischen Wintergäste muss duschen wie verrückt. Also habe ich gewartet, bis es wieder warm war. Und dann hat es sich so ergeben ...« Mama drehte verlegen die Zigarette in ihren Händen.

Rebecca hatte ihre roten Fetzen wieder alle aus dem Schnee gepflückt und richtete sich auf.

»Du hast... gearbeitet?« Sie hielt Mama das rote Bündel hin, aber Mama hatte noch immer die Zigarette in der Hand und wedelte den Stoffsalat von sich weg.

»Man hat mich gefragt, na und? Warum nicht? Sieh es als Nachbarschaftshilfe.«

»Ich hatte dir doch ganz klar...«

Der rote Haufen landete auf der obersten Schäferwagenstufe.

»Ich muss arbeiten, Kind. Wenn ich nicht arbeite, bin ich nicht glücklich!«

Die Schafe wussten, was Mama arbeitete: Humbug. Tag für Tag, nichts als Humbug. Und Rebecca hatte eine Regel aufgestellt, so unumstößlich wie die Regel von der täglichen Zaunkontrolle. Humbug wurde nur im Schäferwagen produziert. Am Telefon. Sonst nirgends. Schon gar nicht irgendwo, wo andere Leute etwas davon mitbekamen. Die Schafe hätten gerne ab und zu ein bisschen Humbug gesehen, aber in dieser Sache war mit Rebecca nicht zu spaßen.

»Na großartig!«

»Stell dich nicht so an, Reba!«, sagte Mama und schnippte die Zigarette in den Schnee.

Rebecca explodierte, so wie die grau geströmte Hofkatze manchmal explodierte. In einem Augenblick schlich sie friedlich nach Katzenart am Zaun entlang, Nager und Wintervögel im Sinn, im nächsten schnellte sie fauchend in die Luft, in alle Richtungen gleichzeitig, mit aufgestellten Haaren, Funkelaugen und Katzenbuckel. Abgesehen vom Katzenbuckel sah ihr Rebecca in diesem Moment ziemlich ähnlich.

»Und ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass du nicht einfach deine Kippen auf die Weide ... Was glaubst du, wenn ein Schaf das frisst? Das geht ein!«

Jetzt war es an der Zeit, Rebecca böse anzugucken. Niemand hätte je einen dieser stinkenden Stummel angerührt. Für wie dumm hielt die Schäferin sie eigentlich? Mopple, dem das zweite Stoffstück nun doch etwas schwer im Magen lag, rülpste vorwurfsvoll.

Rebecca schnappte den Zigarettenstummel vom Boden und schleuderte ihn in den Schäferwagen. Dann sackte sie auf die Stufen.

»Es ist einfach ein bisschen viel«, murmelte sie. »Ein bisschen viel... Erst Weihnachten, dann das Reh und dann Cloud, und jetzt diese Schweinerei hier« - sie hob eine Hand voll Fetzen von den Schäferwagenstufen und ließ sie zurück auf den Haufen rieseln - »und du rennst herum und legst den Leuten die Karten. Weißt du überhaupt, was das hier für Leute sind? Ich weiß es nämlich nicht! Ich werde aus ihnen nicht schlau, kein bisschen! Zuerst laden sie mich ein, und dann kommt es mir die ganze Zeit so vor, als ob sie etwas gegen mich hätten. Oder gegen die Schafe! Du hättest sehen sollen, wie sie geguckt haben, als ich die Schafe ausgeladen habe ... Paul der Ziegenhirt zündet jeden Abend am Waldrand ein Licht an, Gott weiß, warum. Am Ende verbrennen die dich noch als Hexe ...«

»Sei nicht albern, Kind!« Mama ließ sich neben Rebecca auf den Schäferwagenstufen nieder, erstaunlich geschickt. »Die Leute sind überall nur Leute. Es ist dir einfach peinlich, das ist alles.«

»Und warum auch nicht! Meine Mutter: Sanilla die Seherin! Die Frau mit dem zweiten Gesicht! Karriere, Finanzen, Partnerschaft und Lebensglück! Lebensglück, pah! Du läufst herum und erzählst den Leuten diesen Humbug, und ich muss es ausbaden. Immer muss ich es ausbaden ...«

Die Schafe rückten gespannt näher. Vor dem Schäferwagen tat sich etwas. Einer von Rebeccas Zäunen wankte, und vielleicht würde bald etwas zum Vorschein kommen. Möglicherweise der Humbug selbst, vielleicht nur das zweite Gesicht. Auf Mamas zweites Gesicht waren die Schafe schon gespannt. Doch erst einmal kam nur Tess zum Vorschein, trottete in gemächlicher Althundeart aus dem Schäferwagen und begann, Rebecca die Hände zu lecken.

»Was ist mit ihr?«, fragte Rebecca. »War sie da, als das passiert ist? Schöner Wachhund!«

Tess wedelte geschmeichelt.

»Ich habe sie bei der Fronsac gelassen«, sagte Mama. »Das alte Mädchen ist nicht gern allein.« »Ich will hier weg!«, sagte Rebecca.

Mama tätschelte ihr mit einer knochigen Hand den Rücken.

»Ach was!«, sagte sie.

Rebecca schwieg, Mama tätschelte, und Tess wedelte. Drei Krähen flogen mit entschlossenen Mienen über die Weide Richtung Wald.

Auf einmal hatte sich Rebecca wieder aufgerichtet.

»Wer denn?«, fragte sie. »Wem hast du die Karten gelegt?«

Mama grinste. »Nun wird es interessant, nicht wahr? Wen würdest du erwarten? Das Walross vielleicht oder die hübsche kleine Hortense. Das sind die typischen Kunden, hätte ich gedacht, oder höchstens noch Yves, dieser Tölpel. Wer fragt mich? Mademoiselle Plin! Die strenge Dame mit den strengen Haaren!«

»Die Schlange!«, murmelte Rebecca.

Das Weidetor ging auf, und die Schafe rückten ein bisschen vom Schäferwagen ab, um Abstand von der Besucherin zu halten. Hortense blieb einige Schritte vor dem Schäferwagen stehen und machte eine respektvolle Bewegung, fast einen Knicks.

»Bonjour, Madame. Ich habe gehört... können Sie auch mir die Karten legen. Mir und... Eric?«

Mama lehnte sich etwas zurück und zückte ein kleines schwarzes Buch.

»Warum nicht. Wollen wir mal sehen: heute habe ich schon drei Termine, aber morgen Vormittag... Sie um zehn und der Herr Eric um halb elf, ja?«

Hortense nickte, hauchte »Salut, Becca« und war schon wieder auf dem Rückweg, die Wangen rosig, Veilchenduft in den Haaren. Wo sie mitten im Winter die ganzen Veilchen herbekam, hätte die Schafe schon interessiert.

»Du hast... Termine«, ächzte Rebecca. »Drei!«

»Fünf«, korrigierte Mama.

»Ich will hier weg!«, sagt Rebecca.

Mama ließ das kleine schwarze Buch wieder in den Weiten ihres Mantels verschwinden und setzte sich auf. »Bist du verrückt? Endlich passiert hier etwas! Heute ist der erste Tag, an dem ich nicht weg will! Ich sage dir, Kind, hier gibt es eine ungewöhnlich große Nachfrage nach ... Glück. Nach Rat. Nach Licht im Dunkeln!«

Mama stand auf und breitete fledermausartig die Arme aus. »Reba, ich glaube dir, dass etwas nicht stimmt. Und nicht wegen der Polizei, sondern weil hier ein so großer Bedarf an... an... an Schicksal besteht. Und weißt du, worauf das hindeutet?«

Mama machte eine dramatische Pause. »Auf etwas Übernatürliches!« Rebecca stöhnte.

Die Schafe schwiegen beeindruckt. Übernatürlich! Noch natürlicher als natürlich! Gras war natürlich, Kraftfutter nicht ganz so natürlich, und Plastik war gar nicht natürlich und fast ungenießbar. Etwas Übernatürliches hingegen musste eine wahre Delikatesse sein!

Mama faltete ihre Fledermausarme wieder zusammen und packte Rebecca am Kinn. »Nun lass dich nicht hängen, Kind. Wir werden herausfinden, was es ist. Und wer das da war...«, sie stach mit einem knochigen Finger Richtung roter Haufen, »...das finden wir auch heraus! Was glaubst du, was dir Leute so alles erzählen während einer Seance! Lass mich nur... Wir dürfen nur nicht alles mit uns machen lassen, wie ... wie Schafe!«

Wie Schafe!

Das saß!

Maude und Heide begannen beleidigt zu blöken, Mopple guckte schuldbewusst, und Ritchfield schüttelte den Kopf und murmelte »das ist kein Schaf!«.

»Ritchfield hat Recht«, sagte Zora auf einmal. »Wir müssen ihnen ein Vorbild sein!«

Zuerst kauten die anderen nur, aber dann verstanden sie auch. Von sich aus unternahmen Menschen selten etwas. Sie lebten in den Tag hinein und gingen ihren kleinen Menschengeschäften nach. Wenn wirklich etwas Wichtiges passieren sollte, Kraftfutter oder Apfelernte oder Schluss mit dem Wanderleben, mussten die Schafe die Initiative ergreifen.

»Ich könnte wieder eine Karte fressen!«, sagte Mopple hilfsbereit.

Aber welche Karte? Die Schafe wussten es nicht. Sie beschlossen, dass Mopple probehalber jede Karte fressen sollte, die ihm vor die Nase kam. In der Zwischenzeit konnte man grasen oder ein bisschen blöken oder kopfschüttelnd die Ziegen beobachten oder...

»...oder wir finden den Garou!«, blökte Ramses auf einmal.

Die anderen sahen ihn entgeistert an.

»Ich meine...«, stammelte Ramses, »vielleicht ist er ja gar nicht so ... und wir können ihn ... oder vielleicht auch nicht...«

Ramses scharrte verlegen im Schnee, die anderen verdrehten die Augen, aber Miss Maple sah auf einmal hellwach aus.

»Er hat Recht!«, sagte sie. »Wir müssen herausfinden, in wem der Wolf steckt!«

»Warum?«, blökte Heide.

»Warum?«, blökten die anderen im Chor.

»Damit wir in die richtige Richtung weglaufen«, sagte Miss Maple. »Wenn wir nicht wissen, wo er ist, wie sollen wir dann wissen, wo weg ist?«

»Wenn wir ihn sehen, können wir noch immer weglaufen«, sagte Lane und drehte ihren eleganten Hals. Lane war das schnellste Schaf der Herde.

»Vielleicht«, sagte Maple. »Das Reh konnte es nicht.«

Das stimmte. Rehe waren so langbeinig, dass selbst der Wald sie nicht irreführen konnte, und trotzdem...

»Er hat es überrascht«, flüsterte Lane. »Er muss es überrascht haben!«

Nicht alle Schafe waren sich sicher, ob sie wirklich an den Garou glaubten, aber selbst diejenigen, die nicht an ihn glaubten, wollten auf einmal sehr gerne vor ihm davonlaufen. Am besten gleich.

»Aber nicht durch den Wald!«, sagte Cloud.

Die anderen nickten. Der Wald knackste und raschelte, er führte sie im Kreis und verspottete sie. Nah war fern, und fern war nah, gerade war gebogen, auf war ab, und Gras gab es auch keines.

»Wie sonst?«, fragte Maude und sog tief die Luft ein. »Hier ist überall Wald. Ringsherum.«

»So wie wir gekommen sind!«, sagte das Winterlamm mit funkelnden Augen. »Mit dem Auto!«

Die anderen blökten protestierend. Das Auto war kein besonders beliebtes Transportmittel. Es dröhnte und schlingerte, hopste und stank. Es war eng und dunkel und Furcht einflößend. Aber es konnte sie schnell und geschützt durch den Wald bringen, weg vom Garou. Insgeheim dachten die meisten Schafe, dass Autos ein bisschen wie Hunde waren: laut und großspurig, aber wenn man einmal seinen ganzen Mut zusammennahm und nicht vor ihnen weglief, stellte sich heraus, dass das Meiste davon nur Wichtigtuerei war.

Hoffentlich.

 

Kurze Zeit später stand wieder eine kleine Schafsexpedition vor der losen Latte im Ziegenzaun. Maude, Zora und Heide sollten das extragroße Auto finden, das die Schafe hierher gebracht hatte.

Maude sollte es wittern.

Zora sollte ihm die Stirn bieten.

Und Heide sollte es überreden, sie wieder von hier wegzubringen.

Miss Maple sah ihnen zufrieden nach.

»Und wir suchen inzwischen den Garou!«, sagte sie.

Die Schafe machten lange Gesichter.

Suchen - na gut!

Finden wollte den Garou keines von ihnen.

Ramses suchte den Garou zwischen den Ginsterbüschen.

Cordelia suchte ihn beim Schäferwagen.

Cloud suchte ihn unter dem Schäferwagen.

Die Schäferwagentür ging auf, und Rebecca stapfte entschlossen Richtung Schloss. Die Schafe hörten auf zu suchen und sahen ihr nach.

Dann ging es weiter.

Lane suchte am Ziegenzaun.

Othello suchte im Heuschuppen.

Ritchfield diskutierte mit dem Futtertrog.

Das Winterlamm suchte zwischen alter Eiche und Schrank.

Und Mopple suchte überhaupt nicht. Mopple kaute.

Maple trabte hinüber zu dem dicken Widder und räusperte sich.

Mopple schluckte. »Und?«, fragte Maple.

»Nichts!«, sagte Mopple und starrte angestrengt auf einige Halme Wintergras, die aus dem Schnee äugten. »Hier ist er nicht!«

»Natürlich nicht!«, sagte Maple. »Wir sollten zuerst die schwarze Ziege finden.« »Madouc?«

Maple drehte den Kopf. »Woher weißt du, dass sie Madouc heißt?«

»Sie sagt, dass sie Madouc heißt«, sagte Mopple. »Zumindest manchmal.«

Maple dachte weiter.

»Die schwarze Ziege ist so etwas wie eine Spur, glaube ich. Niemand hat je den Garou gesehen, und trotzdem weiß sie so viel über ihn. Woher? Wenn sie nichts gesehen hat, dann hat sie etwas gehört! Aber von wem? Ist es nicht seltsam, woher sie das alles weiß?«

»Von den anderen Ziegen vielleicht?«, schlug Mopple vor.

»Vielleicht«, sagte Maple. »Und vielleicht auch nicht.«

 

Miss Maple ließ die anderen stehen und trabte los, hin zum Ziegenzaun, direkt auf eine dösende Ziege zu. Eine sehr zerzauste Ziege. Sie mussten mehr wissen, bevor sie sich auf die Suche nach dem Garou machten!

»Entschuldigung«, sagte Maple zu der Ziege am Zaun - nicht zu forsch und nicht zu höflich.

Die Ziege öffnete die Augen.

»Ja bitte?«

Ihr Fell war braun, aber ihre Augen waren grau und fern wie die eines Fisches.

»Ich suche eine Ziege«, sagte Maple. Die Sache lief besser, als sie erwartet hatte.

»Ich würde sagen, du hast eine gefunden.«

»Eine kleine Ziege.«

Die Ziege legte den Kopf schräg.

»Es gibt keine kleinen Ziegen!«

»Eine kleine schwarze Ziege.«

Der Kopf drehte sich weiter und weiter. Es gefiel Maple nicht, wie weit die Ziege den Kopf drehen konnte. Wie ein Vogel!

Plötzlich war der Kopf der Ziege wieder gerade und gefährlich nah. Wie zerzaust sie war!

»Es gibt hier keine schwarzen Ziegen«, zischte sie. »Keine einzige! Schwarze Fliegen. Schwarze Intrigen. Das ja.«

Die Braune stank. Wie ein Frettchen. Wie ein Aasfresser. Wie ... wie eine Ziege eben.

Maple wich einen Schritt vom Zaun zurück und spähte Richtung Ziegenweide: Eine Fuchsrote, eine weiß-braun Gescheckte, eine weiß-schwarz Gescheckte, eine Weiße mit einem schwarzen Ohr, zwei Graue und noch zwei Braune auf dem Sofa... aber keine Schwarze.

»Sie war mit uns im Wald«, sagte Maple. »Sie ist dem Garou auf der Spur! Macht ihr euch denn gar keine Sorgen um sie?«

»Garou?«, fragte die Braune. »Kein solches Ding im Wald. Nur Räume und Bäume und Träume. Dazwischen ist nichts. Kein Grund zur Sorge.«

»Jeder kann in den Wald gehen«, sagte Maple. »Also kann jeder im Wald sein.«

»Was es nicht gibt, gibt es auch nicht im Wald«, sagte die Ziege. »Kleine Ziegen, zum Beispiel. Daran ändert auch der Wald nichts. Alle Ziegen sind größer, als sie aussehen.« Die Ziege machte ein Gesicht, als hätte sie gerade etwas sehr Wichtiges gesagt. Dann trottete sie davon, ohne Maple eines weiteren Blickes zu würdigen.

Maple seufzte und begann, nach einer anderen, möglichst vernünftigen Ziege Ausschau zu halten. Da hinten graste die Weiße mit dem schwarzen Ohr - Megära Shub-Niggurath -, die ihnen durch den Zaun geholfen hatte. Miss Maple legte sich neben einem Haselstrauch auf die Lauer und wartete darauf, dass Megära auf ihren verschlungenen Grasepfaden näher an den Zaun kommen würde.

 

Die Schatten der Schafe hatten schon wieder zu wachsen begonnen, als Rebecca vom Schloss zurückkam. Sie sah sehr wütend aus. Sehr wütend. Die Schafe versuchten, stramm und unauffällig zugleich auf der Weide zu stehen, aber die Schäferin meinte nicht sie.

»Das war mal ein Irrenhaus!«, erklärte sie den Schafen und zeigte mit einem blauen Fäustlingshandschuh auf das Schloss. »Und ich sage euch: das ist noch immer ein Irrenhaus! Die werden sich wundern! Ich kann auch anders!«

»Das hätte ich dir gleich sagen können!«, dröhnte es aus dem Schäferwagen. »Genauso gut hätte ich die Karten fragen können!«

Dann schwieg der Schäferwagen eine Weile, und Rebecca schwieg auch und dachte.

Schließlich zückte sie das Sprechgerät.

Das Sprechgerät begann zu quaken, und Rebecca quakte nach Art der Europäer unbeholfen zurück. Und - kaum zu glauben - während sie quakte, wurde sie noch wütender. Irgendwann hatte sie das Sprechgerät so weit eingeschüchtert, dass es aufhörte zu quaken und endlich zu sprechen begann.

»... haben keine Leute«, knackte es.

»Es interessiert mich nicht, wie viele Leute Sie haben!«, fauchte Rebecca zurück. »Jetzt hören Sie mir mal zu, Monsieur. Jemand war in meinem Schäferwagen.«

Das Sprechgerät knackte schüchtern.

»Unbefugt?«, schnaubte Rebecca. »Das will ich meinen!«

Das Sprechgerät schnatterte.

»Nein«, sagte Rebecca. »Kein Diebstahl. Vandalismus. Verstehen Sie? Vandalism? Natürlich weiß ich nicht, wer - das sollen Sie mir sagen! Natürlich möchte ich es anzeigen. Tout de suite!«

»Nein, ich kann nicht nach Mauriac kommen!«, schnaubte Rebecca. »Ich habe kein Auto. Sie müssen hierher... Quoi? Merde!«

 

»...schwarz«, erklarte Maple der Weißen mit dem schwarzen Ohr, »und... nicht so groß.«

Die weiße Ziege mit dem schwarzen Ohr hörte ihr aufmerksam zu. Sie rieb nachdenklich ihre schlanken Hörner am Weidezaun. Ihre Ohren wirbelten wie Schmetterlingsflügel.

»Im Wald sagst du?« Maple nickte.

Die Ziege schnaubte wissend. »Ein Hirngespinst! Der Wald ist voll von ihnen. Die Spinnen spinnen sie im Mondenschein, wenn sie satt sind.«

»Nein«, sagte Maple. »Es war eine echte Ziege.«

»Natürlich denkst du das«, sagte die Ziege. »Die Spinnen sind klug.«

»Es war eine echte Ziege«, beharrte Miss Maple.

»Hirngespinst!«, wiederholte die Ziege. »Genau wie das ungeschorene Schaf. Du glaubst doch nicht etwa immer noch, dass das echt ist? Niemand kommt ungeschoren davon! Niemand!«

»Sicher ist er echt!«, sagte Miss Maple. »Er steht da...« Dann verstummte sie. Da stand niemand. Der fremde Widder war nicht mit ihnen aus dem Wald zurückgekehrt, und sie hatten es nicht einmal gemerkt!

»Was weißt du von dem Ungeschorenen?«, fragte Miss Maple.

»Oh«, sagte die Ziege. »Er ist damals mit den anderen gestorben, aber er bildet sich ein, er lebt noch. Typischer Fall von Hirngespinst!«

»Welche anderen?«, fragte Maple, doch die Ziege drehte nur den Kopf zur Seite und wackelte wild mit ihrem schwarzen Ohr.

»Siehst du das? Mehr Schwarz wirst du unter uns nicht finden, du Schaf! Es gab einmal eine schwarze Ziege, aber nicht mehr!«

»Und der Garou?«, fragte Maple. »Ist der etwa auch ein Hirngespinst?«

»Der Garou?« Die Augen der Ziege wurden blank. »Vom Garou weiß ich nichts.«

»Aber du hast es selbst gesagt!«, blökte Maple. »Bevor wir in den Wald gegangen sind! >Wenn ihr den Garou trefft<, hast du gesagt.«

Die Weiße mit dem schwarzen Ohr sah Maple respektvoll an. »Für ein Schaf bist du ganz schön verrückt«, meckerte sie. »Weiter so! Verrückt ... verzückt ... verzickt!«

Dann drehte sie sich um und ließ Miss Maple stehen.

Allmählich verlor Maple doch die Geduld.

Eine sehr alte graue Ziege in der Nähe fing an zu kichern. Kicherte so sehr, dass sie am ganzen Körper zitterte. Maple befürchtete, die Alte könnte vor lauter Kichern und Zittern umfallen.

»Genau!«, kicherte die Graue und zitterte noch stärker. Wie hager sie war! Vielleicht zitterte sie ja vor Kälte? Die Alte drehte ihren Kopf in Maples Richtung, und Maple sah, dass sie weiße Augen hatte, weiß und blind wie Schnee. Die blinde Ziege, gegen die Sir Ritchfield angetreten war!

»Schon gut«, sagte Maple beruhigend. Die Alte tat ihr leid.

»Schon gut!«, keuchte die Graue. »Schon gut? Madouc ist nicht gut. Madouc ist keine Ziege! Madouc ist ver...«

In diesem Augenblick rempelte eine Fuchsrote die blinde Alte mit dem Kopf an. Die Alte hörte auf zu zittern und fing an zu husten. Hustete und verstummte. Der Wind pfiff.

Maple trabte los, um ein gutes Stück Weide zwischen sich und die Ziegen zu bringen. Die Sache gefiel ihr nicht. »Verrückt« hatte die Alte sagen wollen. Alle Ziegen waren verrückt. Aber eine Ziege, die die anderen Ziegen für verrückt hielt, war entweder außergewöhnlich vernünftig - oder so verrückt, dass Maple sich das nicht einmal in ihren schwärzesten Träumen vorstellen konnte. Doch was wollte eine vernünftige Ziege mit ihnen im Wald - und was eine vollkommen Verrückte?