17

»Es ist alles deine Schuld!«, blökte Heide.

»Ist es nicht!«, murmelte Maude. »Die Ziege ist schuld!«

»Aber ich habe gar nichts gemacht!«, meckerte Madouc.

»Ziegen sind immer schuld«, sagte Maude unerbittlich.

Seit sie Zora im nächtlichen Wald verloren hatten, weil Maude zu lange zum Wittern stehen geblieben war, waren die verbleibenden Mitglieder der Schafsexpedition nicht besonders gut aufeinander zu sprechen. Sie trabten noch ein bisschen in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war, dann zur Abwechslung und weil niemand dem unheimlichen Heuler wirklich begegnen wollte, in eine andere. Sie hatten alle gemeinsam unter einer Buche übernachtet, zähes Waldgras gefressen und sich am Morgen ein bisschen auf einer Lichtung gesonnt. Seit Zora nicht mehr bei ihnen war, ging es mit der Disziplin stetig bergab.

»Im Gegenteil!«, meckerte Madouc. »Ziegen sind nie schuld. Wir haben einen Sündenbock, der ist immer an allem schuld, aber keiner kennt ihn.«

»Unsinn!«, sagte Maude.

»Pssst!«, zischte Heide.

Die beiden Schafe und die Ziege zogen sich in den Schatten eines efeuüberwucherten Baumstamms zurück und spähten den Hang hinunter, wo sich zwei dunkle Punkte ihren Weg durch viel Weiß bahnten.

Die Spaziergänger! Die Schafsfeinde!

»Wir sollten verschwinden!«, flüsterte Heide.

»Wir sollten ihnen folgen!«, sagte Madouc.

»Warum denn das?« Die beiden Schafe sahen die kleine Ziege entgeistert an.

»Na, sie wohnen beim Schloss, stimmt's? Und irgendwann werden sie wieder zurückwollen.«

»Um zu duschen«, Heide nickte. »Mama sagt, sie duschen die ganze Zeit!«

Duschen war ein seltsamer Prozess, bei dem natürliche Gerüche durch künstliche ersetzt wurden. Sie hatten noch nie gesehen, wie es genau funktionierte, aber eines war sicher: Duschen konnte man nicht im Wald.

»Genau!«, sagte Madouc. »Wir folgen ihnen, und sie bringen uns heim!«

Es war gar kein so verrückter Plan. Besser als der mit dem Heulen. Außer...

»Was ist, wenn sie uns entdecken?«, fragte Maude.

Die kleine Ziege legte ihren Kopfschief und ließ die Zunge schlaff aus dem Maul hängen.

»Das!«, sagte sie dann.

Heide schluckte.

Sehr vorsichtig folgten die drei den beiden Wintergästen.

Schnee fiel. Nichts rührte sich im Wald.

Die beiden Männer gingen eine Zeit lang schweigend, dann musste der Größere und Dickere von beiden stehen bleiben, um sich zu schnauzen.

»Hoffentlich ist er bald fertig«, sagte er. Madouc spitzte die Ohren. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mir das hier alles auf die Nerven geht! Ich meine, hier gibt es nichts! Nicht mal ein Eiscafe! Nur dieses komische Wirtshaus im Wald.«

Der Kleine lachte spöttisch. »Dir fehlen die Frauen, das ist alles. Aber keine Sorge. Heute kommt der Boss unter das Messer, und morgen kann er schon wieder weg von hier, wenn alles gut geht, und dann schlagen wir zu. Je früher, desto besser. Am Wochenende gibt es eine Treibjagd, höre ich. Da kommen Leute von überall. I-de-al! Nun erzähl mir nicht, dass du dich nicht für eine Treibjagd interessierst. All die toten Tiere. Na, was sagst du?«

»Er wird anders aussehen, nicht wahr?«

»Das ist der Sinn der Übung«, sagte der Kleine. »Hübscher. Nicht wie auf den Fahndungsfotos. Ohne ein Loch in der Fresse.«

»Aber... wenn er anders aussieht... ich meine, woher wissen wir dann noch, dass es der Boss ist?«

»Oh, das werden wir wissen, glaub mir! Der Boss ist der, der zahlt!«

Der Kleine ging ein bisschen schneller. »Komm schon!«

»Und glaubst du, die Zicke wird Schwierigkeiten machen?«

Der Kleine schüttelte den Kopf. »Die macht keine Schwierigkeiten! Die will den Doktor doch noch viel dringender loswerden als wir! Weiber!«

»Weiber!«, grollte der Dicke. Es klang ein wenig sehnsüchtig.

 

Yves' Sprechgerät hatte längst wieder mit dem Klingeln aufgehört, aber Malonchot grub noch immer. Vorsichtig legte er zuerst ein Bein frei, dann einen Arm, dann den Kopf.

Er erinnerte die Schafe ein bisschen an die beiden Jungmenschen, wenn sie Schneewesen bauten. Die gleiche Versunkenheit. Das gleiche Leuchten in den Augen.

Die Schafe hatten sich nervös auf die andere Seite der Weide zurückgezogen. Sie wussten, dass Rebecca Yves nun doch nicht auf dem Gewissen hatte - aber würde das auch Malonchot verstehen?

»Erkennen Sie ihn?«, fragte Malonchot Rebecca, die ein paar Schritte entfernt stand, bleich wie Schnee.

»Yves. Der war hier so eine Art Mädchen für alles. Knecht, hätte man wahrscheinlich früher gesagt. Nur Yves trägt diese fürchterlichen Hemden.«

Malonchot nickte. »Ich habe ihn vorgestern befragt. Besonders klug war er nicht. Ich meine: kennen Sie ihn näher? Gibt es einen Grund, warum er hier auf der Weide ist? Musste er etwas reparieren, oder so?«

»Er... er sollte uns eine Antenne auf das Dach setzen, aber er ist nie aufgetaucht.«

»Wann war das?«

»Gestern früh. Glauben Sie, das war der...?«

Malonchot schüttelte den Kopf. »Sehen Sie, wie sauber? Ich meine nicht ihn, ich meine die Wunde. Ein einziger Schuss, mehr nicht. Kaum Blut. Nein, das würde mich sehr überraschen. Aber wissen Sie, was mich nicht überraschen würde?«

Rebecca sah nicht wirklich so aus, als ob sie es wissen wollte.

Malonchot seufzte. »Wollen wir mal sehen. Am besten, ich drehe ihn um.«

»Sollten wir nicht lieber die Polizei...?«, sagte Rebecca.

Malonchot warf ihr einen tadelnden Blick zu.

»Mademoiselle, ich bin die Polizei! Und bitte verlangen Sie nicht von mir, dass ich warte, bis meine Kollegen von der Spurensicherung diesen schönen Tatort verwüstet haben. Wissen Sie, wie lange es dauert, bis die Kollegen da sind? Stunden, bei dem ganzen Schnee! Die Straßen sind zu! Und was werden sie mir dann sagen? Dass diese Haare hier von Ihren Schafen sind? Pah! Das weiß ich auch so!«

Malonchot streifte sich dünne Handschuhe über und drehte den Toten mit einer merkwürdig delikaten Handbewegung um.

»Oh«, sagte Rebecca, seltsam betroffen.

»Hmm«, sagte Malonchot. Er stellte sich unter die alte Eiche, dahin, wo Yves vor seinem Fall gestanden haben musste, und sah nach allen Seiten: nach rechts - der Stamm der Eiche. Nach links - die Ziegenweide. Nach hinten - der Wald, und sogar nach oben in die Eiche, wo vor zwei Tagen triumphierend das Winterlamm geblökt hatte und wo nun die erste Krähe saß wie eine schwarze, fremde Frucht. Schließlich blickte er nach vorne, direkt zu Rebeccas Schäferwagenfenster hinüber.

»Er... er hat mich beobachtet, nicht wahr?« Rebecca hatte auf einmal Tränen in den Augen. »Ein Spanner!«

Malonchot berührte sie vorsichtig an der Schulter. Eine so vorsichtige Bewegung hätten die Schafe dem großen und breiten Malonchot gar nicht zugetraut.

»Machen Sie sich nichts daraus, Mademoiselle«, sagte Malonchot. »Wenigstens wissen wir jetzt, warum er hier war. Wollen Sie vielleicht kurz reingehen?«

Rebecca schüttelte den Kopf. »Bloß nicht. Da drinnen schläft meine Mutter ihren Rausch aus.«

»So.« Malonchot knöpfte Yves' steifes Hemd auf und gab einen zufriedenen Laut von sich.

»Aha! Sehen Sie, hier ist die Kugel wieder ausgetreten. Das heißt, er wurde aus nächster Nähe erschossen. Und das bedeutet, dass die Kugel nicht weit ist. Manchmal bleiben sie sogar in der Kleidung...«

Malonchot tastete Yves' Hemd ab.

»Aha!«, sagte er dann wieder und zog einen kleinen, glänzenden Kasten aus Yves'Brusttasche.

»Im Zigarettenetui stecken geblieben! So was habe ich noch nie... Wie im Film! Außer natürlich, dass die Kugel von der falschen Seite kam! Das ist wirklich außergewöhnlich!«

Malonchot strahlte Rebecca rotwangig an und sah auf einmal ausgesprochen glücklich aus.

»Wollen wir sehen«, murmelte er dann. »Wollen wir mal...« Er hielt sich etwas Kleines vors Gesicht und kniff ein Auge zusammen.

»Im Geschäft kann man solche Munition jedenfalls nicht kaufen, so viel ist klar. Diese Kugel hat jemand selbst gegossen, und das Material...« - er wog das kleine Ding in der Hand - »es würde mich sehr überraschen, wenn das kein Silber ist!«

Die Schafe horchten auf. Yves war an Silber gestorben! Und das bedeutete ...

Rebecca presste eine Hand auf ihren Mund.

»Glauben Sie, er war...?«, flüsterte sie.

»Das ist nun wieder eine ganz andere Frage«, murmelte Malonchot. »Eine ganz andere.«

»Der Garou!«, blökte Ramses.

Die Schafe blickten erwartungsvoll auf Miss Maple. »Vielleicht...«, murmelte sie. »Vielleicht...«, murmelte auch Malonchot. »Vielleicht?«, fragte Rebecca.

»Vielleicht passt jemand auf Sie auf, Mademoiselle.« »Na wunderbar!«, sagte Rebecca.

»Apropos aufpassen«, sagte Malonchot. »Deswegen bin ich eigentlich hier. Er kann kurz warten, nehme ich an.«

Malonchot kickte wieder ein wenig Schnee über den Toten. Rebecca sah ihn schockiert an.

»Unkonventionell?«, fragte Malonchot. »Oui, Mademoiselle. Aber so bleibt er wenigstens frisch. Ich möchte ein paar Leuten ein paar Fragen stellen, noch bevor bekannt wird, dass er tot ist. Und apropos unkonventionell... bitte warten Sie einen Moment, nicht hier, vielleicht - unten am Zaun, ja? Ich hole schnell mein Auto, das ist auf der anderen Seite geparkt. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, einverstanden?«

»Einverstanden«, nickte Rebecca.

Malonchots Auto war ungewöhnlich hochbeinig und breitstirnig. Mühelos schnurrte es durch den Schnee, vorbei an einigen schlafenden Artgenossen, direkt zum Weidetor.

Malonchot stieg aus und winkte Rebecca herbei. Dann starrte Rebecca durch die Glasscheibe am Hinterteil des Autos, und Malonchot sah sie erwartungsvoll an.

»Ich weiß, es ist vielleicht ein bisschen schwierig, so kurz nachdem Sie ...«, sagte Malonchot. »Aber ich habe mir Folgendes gedacht: Nehmen wir einmal an, wir hätten es mit einem echten Wolf zu tun - und irgendetwas Echtes wird an ihm schon dran sein -, warum verhalten wir uns nicht so? Früher waren Wölfe ein Problem. Und für Probleme gibt es Lösungen. Und das hier - nun, das ist die beste Lösung, die ich kenne.«

»Wo ist vorne, und wo ist hinten?«, fragte Rebecca.

Der Inspektor lächelte. »Eine gute Frage! Eine wahrhaft kriminalistische Frage. Und wie so oft eine Frage, die sich nur beantworten lässt, wenn man die Dinge in Bewegung sieht.«

Malonchot öffnete die Kofferraumtür und steckte sich etwas in den Mund. Ein hoher magerer Ton erklang, ein Ton, der den Schafen bis in die Haarspitzen fuhr. Etwas Weißes und Wolliges wirbelte aus dem Kofferraum wie ein kleiner Schneesturm.

»Ich glaube, das ist ein Schaf«, blökte Sir Ritchfield aufgeregt.

Die anderen blickten skeptisch hinunter zum Weidetor. Das Wesen war wollig. Trotzdem - irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Die Bewegungen. Es war viel zu leise für ein Schaf. Zu leise und zu schnell.

»Er sieht aus wie ein...«, sagte Rebecca.

»Exactement«, sagte Malonchot. »Und das ist ein Vorteil. Oh, ein vierbeiniger Wolf wird ihn schnell wittern, kein Zweifel. Aber was, wenn wir es mit einem zweibeinigen Wolf zu tun haben? Dann können wir ihn vielleicht überraschen!«

Langsam witterten auch die Schafe in der Entfernung etwas.

»Kein Schaf«, sagte Cloud mit Bestimmtheit. »Ein ...« Cloud prüfte ungläubig die Luft, wieder und wieder. Auch die anderen Schafe konnten es nun riechen. Aber glauben konnten sie es noch nicht so ganz. »Ein Schäferhund?«, fragte Rebecca.

»Ein Komodor«, sagte Malonchot. »Eine alte, ungarische Hirtenhundrasse. Kein Hütehund im eigentlichen Sinne. Ein Herdenschutzhund. Oh, er kann sie auch hüten. Aber vor allem wird er sie bewachen. Tag und Nacht.«

»Ich verstehe nicht so viel von Hunden«, sagte Rebecca. »Ich bin neu im Geschäft.«

Malonchot reichte Rebecca lächelnd die Hundepfeife. »Aber er versteht eine ganze Menge von Schafen. Ich habe ihn von einem befreundeten Pyrenäenschäfer, der die Schäferei vor ein paar Monaten aufgegeben hat. Seitdem schmollt der Hund, und ich konnte ihn überreden, ihn uns auszuborgen. Ich glaube, er wird sehr glücklich sein, wieder eine Herde zu haben. Sein Name ist Vidocq.«

»Vidocq?«, sagte Rebecca.

»Ich habe ihn gerade so getauft«, erklärte Malonchot. »Er mag den Namen. Sein Schäfer nennt ihn einfach nur >Hund<.«

»Und er wird ihnen ganz sicher nichts tun?«, fragte Rebecca.

»Er ist ein ausgebildeter Hirtenhund«, sagte Malonchot. »Er würde sich lieber selbst in den Schwanz beißen, als irgendeinem Schaf ein Haar zu krümmen.«

Vidocq war ein paar Mal auf dem Hof hin und her gelaufen, zick und zack, mit fließenden, flinken Bewegungen. Es sah so aus, als wolle er in alle Richtungen zugleich. Dann sah er die Schafe, wurde ruhig, setzte sich und guckte.

Die Schafe guckten skeptisch zurück.

Rebecca blies in die Hundepfeife. Die Schafe ächzten, sonst passierte nichts.

»Er ist eigensinnig«, gab Malonchot zu.

»Ich bin auch eigensinnig«, sagte Rebecca und blies wieder in die Pfeife. »Und sie...«, sie nickte zu den Schafen herüber, »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie eigensinnig die sind!«

Endlich riss Vidocq seinen Blick von den Schafen los und trottete widerwillig zu Rebecca hinüber. Rebecca ging in die Hocke und streckte eine Hand aus. Vidocq beschnupperte sie. Rebecca lachte leise, dann verschwand ihre Hand inVidocqs dicken, weißen Zotteln. Auf einmal liefen ihr Tränen über die Wangen.

Vidocq wedelte zögerlich mit dem Schwanz.

»Er mag Sie«, sagte Malonchot.

»Er frisst sicher eine ganze Menge«, sagte Rebecca.

»Auch für dieses Problem gibt es eine Lösung«, sagte der Inspektor. »Ich habe die ganze Rückbank voller Hundefutter.«

Die ganze Rückbank! Die Schafe guckten neidisch.

»Was versprechen Sie sich davon?«, fragte Rebecca. »Ich meine, als Polizist?«

»Irritation«, sagte Malonchot. »Ich möchte die Dinge in Bewegung sehen, verstehen, wo vorne und wo hinten ist, sozusagen. Wenn wirklich jemand Ihren Hund vergiftet hat, bedeutet das vielleicht, dass Hunde für den Täter ein Problem darstellen. Nun denn - schaffen wir ihm ein paar Probleme!«

»Was ist, wenn sie ihn auch vergiften?«, fragte Rebecca.

»Oh«, sagte Malonchot. »Der frisst nichts von Fremden. Er wird Ihr Futter nehmen, sobald er versteht, dass Sie zu den Schafen gehören. Das war's!«

Vidocq blaffte wie zur Bestätigung. Kein aufgeregtes Hundebeilen, nur ein paar tiefe, fordernde Laute. Es klang verständiger als das Quaken der Europäer.

»Ich möchte, dass Sie genau beobachten, was sich durch Vidocq verändert«, sagte Malonchot. »Wer sich für ihn interessiert. Wer Angst vor ihm hat. Wer ihn mag. Wer ihn nicht mag. Wen er nicht mag. Üblicherweise sieht die Polizei nur zu.« Malonchot schnaufte bitter. »Ich versuche, einzugreifen, Variablen zu verändern, für die Täter neue Situationen zu schaffen. In neuen Situationen machen wir leichter Fehler. Alle! Sogar ein hup garou, wenn Sie so wollen. Man könnte es invasive Kriminalistik nennen. Umstritten? Das will ich meinen!«

Vidocq blaffte wieder.

»Ich glaube, er will sie kennen lernen«, sagte Malonchot und öffnete das Weidetor.

Vidocq schoss auf die Schafe zu, eine glückliche Kugel Schnee.

»Ich hoffe, er treibt sie nicht zum Wahnsinn!«, hörten die Schafe Rebecca noch sagen, bevor sie Vidocq kennen lernten.

Es dauerte eine Weile, bis die Schafe verstanden, dass sie rannten, alle zusammen, den Hang hinauf, am Waldrand entlang, auf das Schloss zu, zurück zu Rebecca, vorbei am Ziegenzaun, wo einige sehr interessierte Ziegen standen, und wieder auf den Wald zu. Schnee stob und Ohren flatterten. Vidocq war überall und nirgends.

Hang, Waldrand, Schloss, Rebecca, Ziegenzaun, Hang.

Waldrand, Schloss, Rebecca, Ziegenzaun.

Am Ziegenzaun standen mittlerweile eine ganze Menge Ziegen.

»Das ist Vidocq!«, blökte Heathcliff ihnen im Galopp zu. »Er treibt uns zum Wahnsinn!«

Die Ziegen machten neidische Gesichter.

 

Heide, Maude und Madouc standen am Waldrand und blickten den beiden Männern frustriert nach.

»Es hat nicht geklappt«, seufzte Heide.

»Die Ziege ist schuld«, murmelte Maude.

Die beiden Männer gingen zweifellos auf ein Schloss zu - aber es war das falsche Schloss! Der Turm war auf der falschen Seite, die Fenster stimmten nicht, und Weide gab es erst recht keine.

Maude prüfte die Luft. »Es riecht wie das richtige Schloss«, sagte sie.

Auf einmal begann Madouc zu kichern. »Das Schloss ist richtig!«, meckerte sie. »Wir sind falsch! Wir müssen nur um das Schloss herum, und alles stimmt, Weide und Herde und Hirt! Wir sind da! Heureka! Heureka!«

»Heu! Heu! Heu!« Auch Heide und Maude stimmten ein kleines Triumphgeblök an. Sie folgten Madouc über eine kahle weiße Fläche, dann an der Schlossmauer entlang und zwischen den Nebengebäuden des Schlosses hindurch, wie in alten Zeiten. Eine Tigerkatze erschreckte Heide. Heide erschreckte die Tigerkatze noch mehr.

Plötzlich begann Maude nervös zu wittern.

»Da hinten!«, blökte sie dann. »Ein Huhn!«

»Wir sind zurück!«, blökte Heide begeistert. »Wisst ihr noch, als wir los sind? Wisst ihr noch? Es ist sehr lange ...«

Eigentlich war es mehr ein halbes Huhn, aus dem der Schnee schon alles Blut gesaugt hatte. Und noch ein Huhn. Und noch eins. Ein lebendiges schwarzes Huhn raste panisch an den Schafen vorbei und verschwand zwischen den Gebäuden.

»Was...«, sagte Heide und verstummte.

Madouc schien sie nicht zu hören. Sie starrte gebannt auf die halboffene Tür des Hühnerhofs. Drinnen lagen noch mehr tote Hühner. Viel mehr. Dazwischen, weiße Federn im roten Pelz, saß der Fuchs und lächelte, wie nur ein Fuchs lächeln kann.

Madouc sah nur den Fuchs und hörte nur den Fuchs und roch nur den Fuchs. Die Welt verschwand.

Es hatte schon einmal einen Fuchs gegeben. Einen roten Tod im Schnee. Der Fuchs war das Erste gewesen, was sie in dieser Welt gesehen hatten: ein fließender Schatten mit Augen aus Licht. Irgendwo meckerte eine Ziege - eine Ziege, die Madouc nie kennenlernen würde. Sie kannten auch sich nicht, aber sie kannten den Fuchs. Der Fuchs war größer und schneller und klüger als sie. Er war das Ende, und Madouc war neugierig. Sie war aufgestanden, zum ersten Mal, um ihn zu sehen, seine Kreise zu sehen, und ihr erster taumelnder Schritt in diesem Leben war auf ihn zu.

Madouc schüttelte sich, wie sie sich damals geschüttelt hatte, vor Kälte und Wut. Wenn der Tod seine Kreise zog, musste man aufstehen. Man musste den Kreis sehen, mit klaren, gelben Ziegenaugen, und dann, wenn man ihn verstand, musste man ihn verlassen. Egal, wie. Egal, um welchen Preis.

Damals wie heute.

Der Fuchs war nicht mehr gefährlich für sie. Der Wolf schon...

Sehr schweigsam zog die kleine Schafsexpedition weiter, vorbei am Gästehaus, zum Hoftor.

»Er wollte sie nicht einmal fressen«, murmelte Heide. »Er konnte sie gar nicht alle fressen. Warum?«

»Er ist der Fuchs. Er kann nicht anders.« Madouc schien kaum zuzuhören. »Gleich sind wir da!«

 

Die Schafe standen zwischen Heuschuppen und Futterkammer, noch ein wenig atemlos vom vielen Gehütet-Werden, und versuchten, die jüngsten Ereignisse wiederzukäuen, Malonchot, Yves, die Silberkugel und den neuen Hütehund. Vidocq saß mit rosig hängender Zunge am Schäferwagen und ließ sich von Rebecca das Fell kraulen. Obwohl man unter seinen vielen Zotteln kaum die Nasenspitze erkennen konnte, konnte man sehen, dass er glücklich war.

»Der Garou muss durch eine Silberkugel sterben«, sagte Lane plötzlich.

»Und Yves ist durch eine Silberkugel gestorben«, blökte Ramses. »Sonnenklar! Wenn er nicht der Garou wäre, wäre er nicht gestorben. So ein kleines Ding! Silber ist eigentlich ganz harmlos, wisst ihr? Mopple hat es im Maul getragen.«

Auf einmal waren so gut wie alle Schafe der Meinung, dass Yves der Garou war, sogar das schweigsamste Schaf der Herde, das für alle deutlich sichtbar mit dem Kopf nickte. Ein gutes Ergebnis! Die Schafe freuten sich, den Garou so einfach losgeworden zu sein. Yves, der noch immer tot unter der alten Eiche lag, neuerdings auf dem Rücken, war der bestmögliche Garou überhaupt!

»Ich weiß nicht«, murmelte Miss Maple in den allgemeinen Enthusiasmus hinein. »Irgendetwas stimmt nicht!«

Die anderen Schafe guckten Maple böse an. Immer, wenn sie den Fall gelöst hatten, kam Maple und sagte, dass irgendetwas nicht stimmte! Maple war überhaupt kein Detektivschaf- eher das Gegenteil: ein Schaf, das immer nur herausfand, was nicht war!

»Da ist Heide!«, blöke Heathcliff plötzlich. »Heide und Maude und die Ziege! Unten am Hoftor.«

»Kein Schaf darf die Herde verlassen!«, blökte Ritchfield streng. Trotzdem kam er mit, als die Schafe zum Weidezaun trabten, um die Heimkehrer zu begrüßen.

»Wo ist Zora?«, fragte Cordelia.

»Wir... wir haben sie verloren«, blökte Heide, zu erleichtert, um sich wirklich Sorgen zu machen.

»Der Sündenbock ist schuld!«, erklärte Maude.

Madouc sagte gar nichts, sondern hopste nur in Bocksprüngen über die Weide und meckerte wieder »Heureka!«.

Die Schafe ließen sich von ihrer Begeisterung anstecken. Bald blökten alle zusammen nach Heu. Es begann wieder zu schneien.

 

Sein Herz pochte. Pochte wie... Er wusste es nicht. Schnell jedenfalls. Zu schnell. Nicht normal. Der Schnee fiel langsam, sacht und flockig. Es gefiel ihm, wie der Schnee fiel. Das Pochen in seiner Brust sollte sich ein Beispiel daran nehmen. Poch, poch, poch, leicht wie der Wind.

Der Schnee lag kalt um seine Füße, glatt und spurlos wie ... egal, wie, es kam ihm seltsam vor. Der Schnee sollte nicht so glatt um ihn liegen. Es war verkehrt. Der Schnee sollte ihm verraten, wo er hergekommen war. War er überhaupt irgendwo hergekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Etwas in ihm fühlte sich leer an. Er senkte den Kopf und schnaubte in den Schnee. Der Schnee war vom Himmel gefallen. War er auch vom Himmel gefallen? Der Gedanke machte ihn ... traurig vielleicht.

Er wollte zurück. Er wollte unbedingt zurück.

Etwas kam auf ihn zu. Nicht von oben. Von der Seite. Ein Knirschen.

Knirsch, knirsch, knirsch.

Pochpochpochpochpoch. Sein Herz war wieder losgaloppiert, schneller als alle Schneeflocken. Dann sah er das Wesen. Groß, dunkel und zweibeinig schritt es durch den Schnee und ließ Spuren zurück. Das Wesen war nicht vom Himmel gefallen. Nicht weit entfernt blieb es stehen und drehte den Kopf hin und her. Es gefiel ihm nicht, wie das Wesen den Kopf drehte. Es sollte weg. Vor allem seine Augen. Seine Augen waren kälter als der Schnee. Doch der Schnee war sein Verbündeter, er tanzte und wirbelte um das dunkle Wesen, fuhr ihm ins Gesicht, so dass die Augen nicht lange in seine Richtung sehen konnten. Der Wind fauchte, und dann, endlich, trieb er das Wesen davon.

Knirsch. Knirsch. Knirsch.

Pochpochpoch. Poch. Poch.

Der Schnee fiel weiter, und irgendwann hörte er auf zu fallen, einfach so.

Der Boden war scheckig vor Schatten geworden, und auch das war nicht gut. Er machte einen vorsichtigen Schritt, heraus aus den Schatten. Seine Beine fühlten sich steif und fremd an, als hätte er sie noch nie benutzt. Im Himmel braucht man keine Beine. Hier schon. Vorsichtig bewegte er sich an den Bäumen vorbei, immer auf das Licht zu. Bald gab es keine Bäume mehr, dafür aber einen Zaun. Dahinter stand jemand.

Ein anderes Wesen. Weiß und flockig wie Schnee. Dieses Wesen gefiel ihm schon besser.

»Hallo, Mopple«, sagte das Wesen.

»Hallo«, sagte Mopple the Whale.