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»... und seine Augen glühen im Dunkeln wie Glühwürmchen. Und aus seinem Maul hängt eine lange rosa Zunge!«, sagte die Ziege.
Diesmal hörten ihr die Schafe zu.
»Kugeln können ihm nichts anhaben!«, meckerte die Ziege.
Die Schafe nickten verständig. Wem konnten Kugeln schon etwas anhaben? Sehr große Kugeln vielleicht - aber die Schafe hatten noch nie eine so bedrohlich große Kugel gesehen.
»Nur Silber hilft!«, verkündete die Ziege und guckte in die Runde.
Die Schafe versuchten so zu tun, als hätten sie das längst gewusst.
»Wenn er sich verwandelt - hat er dann Menschensachen an oder nicht?«, fragte Miss Maple.
Es war eine wichtige Frage. In Menschenkleidern würde sich ein Vierbeiner schnell verheddern - und leicht zu erkennen wäre er dann auch.
Drei Spuren führten zu dem Fleck, der einmal ein Reh gewesen war. Drei Spuren, miteinander verwoben wie Wicken an einem Zaun. Eine zarte, flüchtige, eine große, längliche und eine rote Kette von Blutstropfen, hier und da und dort, wie Mohn in einem Feld. Der Schnee war so weich und pulvrig, dass aus den Spuren sonst nicht viel zu lesen war. Runde Krater im Schnee. Große, kleine und rote. Mehr nicht.
Auch geruchlich gab der Fleck nicht mehr viel her. Witterungen gefroren in der Kälte, wurden spröde und zersprangen. Alles, was hier übrig geblieben war, war eine kalte Ahnung von Blut. Jetzt glaubten die meisten Schafe etwas von dem, was die Ziege erzählte. Nicht alles, aber dies und das. Ein Wolf, der durch den Wald schlich und Rehe riss. Rehe und Menschen und vermutlich auch Schafe, wenn sich die Gelegenheit bot. Ein Wolf, der am Rande des Waldes aufhörte, Wolf zu sein, und auf zwei Beinen weiterging und unerkannt zwischen den Menschen lebte.
Ein Wertier. Ein Wandelwolf Die kleine Ziege nannte ihn Garou.
Der Garou hatte den Schafen gerade noch gefehlt.
»Und er versteckt sich hinter einem Menschen?«, fragte Lane noch einmal. Es schien ihr kein besonders gutes Versteck zu sein. Menschen waren hoch und dünn und ständig in Bewegung.
»Nicht hinter einem Menschen«, erklärte Madouc. »In einem Menschen.«
»Wenn er sich in einem Menschen versteckt, kann er zumindest nicht größer als ein Mensch sein«, sagte Mopple.
Das war immerhin etwas. Alle Schafe fürchteten sich vor Wölfen, aber wenn sie ehrlich waren, wussten sie nicht sehr genau, wovor sie sich da fürchteten. Wölfe waren Gespenster, der Schrecken zahlloser Lämmermärchen, heißer Atem in ihrem Nacken, wenn sie Angst hatten. Wölfe lebten in Geschichten. Es überraschte die Schafe, dass auf einmal einer dort draußen sein sollte, irgendwo im Schnee, mit blutiger Schnauze.
»Warum versteckt er sich denn?«, fragte das Winterlamm.
Madouc überlegte kurz. »Weil die Menschen Angst vor ihm haben. Und wenn Menschen vor etwas Angst haben, sind sie sehr gefährlich. Sogar für den Garou.«
»Wir könnten auch vor ihm Angst haben«, schlug Heide vor. »Sind wir dann auch gefährlich?«
»Ein bisschen«, sagte Madouc. Der Gedanke schien ihr zu gefallen.
»Ich habe Angst vor ihm!«, Heide ging mit gutem Beispiel voran.
»Ich auch«, seufzte Mopple, nicht besonders bedrohlich.
Die Schafe hatten sich in sicherer Entfernung unter drei jungen Tannen zusammengeballt und warteten ungeduldig darauf, dass Miss Maple endlich von dem roten Fleck zurückkehrte. Alles hier war zu frisch. Zu ... offen. Wie eine Wunde im Schnee.
Maple umkreiste den Fleck schweigend. Einmal. Und ein zweites Mal. Witterte. Scharrte im Schnee. Folgte der großen Spur ein Stück weit. Endlich trabte auch sie zu den jungen Tannen.
»Wir müssten nur dieser Spur folgen«, sagte sie mit einem seltsamen Glanz in den Augen, »und wir könnten ihn sehen!«
Die anderen guckten wenig begeistert.
Maple seufzte. »Ich weiß. Ich traue mich auch nicht. Aber...« Sie blickte dorthin, wo die Spur zwischen den Bäumen verschwand. »Die Leute in den Geschichten würden es tun«, sagte sie leise.
Die Schafe schwiegen stur. Die Leute in den Geschichten taten eine Menge absurder Dinge. Frühjahrsputz, Rache und Diäten. Kein Grund, arglos dem Garou in den Rachen zu laufen. Das wäre geradezu ...
»Verrückt«, murmelte Madouc. »Ich mach's!«
Die kleine Ziege sprang unter den Tannen hervor, und ehe die Schafe zu einem Warnblöken ansetzen konnten, war sie zwischen den Baumstämmen verschwunden, klein, schwarz, lebendig - und entschlossen.
»Wenn du dir wünschst, dass etwas passiert, dann musst du dafür sorgen, dass es passiert«, murmelte das Winterlamm und nagte nachdenklich an einem Wurzelstück.
In diesem Moment schnellte seitlich von ihnen etwas Rotes zwischen den Stämmen hindurch.
»Der Garou!«, blökte Ramses panisch.
Erst als sie alle schon in lang gestrecktem Galopp durch den Wald jagten, wurde ihnen klar, dass es wahrscheinlich doch nur ein Fuchs gewesen war. Nur? Der Fuchs hatte groß ausgesehen, spitz und gefährlich, selbstbewusst und spöttisch zwischen den Bäumen. Ein Waldtier. Ein Wildtier. Im Wald waren die Dinge anders als auf der Weide, selbst bekannte Dinge. Fremder. Größer. Abgründiger.
Auch wenn die Schafe nicht wirklich Angst vor dem Fuchs hatten - zumindest nicht im Nachhinein -, kam ihnen Flucht wie eine gute Idee vor. Schließlich musste es noch ein anderes Raubtier im Wald geben. Ein Raubtier, dem keines von ihnen begegnen wollte.
Othello führte sie in halsbrecherischem Tempo durch einen kleinen Buchenhain, einen Hang hinauf und einen Hang hinunter, vorbei an einem Holzhäuschen, das ziegenartig auf einer sehr alten Eiche saß, immer geradeaus. Schnee staubte, Zweige peitschten, und Vögel flogen auf. Niemand beklagte sich. Sie hatten das ungute Gefühl, dass ihnen etwas auf der Spur war. Etwas Großes.
Irgendwann versperrte ihnen ein Bach den Weg. Kein besonders großer Bach, aber doch zu breit für einen Schafssprung und zu steil und scharf und eisig rauschend für eine vorsichtigere, kletternde Durchquerung. Der Bach gefiel ihnen nicht. Er sperrte sie ein wie ein Zaun. Aber zurück - wo hinter jedem Stamm der Garou lauern konnte?
Othello lauschte einen Moment. Maude witterte. Mopple schnaufte. Ritchfield sah so aus, als hätte er gerade etwas vergessen.
Dann ging es weiter, am Bach entlang, mit fliegenden Hufen und flatternden Ohren, bis zu einer Brücke. Nun ja, es war keine richtige Brücke, nur ein schmaler Steg, etwa zwei Huf breit. Aber auf dem Steg lag Schnee, frischer, pudriger, flauschiger Schnee. Kein Reh hatte ihn heute überquert, kein Mensch - und bestimmt kein Wolf.
Othello prüfte ihre kleine Brücke vorsichtig. Sie schien stabil und Vertrauen erweckend, aber unter dem Schnee lauerte eine tückische, dünne Eisschicht. Der schwarze Widder setzte vorsichtig einen Huf auf den Steg, rutschte fast ab und versuchte es noch einmal, sachter und bestimmter. Er schnaubte zufrieden. Dann war er schon hinüber und witterte wieder nach allen Seiten. Zora kam als Nächste, elegant und beiläufig, als würde sie über eine Sommerwiese traben. Heide folgte mit spitzen, kühnen Schritten, Lane und Cordelia schnell und behutsam. Die ganze Herde hielt den Atem an, als Miss Maple strauchelte, abrutschte und sich im letzten Moment mit einem Sprung ans andere Ufer rettete.
Mopple schaffte es bis auf die Mitte der Brücke, dann blieb er stehen.
»Ich, ich... ich kann nicht weiter«, japste Mopple und kniff die Augen zu.
»Du kannst weiter«, sagte Cordelia beruhigend. »Es sind nur noch ein paar Schritte.«
»Ich kann nichts sehen«, ächzte Mopple.
»Natürlich kannst du nichts sehen, wenn du die Augen zumachst«, sagte Zora. »Mach die Augen wieder auf«
»Ich kann nicht!« Mopple zitterte und schwankte bedenklich.
Etwas im Wald knackte.
»Komm!«, lockten Cordelia, Lane und Zora.
»Ist das Süßkraut?«, fragte Miss Maple von weiter hinten. »Mitten im Winter! Kaum zu glauben!«
Im nächsten Moment war Mopple über den Steg getrabt und steuerte mit glänzenden Augen auf Maple zu.
»Süßkraut?«, blökte er. »Wirklich?«
»Nein«, sagte Maple. »Nicht wirklich.«
Mopple ließ die Ohren hängen.
Sir Ritchfield meisterte die Brücke mit Bravour, jeder Zoll ein Leitwidder.
Maude zögerte und zauderte, aber schließlich schaffte sie es doch.
Auch das Winterlamm blieb in der Mitte der Brücke stehen.
»Komm!«, lockten Lane, Cordelia und Zora wieder. »Es ist nicht mehr weit! Du hast es bald geschafft!«
»Ich weiß«, sagte das Winterlamm. Und stand. Und hielt den Kopf hoch. Und sah sie mit funkelnden Augen an.
»Was ist?«, fragte Maude.
»Ich will einen Namen!«, blökte das Winterlamm. »Jetzt. Hier. Sofort. Ohne einen Namen gehe ich nicht weiter!«
Fernes Knirschen und Knacken. Jetzt waren sich die Schafe sicher: hinter ihnen bewegte sich etwas durch den Wald. Schnell und laut. Etwas Großes.
»Da ist was!«, blökte Ramses aufgeregt. »Du musst weitergehen! Wir wollen alle über die Brücke! Wir wollen nicht auf der Wolfseite bleiben!«
»Ich weiß«, sagte das Winterlamm wieder. Und blieb stehen. »Ich will einen Namen!«, wiederholte es.
Die Schafe sahen sich ratlos an.
»Wir... ähm... wir haben keinen Namen«, sagte Cordelia ratlos.
»Doch!«, blökte das Winterlamm. Seine Augen schimmerten feucht. »Alle habt ihr Namen! Alle! Nur ich nicht!«
»Du kannst meinen Namen haben!«, blökte Ramses panisch von hinten. »Ramses ist ein schöner Name!«
»Nein! Ich will einen eigenen Namen!« Das Winterlamm stampfte zornig mit dem Fuß auf. Die Brücke wackelte.
Die Schafe lauschten. Kein Zweifel: das Knacken kam näher.
Othello trabte langsam auf das Winterlamm zu.
»Geh von der Brücke«, sagte er leise. »Oder ich renn dich um!«
Die Schafe hielten den Atem an. Ein anderes Schaf auf dem schmalen, eisigen Steg umzurennen - das war kühn. Othello wich ein paar Schritte zurück und senkte die Hörner.
Das Winterlamm stand.
Wieder knackte irgendwo ein Ast.
Othello galoppierte los.
Das Winterlamm stand.
Othello stoppte so kurz vor der Böschung, dass feiner weißer Schnee über das Winterlamm stäubte. Er wollte das Winterlamm nicht umrennen. Es war das Schwächste unter ihnen, und gleichzeitig war es auf eine seltsame Art ganz. Ein geborener Leitwidder. Othello mochte das Winterlamm.
Das Winterlamm blinzelte durch den Schneestaub. Hinter ihm wartete seine Herde, und vor ihm wartete seine Herde. Und nicht allzu weit entfernt brach etwas durch das Dickicht.
Schweigend und namenlos trottete das Winterlamm über den Steg. Es würde seinen Namen finden. Irgendwann. Irgendwo.
Der Rest der Herde schaffte es ohne besondere Schwierigkeiten über die Brücke - und weiter ging es, weg vom Bach, vorbei an Bäumen und immer neuen Bäumen.
Mopple schnaufte. Er konnte sich kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal etwas gefressen hatte. Bäume flirrten vorbei.
Wenigstens war seine eingebildete Ziege jetzt verschwunden, dafür phantasierte Maple von Süßkraut, und Mopple hörte ein fernes, verlorenes Blöken in seinen rundlichen Hörnern. Er schüttelte den Kopf, aber das Blöken blieb.
»Hörst du das?«, fragte er Sir Ritchfield, der neben ihm trabte.
»Was?«, blökte Sir Ritchfield. Mopple seufzte.
»Ich höre was!«, blökte Lane von hinten.
Bald hörten es alle Schafe - alle bis auf Ritchfield: dort draußen, mitten im Wald, blökte ein Schaf. Ein sehr einsames Schaf.
Die Schafe blökten zurück. »Cloud! Hierher! Hier sind wir!«
Cloud blökte lauter. Aber sie kam nicht.
»Sie steckt fest!«, sagte Miss Maple und galoppierte los, in die Richtung, aus der das Blöken kam.
Othello und der Rest der Herde folgten.
Und wirklich: mitten auf einer Lichtung stand Cloud. Unverletzt, wollig und ganz, soweit die Schafe sehen konnten. Aber sie bewegte sich nicht vom Fleck. Die Schafe umringten und berochen Cloud. Sie roch ganz in Ordnung - für ein Schaf, das sich eine Nacht lang sehr gefürchtet hatte. Nach Wald und Schnee - und vor allem nach Cloud.
Cloud zitterte.
»Komm mit!«, sagte Heide. »Wir gehen dahin, wo es sich gut anfühlt! Und Rebecca wird nachkommen!«
»Sie kann nicht mit«, sagte Miss Maple. »Ihr Bein steckt fest.«
Jetzt sahen die anderen es auch: eine Drahtschlinge hatte sich um Clouds Hinterbein gelegt, so eng, dass etwas Blut von Clouds Fessel in den Schnee sickerte.
Cloud!
»Sie kann hier nicht weg!«, wiederholte Maple. »Aber wir müssen hier weg!«, blökte Maude. »Der Ga...« »Nicht ohne Cloud«, sagte Miss Maple scharf. Cloud blickte von einem Schaf zum anderen und zitterte noch mehr.
»Keine Herde darf ein Schaf verlassen«, blökte Ritchfield, der alte Leitwidder plötzlich. »Außer...« »Nichts außer!«, sagte Othello.
Damit war die Sache entschieden. Die Schafe ballten sich um Cloud herum zusammen und warteten. Maple summte tief und beruhigend in Clouds Ohr, nach Art der Mutterschafe. Irgendwann hörte Cloud auf zu zittern.
»Und?«, fragte Maple. »Was ist passiert?«
»Ich... ich bin dem Tierarzt entkommen«, sagte Cloud, ein bisschen durcheinander und ein bisschen stolz. »Aber dann waren auf einmal überall Bäume, und ich wusste nicht mehr, wohin. Und dann gab es noch mehr Bäume, und ich bin weitergelaufen.«
»Über einen Bach?«, fragte Maple.
»Nein«, sagte Cloud. »Nur durch Bäume.«
»Wir sind über einen Bach gekommen«, blökte Heide. »Und Mopple hätte es fast nicht geschafft. Und Othello hätte fast das Winterlamm umgerannt.«
Cloud sah sie verwirrt an.
»Und dann?«, fragte Maple.
»Ich bin weitergelaufen«, sagte Cloud. »Nichts als Bäume!« »Und weiter?«
»Irgendwo auf einer Lichtung gab es Grasbüschel, die schmeckten nicht schlecht.« »Wo?«, fragte Mopple schnell.
»Ich weiß nicht«, sagte Cloud. »Irgendwo hinter Bäumen.« Mopple seufzte.
»Und dann?«, fragte Maple wieder.
»Dann wurde es dunkel, und ich bin nicht mehr so viel gelaufen, weil ich Angst hatte, im Dunkeln gegen etwas zu stoßen. Vor allem gegen Bäume. Und es gab Geräusche.«
»Was für Geräusche?«, fragte Maple.
Cloud überlegte einen Augenblick. »Baumgeräusche«, sagte sie dann. »Knacken und Knarren und Knirschen, und dann schneite es. Das kann man nicht hören, aber manchmal rutscht Schnee von den Asten, und das hört man. Einmal ist Schnee auf mich gerutscht.«
»Und weiter?«, fragte Maple.
»Irgendwann wurde es wieder ein bisschen heller«, sagte Cloud. »Da bin ich auf diese Lichtung hier gekommen, weil es hier noch heller war. Und dann ist mein Fuß hängen geblieben. Ich wollte mich losreißen und konnte es nicht. Und dann habe ich angefangen zu blöken. Ich habe sehr lange geblökt. Und dann seid ihr gekommen.«
»Sonst nichts?«, fragte Mopple mit einem Hauch von Enttäuschung. Kein Süßkraut. Kein Geheimnis. Kein Garou. Nicht einmal ein Werhuhn. Nur ein bisschen Draht.
»Sonst nichts?«, blökte Cloud empört. »Ich war allein, zwischen all diesen Bäumen und all diesen Geräuschen, die nicht wirklich welche waren, und all den fremden Gerüchen, und ich kam nicht vom Fleck, und mein Bein tat weh, und der Schnee ... Sonst nichts!«
»Wir sind nur froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte Lane beschwichtigend.
»Und du hast nichts Seltsames gesehen?«, fragte Heide noch einmal.
Cloud überlegte. »Doch«, sagte sie dann. »Eine Sache. Hier auf der Lichtung, heute ganz früh. Es war - wie ein Huhn und doch kein Huhn.«
Ein Werhuhn? Mopples Ohren klappten nach vorne.
»Es bewegte sich wie ein Huhn, aber sein Schwanz war länger, und sein Kopf war bunter, und es war braun und grün und blau und viel hübscher als ein Huhn. Das habe ich gesehen.« Cloud blickte stolz in die Runde.
»Wie groß war es denn?«, fragte Mopple.
Cloud überlegte wieder. »Etwa so groß wie ein Huhn«, sagte sie dann. »Vielleicht ein bisschen kleiner.«
Das war alles. Cloud war offensichtlich nicht dem schrecklichen Garou begegnet. Zum Glück! Die Schafe entspannten sich ein bisschen. Wenn Cloud eine ganze Nacht alleine und gefangen im Wald überstanden hatte, konnte die Sache so gefährlich nicht sein. Mopple begann, unter dem Schnee nach Grasbüscheln zu fahnden, Maple untersuchte Clouds Schlinge, Sir Ritchfield unterhielt sich angeregt mit einem Baum, Maude und Cordelia scheuerten sich an Stämmen, das Winterlamm dachte, und Heide machte sich auf die Suche nach dem bunten Wunderhuhn.
Die Sonne schien, und sie waren froh, wieder eine ganze Herde zu sein. Die Stimmung war gut, bis irgendwann im Wald ein Ast knackte. Ein großer Ast. Und noch einer. Schnee knirschte. Knirschte und knirschte.
Etwas kam. Auf sie zu. Auf allen vieren. Durch Unterholz.
Etwas Schweres.
Mopple ließ vom Gras ab, und Heide vergaß das Huhn. Sogar Ritchfield schien zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war, und verabschiedete sich höflich von dem Baumstamm. Cloud begann wieder zu zittern. Die Herde ballte sich dicht zusammen, und Othello trabte vor ihnen auf und ab wie ein kleiner, vierhörniger Stier.
Die Schafe warteten zitternd, aber entschlossen auf das, was da aus dem Wald kommen mochte. Zuerst sah es aus wie ein Schatten, ein körperloser Schatten zwischen den Baumstämmen, formlos und verzerrt, wie Schatten manchmal sind. Dann löste sich eine dunkle Gestalt vom Waldrand. Die Schafe zitterten, alle zusammen, zitterten wie die Oberfläche des Baches bei Regen.
Othello senkte die Hörner.
Der ungeschorene Fremde sah sie nur ganz kurz an, dann trabte er mit halbgeschlossenen Augen an ihnen vorbei und machte es sich zwischen zwei Birkenstämmen gemütlich.
»Weiter so, Gris! Gut gemacht, Aube!«, murmelte er zufrieden, schloss die Augen und begann zu dösen.
»Das ist ein Schaf!«, blökte Sir Ritchfield erleichtert.
Die anderen trauten ihren Augen nicht.
Und dann brach plötzlich noch etwas aus dem Wald, hoch und aufrecht, mit wirren Haaren und blitzenden Augen.
»Ich glaub, mein Schwein pfeift!«, sagte Rebecca.
Die Schafe waren zu erleichtert, um nach Rebeccas Schwein Ausschau zu halten. Oder sich darüber zu empören, dass Rebecca in der kurzen Zeit ohne sie schon ein Schwein angeschafft hatte. Ausgerechnet ein Schwein!
Rebeccas Haare standen wild in alle Richtungen, ihre Wangen waren rot wie Apfel, und sie schimpfte nicht. Schweigend half sie Cloud aus der Schlinge, und schweigend packte sie Othello an den Hörnern. Niemand sonst hätte Othello an den Hörnern packen dürfen, nicht einmal der alte George. Aber Rebecca durfte. Dann ging es wieder durch den Wald, voran die Schäferin und Othello, die Herde im Schlepptau. Zurück, vermuteten die Schafe. Aber irgendwie kam ihnen das gar nicht so schlimm vor. Auf ihrer Weide gab es Kraftfutter und freien Himmel, den Heuschuppen und den Schäferwagen. Alles gute Dinge. Das Schwein würden sie schon wieder irgendwie loswerden. Und der Garou? Er war weit weg, irgendwo jenseits des schmalen Stegs, und die Schafe begannen, ihn sich als kleines, buntes Huhn vorzustellen.
»Ein wunderbarer Ausflug!«, blökte Sir Ritchfield, und die meisten Schafe gaben ihm Recht.
Nur Miss Maple machte keinen besonders zufriedenen Eindruck.
»Woher kam die Schlinge?«, fragte sie Willow, die neben ihr trabte.
»Und warum ist uns der fremde Widder gefolgt? Und wo ist Rebeccas Mütze? Und was wollte der Ziegenhirt? Und wo ist Zach?«
Willow, das zweitschweigsamste Schaf der Herde, schwieg.