18
Mopple the Whale war aus dem Wald zurückgekommen.
Und Mopple the Whale war nicht aus dem Wald zurückgekommen.
Mopple sah aus wie Mopple. Er war freundlich wie Mopple und gierig wie Mopple. Er roch wie Mopple und bewegte sich wie Mopple.
Aber Mopple the Whale war das Schaf mit dem besten Gedächtnis der Herde. Ihr Gedächtnisschaf.
Was er sich einmal gemerkt hatte, vergaß er nie. Das Schaf, das aus dem Wald zurückgekommen war, hatte alles vergessen. Alles.
Irland. Europa. Die Weide und das Schloss. Sir Ritchfield. Miss Maple. Heide. Sogar seinen Namen.
Während die Sonne entschlossen auf das Schloss zustrebte und die Männer mit Mützen endlich kamen, um Yves wegzuräumen, standen die Schafe viel um den dicken Widder herum, wie um ihn zu wärmen. Vielleicht würden ja ein paar ihrer Erinnerungen auf Mopple überspringen - wie Flöhe. Mopple machte eigentlich einen ganz zufriedenen Eindruck. Er graste freundlich, kaute und schluckte, blinzelte ab und zu in die Sonne und ließ sich von Ritchfield in lange, einseitige Gespräche verwickeln. Dann und wann schien er innezuhalten und zu lauschen, wie auf der Suche nach einem Geräusch - dem Geräusch eines fallenden Apfels, vermuteten die Schafe.
Sie sahen mit Erleichterung zu, wie Yves die Füße voran durch das Weidetor verschwand, säuberlich in Plastikfolie gewickelt wie ein Ziegenkäse.
Jetzt stand entspanntem Grasen endlich nichts mehr im Weg!
Hortense kam vorbei, um Rebecca zu umarmen und in Veilchenwolken zu hüllen.
»Oh, Becca«, sagte sie. »C'est terrible! Du musst so erschrocken sein! Und dein armer Hund! Und die armen Rehe! Das ist alles so furchtbar!«
»Sie war alt«, sagte Rebecca leise. »Was für Rehe?«
»Paul hat sie heute Morgen gefunden«, sagte Hortense. »Der Hirt. Zwei gleich. In einer Nacht. Wir hatten noch nie zwei in einer Nacht.«
»Vielleicht sind sie nicht beide von heute Nacht?«, fragte Rebecca.
»Si«, sagte Hortense. »Sie waren beide auf dem Schnee!«
»Oh«, murmelte Rebecca. Sie sah blass aus.
»Ich... ich finde, du solltest dich ein bisschen entspannen«, sagte Hortense und legte ihre schmale weiße Hand auf Rebeccas Arm. »Wir gehen in die Küche und trinken eine heiße Schokolade, ja?«
Rebecca sah aus, als ob sie eine heiße Schokolade gut gebrauchen konnte. Trotzdem schüttelte sie den Kopf.
»Ich möchte hier nicht so gerne weg«, sagte sie. »Die Schafe ...«
»Aber sicher kann doch deine maman ein bisschen aufpassen.«
Rebecca überlegte einen Augenblick. »Ich weck sie«, sagte sie dann.
Sie kraulte Vidocq kurz hinter den Ohren - oder dort, wo sie die Ohren vermutete -, dann stieg sie die Schäferwagenstufen hinauf.
Vidocq und Hortense musterten sich skeptisch, Schnee fiel, und Maple dachte. Schnee.
Schnee fiel von oben und trennte Dinge. Das Gras vom Licht. Die Kälte von der Wärme. Die Lebenden von den Toten.
»Wir brauchen wieder ein Silber!«, blökte Maple plötzlich. »Aber Yves...«, sagte Ramses.
»Zu was brauchen wir denn jetzt noch ein Silber?«, fragte Heide. »Glaubst du, es gibt mehr Wölfe?«
Mehrwölfe? Die Schafe guckten erschrocken. Ein Werwolf war schlimm genug. Keines von ihnen wollte je einem Mehrwolf begegnen.
Maple legte den Kopf schief, als wolle sie den Schnee hören oder vielleicht sogar das Gras unter dem Schnee. Aber der Schnee gab keinen Mucks von sich.
»Yves war nicht der Garou«, sagte sie langsam.
»Aber das Silber hat ihn erwischt!«, blökte Cordelia.
»Yves war unter dem Schnee«, sagte Miss Maple. »Und die Rehe, von denen Hortense erzählt hat, waren auf dem Schnee.«
Die Schafe stellten es sich vor: Yves, steif und geruchlos, der versuchte, durch den Schnee hindurch seine haarigen Hände nach den Rehen auszustrecken. Unmöglich. Der Schnee war wie ein Zaun in der Zeit.
»Vielleicht - vielleicht war das der andere?«, sagte Lane zögerlich. »Der Spaziergänger? Der, der den Garou nur spielt?« Sie wollten alle so gerne, dass Yves der Garou war!
Maple schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Erinnert ihr euch, was Othello erzählt hat? Der Spaziergänger spielt den Garou nicht besonders gut. Und zwei Rehe in einer Nacht - das ist nicht einfach! Ich glaube nicht, dass der Spaziergänger das geschafft hätte. Außerdem war Yves farbenblind, erinnert ihr euch? Rebecca hat es gesagt.«
»Was ist farbenblind?«, fragte Heathcliff.
»Wenn man alles sieht, nur keine Farben, wahrscheinlich. Und ich glaube, Farben sind sehr wichtig für den Garou. Sehen ist sehr wichtig.«
Maple konnte es sich gut vorstellen. Das Weiß und das Rot. Das Weiß und das Rot und das Schwarz. Blumen im Schnee. Deswegen war das Silber für ihn gefährlich. Weil es glitzerte und glänzte. Der Garou wollte sehen. Erjagte mit den Augen. Erjagte für seine Augen - nicht für seinen Magen. Sie dachte an Hortenses Fenster, das auf die Weide ging. Sie war sich sicher, dass der Garou auch ein solches Fenster hatte. Ein Fenster, an dem er stehen konnte und sehen. Sehen war die halbe Jagd.
»Der Garou wohnt im Schloss«, sagte sie.
Die Schafe sahen erschrocken zum Schloss hinüber, das schon wieder seine Schattenfinger nach der Weide ausstreckte. Der Garou! So nah!
»Ich glaube, es ist wichtig, herauszufinden, wer Yves erschossen hat«, fuhr Maple fort. »Ich denke, Yves ist mit dem Garou verwechselt worden. Das bedeutet, dass jemand den Garou jagt.Wir müssen herausfinden, wer. Vielleicht können wir ihm helfen, das nächste Mal den Richtigen zu treffen.«
Rebecca kam wieder aus dem Schäferwagen.Vidocq musste ihr versprechen, gut auf die Schafe aufzupassen, dann hakte sie sich bei Hortense ein, und gemeinsam verschwanden die beiden Frauen durch das Hoftor.
Vidocq sah ihnen nach, dann stand er auf, streckte sich und trottete den Hang hinauf bis zum Weidezaun. Von dort guckte er lange und ein bisschen sehnsüchtig in den Wald.
Endlich war die Luft rein - so rein sie eben sein konnte, wenn man Ziegen als Nachbarn hatte.
Die Schafe wollten sich gerade auf die Suche nach einem neuen Silber machen, als plötzlich drei Ziegen am Weidezaun standen. Eine von ihnen räusperte sich. Es klang wie ein Meckern. Vielleicht war es ein Meckern?
Die Schafe sahen nicht hin.
Die zweite Ziege hüstelte.
»Wir...«, sagte die erste Ziege.
»...wollen...«, sagte die zweite Ziege. Die beiden anderen sahen sie böse an.
»... würden...«, korrigierte die zweite Ziege hastig,»... gerne getrieben werden.«
»In den Wahnsinn«, ergänzte die erste Ziege.
Die Schafe sahen die drei verständnislos an.
»Von eurem Hund«, erklärte die Dritte.
Alle drei Ziegen schlugen die Augen nieder.
»Wenn es nicht zu viele Umstände macht«, murmelte die Zweite.
»Auch wenn es viele Umstände macht«, meckerte die Dritte.
»Wir haben keine Zeit«, sagte Heide spitz. »Wir brauchen ein Silber. Und wir müssen herausfinden, wer Yves ermordet hat.«
»Yves?«, fragte die erste Ziege. »Wen interessiert schon Yves? Ist es wichtig?«
Die Schafe machten wichtige Gesichter.
»Aber das ist doch überhaupt kein Problem«, sagte die dritte Ziege. »Wir können das für euch herausfinden! Das geht ganz schnell! Und dann... der Wahnsinn, ja?«
»Vielleicht«, sagte Lane mit ernster Miene. »Wenn er Zeit hat. Wir werden ein gutes Wort für euch einlegen!«
Die Ziegendelegation trabte meckernd zurück auf ihre Weide, und bald standen alle Ziegen wieder im Kreis um die Kommode. Sie machten geheimnisvolle Gesichter und wogen bedeutungsvoll die Köpfe hin und her. Dann gab es ein Duell, die Schwarzohrige gegen eine braune Ziege. Die Schwarzohrige gewann.
Die Schafe staunten.
Nach einer Weile schlüpfte die junge graue Amaltee durch die Latte auf die Schafweide.
»Madame Fronsac!«, verkündete sie. Die Schafe sahen sie respektvoll an.
»Wie habt ihr das bloß so schnell herausgefunden?«, fragte Cordelia.
»Wir haben abgestimmt. Drei waren für den Patron, zwei für den Hirten, weil er gestern zu wenig Rüben gefüttert hat, eine für Yves selbst, ich war für den Gärtner, weil er immer so aus dem Mund riecht, und Circe war für Monsieur Fronsac, weil der sonst nie etwas macht. Und Megära war für die Fronsac. Die Sache ist völlig eindeutig.«
»Ihr könnt das doch nicht einfach so entscheiden...« Maude sah Amaltee misstrauisch an. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Warum nicht?«, sagte Amaltee. »Einer muss es tun.«
»Smart«, sagte Maude.
»Aber so geht es nicht«, blökte Cordelia. »Da draußen ist die Welt... und... sie ist groß ... und man kann nicht einfach so darüber abstimmen.«
»Natürlich kann man«, sagte Amaltee ungerührt. »Was wäre die Welt ohne Ziegen?«
»Und nur Megära war für die Fronsac?«, fragte Maple. »Und trotzdem...«
»Megära hatte die meisten Stimmen«, erklärte Amaltee. »Jeder hat so viele Stimmen, wie er möchte. So ist es gerecht. Wer die größte Zahl weiß, der ist der Klügste. Der soll entscheiden.«
»Und was war die größte Zahl?«, fragte Heide neugierig.
»Grün«, sagte Amaltee.
»Grün ist keine Zahl«, sagte Heide.
»Grün ist eine so große Zahl, dass noch nie zuvor jemand etwas von ihr gehört hat!«
»Dann ist vielleicht Blau eine noch größere Zahl«, sagte Heide mit funkelnden Augen.
»Das hat Penelope auch gesagt«, gab Amaltee zu.
»Und?«
»Dann haben sie es unter dem Baum ausgetragen, mit den Hörnern. So ist es bei uns immer.Wir nennen es >Demokratie<. Einfach, nicht? Und wenn er einmal ein bisschen Zeit hat...«
Amaltee sah sehnsüchtig zu Vidocq hinüber, der sich oben am Waldrand zufrieden im Schnee wälzte.
»Wir sprechen mit ihm«, versprach Lane mit ernster Miene.
»Vielleicht ist es gar nicht so dumm«, sagte Miss Maple, als die Ziege wieder weg war.
»Das Abstimmen?«, fragte Cloud skeptisch.
»Der Wahnsinn?«, fragte Cordelia.
»Nein«, sagte Maple. »Madame Fronsac.«
»Besonders klug ist sie nicht«, sagte Heide.
»Aber sie hat einen Grund, den Garou zu jagen«, sagte Maple. »Erinnert ihr euch an den Jungen, von dem Hortense erzählt hat? Den Jungen, den der Garou erwischt hat? Das war ihr Jungmensch. Sie hat allen Grund, hinter dem Garou her zu sein. Und wenn sie dachte, dass Yves der Garou war...«
Das schweigsamste Schaf der Herde schnaubte skeptisch in den Schnee.
»Ich weiß«, gab Maple zu. »Sie ist dick und ängstlich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie nachts mit einem Gewehr herumschleicht. Und trifft.«
Maple stellte sich Yves neben der alten Eiche vor und die Dunkelheit hinter ihm. Sie konnte die Fronsac nicht in dieser Dunkelheit sehen. Sie konnte in dieser Dunkelheit gar nichts sehen. Doch dann...
»Es gab noch mehr Menschen, nicht wahr?«, sagte sie. »Eine Frau und ein Mädchen. Zu wem gehörten die Frau und das Mädchen?«
Zora hinkte die Straße entlang. Sie war froh, dass es wieder eine Straße gab. Wenn es nur die richtige Straße war. Sie fühlte sich kalt und elend und zu nervös, um zu fressen. Aber sie war dem Garou entkommen, tief im Wald, ganz allein. Jetzt, wo es vorbei war, wünschte sich Zora, sie hätte ihn ein bisschen besser gesehen. Aber da war nichts in ihrer Erinnerung, nur ein fließender Schatten. Ein Zweibeiner? Zora war sich nicht einmal sicher, ob es ein Zweibeiner gewesen war.
Die Straße führte einen Hügel hinauf, und als Zora den höchsten Punkt erreicht hatte, sah sie etwas zwischen den Bäumen, groß und grau und sehr hoch. Der Turm! Der Turm des Schlosses! Zora hatte es geschafft!
Im nächsten Moment hörte sie etwas. Ein Auto kam hinter ihr den Hang herauf auf das Schloss zu.
Zora flüchtete hinkend in ein Dickicht junger Tannen und wartete darauf, dass das Auto vorbeifahren würde. Aber das Auto fuhr nicht vorbei. Es blieb an der Straße stehen, und ein Mensch stieg aus. Irgendetwas an seiner Witterung ließ Zora schaudern. Sie äugte aus ihrem Tannendickicht und erkannte den Tierarzt, der sich ein paar Schritte von seinem Auto entfernt hatte und nun nervös um einen rohen Holztisch herumlief, der einfach so im Wald stand. Der Holztisch war Zora bisher nicht aufgefallen.
Ausgerechnet der Tierarzt! Zora wich tiefer ins Tannendunkel.
Der Tierarzt ging auf und ab, rauchte, murmelte und schien insgesamt in schlechter Verfassung zu sein. Schließlich blieb er stehen, holte ein Sprechgerät aus seiner Jacke und tippte darauf herum.
Während der Tierarzt in sein Sprechgerät quakte, schlich Zora aus ihrem Versteck, in weitem Bogen um Arzt und Auto herum, nach Hause.
Als Rebecca vom Schloss zurückkam, saß Mama auf den Stufen des Schäferwagens, sah zerknittert aus und rauchte.
»Hallo«, sagte Rebecca und blieb vor dem Schäferwagen stehen.
»Hallo«, sagte Mama etwas zerknirscht. »Ist was passiert?« Rebecca holte tief Luft. »Das kann man wohl sagen! Gib mir auch eine!«
Sie ließ sich eine von Mamas dünnen langen Zigaretten reichen und begann zu erzählen. Von Tess undYves und Malonchot und den Rehen und immer wieder von Tess.
Mama war von Yves' Tod nicht besonders beeindruckt - »Er hatte schlechte Karten«, sagte sie -, aber sie schniefte und schluchzte um Tess.
»Das ist alles meine Schuld!«, heulte sie. »Ich und meine blöde Sauferei.«
Rebecca widersprach nicht.
Mama, die wahrscheinlich auf Widerspruch gehofft hatte, hörte auf zu schniefen und sah Rebecca schräg an.
»Es ist noch was, stimmt's?«
»Was soll denn noch sein?«, fragte Rebecca.
»Irgendwas«, sagte Mama. »Irgendwas ist!«
»Warum ist das Leben nicht mal einfach?«, sagte Rebecca. »Nur so. Zur Abwechslung. Es war ein netter Abend gestern, weißt du. Zuerst... zuerst war er vielleicht wirklich etwas schnöselig, aber dann war es richtig nett. Romantisch sogar. Und auf einmal wurde er unruhig und kurz und seltsam, und ich habe gemerkt, dass er mich loswerden wollte. Es... es passte gar nicht zur Stimmung. Es passte einfach nicht. Und dann lässt er dir doch eine Flasche bringen, und ich finde Tess, und heute erzählt mir Hortense das mit den Rehen! Und erinnerst du dich, was für eine Angst er vor Tess hatte? Und nach all dem, was er mir erzählt hat, hatte er eine ziemlich verkorkste Kindheit. Ich weiß, es geht nicht immer nur um die Kindheit, aber trotzdem. Ich denke ...«
Rebecca wollte nicht sagen, was sie dachte.
»Du solltest das dem Polizisten erzählen«, sagte Mama.
»Malonchot?« Rebecca lachte bitter. »Sicher, er ist nett und freundlich, und er hat uns Vidocq vorbeigebracht, aber eigentlich benutzt er uns als Köder für seinen Garou. Du hättest den heute sehen sollen mit Yves. Er war blendender Stimmung, weil er eine neue Spur hatte. Der wird genauso gut gelaunt sein, wenn er uns aus dem Schnee zieht. Nein, wir müssen hier weg!«
»Keine Sorge, Kind«, sagte Mama. »Wo Dunkel ist, da ist auch Licht.«
Da lag sie natürlich vollkommen falsch. Wo Dunkel war, war eben kein Licht!
»Der Tierarzt hat mich gerade angerufen«, sagte Rebecca. »Er will sich mit mir treffen. Mit mir allein. Im Wald. Na ja, nicht wirklich im Wald, aber an diesem Rastplatz oben an der Straße. Er will nicht auf den Hof kommen. Hat gesagt, es ist wichtig. Klingt komisch, nicht? Aber ich glaube, ich gehe trotzdem. Er soll einen anderen Stall für uns finden! Ich habe lange genug gewartet.«
»Ich komme mit«, sagte Mama.
»Nein«, sagte Rebecca. »Du bleibst hier und passt auf die Schafe auf. Ich habe ihm gesagt, dass du wissen wirst, wo ich hingehe. Ich meine, er wäre doch wirklich dumm, wenn ... Sie würden ihn doch gleich haben.«
»Bist du sicher, dass es wirklich der Tierarzt war?«, fragte Mama.
Rebecca nickte. »Er wartet. Ich gehe. Jetzt gleich.« »Wollen wir nicht lieber erst die Karten ...« »Nein. Wenn ich in einer halben Stunde nicht wieder da bin, rufst du die Polizei!«
Die Schafe, Vidocq und Mama sahen Rebecca nach, wie sie, die braune Brotmütze auf dem Kopf, im Wald verschwand. Dann ging Mama zurück in den Schäferwagen, Vidocq zum Waldrand, und die Schafe konnten sich wieder auf die Suche nach einem Silber machen. Das Silber im Abfalleimer war nun gründlich verloren, irgendwo am Grunde, nachdem Rebecca gestern noch zwei Konservendosen und eine zerknüllte alte Zeitung in den Eimer gestopft hatte. Aber vielleicht gab es ja noch weitere Brotpapierreste rund um den Schäferwagen?
Die Schafe wühlten und grasten los, bis Ramses etwas im Schnee vor dem Schäferwagen entdeckte. Aber es war kein Silber. Es war eine von Mamas Karten.
Eine Gruppe von Schafen starrte neugierig auf die Karte im Schnee.
»Ob das der Teufel ist?«, fragte Cordelia.
»Ich glaube nicht«, sagte Cloud.
Der freundliche Herr mit Hörnern und Schafshufen konnte unmöglich der Teufel sein! Die Schafe waren überrascht, wie attraktiv selbst Menschen mit Hörnern aussehen konnten. Sie bedauerten ein bisschen, dass Rebecca keine Hörner hatte, dann ließen sie die Karte in Frieden und suchten weiter nach einem Silber.
Der Gärtner kam wieder über den Hof, einen weiteren kleinen Tannenbaum im Schlepptau. Auch dieser Tannenbaum landete auf einem Haufen mit anderen Tannenbäumen.
»Ich weiß, wo wir ein Silber herbekommen!«, sagte Lane.
Vor einiger Zeit hatten die Menschen angefangen, sich sehr für Tannenbäume zu interessieren. Sie hatten kleine Tannen in ihre Häuser getragen, sogar Rebecca - eine sehr kleine Tanne - in ihren Schäferwagen. Doch schon ein paar Tage später hatten sie genug von den Bäumen gehabt und begannen, sie an der Schlossmauer zu einem trockenen, spröden Haufen aufzutürmen, in dem der Wind kicherte und Mäuse huschten - und manchmal blitzte dort auch Metall wie Sonne am Grunde eines Teiches.
Kein Schaf wollte mehr alleine die Weide verlassen, aber schließlich erklärten sich Lane, Maple und Cloud bereit, gemeinsam die Tannenbäume nach glitzerndem Silber abzusuchen. Sie waren gerade bei der Lücke im Ziegenzaun angekommen, als auf einmal Vidocq vor ihnen saß wie ein kleiner weißer Berg und ein tiefes »Wuff« von sich gab.
Mehr nicht. Nur ein einziges Wurf.
Die Schafe waren beeindruckt.
»Wölfe sind eine Erfindung der Schäferhunde«, sagte Mopple plötzlich. »Damit wir uns besser hüten lassen.«
Die anderen sahen sich an: Mopple hatte sich an etwas erinnert - aber es war Blödsinn!
»Wir müssen ihn ablenken!«, blökte Heide. »Sonst lässt er sie nicht gehen!«
Und so kam es, dass bald ein Trupp auffällig ungehüteter Schafe vor Vidocq auf und ab galoppierte. Vidocq sah sich die Sache eine Weile an, dann gab er ein weiteres »Wuff« von sich und rannte hinter den Schafen her, während sich Lane, Maple und Cloud von der Weide stahlen, um wieder ein Silber zu erbeuten.
Sie kamen mit einem kleinen, glitzernden Stern zurück und wollten ihn gerade wieder auf den Haselstrauch spießen, als Maple den Kopf schüttelte.
»Wenn Rebecca es findet, wird sie es wieder wegwerfen. Das Silber muss an einen Ort, an den Rebecca nicht hinkommt.«
»Aber wir?«, fragte Heide.
»Aber wir!«, bestätigte Miss Maple.
Es war gar nicht so einfach. Menschen mit ihren Händen und ihren zwei lächerlich langen Beinen kamen praktisch überall hin.
»Das ist kein Schaf!«, murmelte Sir Ritchfield und sah kopfschüttelnd hinter Vidocq her, der noch immer begeistert seinen Hütehundpflichten nachging.
»Ich weiß, wo!«, blökte Miss Maple plötzlich.
Wenig später saß in Ritchfields imposantem Gehörn ein kleiner Stern und beschützte sie alle vor dem Garou.
»Zora!«, sagte Mopple plötzlich.
Die Schafe sahen ihn an, und dann blickten sie zum Waldrand, wo Zora schweigend durch den Zaun blickte. Sie waren so erleichtert über Zoras Rückkehr, dass sie die beiden Spaziergänger, die plötzlich am unteren Rand der Weide auftauchten, gar nicht bemerkten. Aber Madouc, die wieder einmal genug von der Ziegenweide hatte und den Schafstrog nach Kraftfutterresten absuchte, bemerkte sie.
»Sachen passieren!«, sagte der kleine Spaziergänger kopfschüttelnd und lehnte sich an den Weidezaun. Madouc spitzte die Ohren. Sie mochte es, wenn Sachen passierten.
Die beiden blickten hinauf zur alten Eiche, an deren Fuß der Schnee ganz schmutzig und zertrampelt aussah.
»Wer das wohl war?«, sagte der Kleine. »Interessant, nicht? Normalerweise wissen wir, wer es war.«
Die beiden kicherten.
»Mit einer Silberkugel, sagt die fette Henne.«
Der Dicke schnaufte. »Woher will die das denn wissen?«
Der Kleine zuckte mit den Schultern.
»Kein schlechter Job jedenfalls. Einfach und sauber. Das sind die besten.« Der kleine Mann seufzte. »Und wenn es wirklich eine Silberkugel war - brillant! Einfach, aber genial. Was meinst du? Da hätten wir uns das ganze Gemetzel sparen können.«
»Die fette Henne erzählt viel«, murmelte der Dicke.
Der Kleine hörte nicht hin. »Dir scheint das ja Spaß zu machen. Noch zwei Rehe! Merde. Ich sage dir, du übertreibst! Jedes Mal ist ein Risiko, wie oft soll ich dir das noch sagen. Das erste bei der Schafsweide und noch eins, das hätte für unsere Zwecke vollkommen gereicht. Sei ausnahmsweise mal ein bisschen professionell! Verdammt, wir werden nicht für die Viecher bezahlt.«
Der Dicke brach kleine Holzsplitter vom Weidezaun ab und warf sie auf den Boden. »Aber ich sag dir doch, ich war's nicht. Ich hab's dir schon hundertmal gesagt.«
»Ach, erzähl mir nichts. Wer soll's denn sonst gewesen sein? Der Garou? Haha! Ich weiß doch, was dir Spaß macht. Und ich habe auch keine Probleme damit, solange die Arbeit nicht leidet.«
»Aber ich war es nicht!« Der Dicke hatte sich an einem Holzsplitter gestochen und sah ungerührt zu, wie ein paar Blutstropfen in den Schnee kullerten. »Und weißt du was: wenn ich es nicht war - dann war es jemand anderes. Und ich weiß, wie schwer das ist. Und es gefällt mir gar nicht! Und ich denke mir: was, wenn es ihn gibt? Ich bin schließlich die ganze Zeit im Wald unterwegs.«
Der Kleine reichte dem Dicken ein Taschentuch für seinen Finger. »Ach was, Garou - ein wilder Hund oder ein Irrer. Und ich sag dir was: wenn hier wirklich noch immer dieser Verrückte von früher herumläuft, ist es das Beste, was uns überhaupt passieren kann.« Die Männer schwiegen.
Oben am Hang hatten die Schafe Zora umrundet und genossen es, wieder eine ganze Herde zu sein.
»Schau dir die an!«, sagte der Dicke. »Hast du dir überhaupt schon mal Schafe angeguckt? Die fressen den ganzen Tag. Nichts als Fressen! Was glaubst du, was die machen, wenn wir ein paar von ihnen abknallen?«
Plötzlich hatte der Dicke ein Stück Metall in der Hand. Madouc witterte: alte Hitze und Schweiß und noch etwas, nur ein Hauch: Angst.
Der Kleine seufzte. »Der ganze Sinn der Sache ist doch, dafür zu sorgen, dass die Leute ordentlich an ihren blöden Garou glauben. Dann können wir den Doktor da einfach mit unterschieben, und keiner wird das mit dem Boss in Verbindung bringen. Und voilá: die Leute glauben an den Garou. Verdammt, du glaubst an den Garou! Die Schafe sind mit dem Doktor dran wie geplant, und fertig. Und weißt du was: ich besorg uns ein paar Silberkugeln. Das wäre doch eine schöne Alternative. Einfach. Präzise. Elegant. Und ohne Schafsgemetzel. Ich sprech mit dem Boss.«
»Ich meine nicht: beruflich. Ich meine: einfach so!«
Der dicke Spaziergänger blieb störrisch am Zaun stehen und zeigte mit seinem Metallding auf die Weide. Wie still es war! Mittag war die stillste Zeit des Tages. Vidocq hatte von den Schafen abgelassen und schlief unter dem Schäferwagen. Das Hoftor gähnte. Das Schloss schwieg.
»Ach was!«, sagte der Kleine angewidert, aber nicht besonders energisch.
»Nur eins oder zwei«, quengelte der Dicke. »Mit meinem feinen Schalldämpfer merkt das kein Mensch. Überleg dir bloß mal, wie die sich wundern werden!«
Das Metallding guckte mit seiner spitzen Nase von Schaf zu Schaf. Die Sache gefiel Madouc nicht. Eins oder zwei was? Und wer würde sich wundern? Der Hirt hatte auch so ein Metallding, groß und schwer und alt. Es wurde geputzt und gepflegt und gestreichelt, aber meistens schlief es. Das Metallding wartete auf etwas, auf reife Zeit, und es wartete schweigend.
Das Metallding des Dicken wollte nicht mehr warten. Es zeigte auf die Schafe. Mal auf das eine, mal auf das andere.
»Paff«, sagte der Dicke. »Paff Paff und paff«
»Lass den Quatsch!«, sagte der Kleine. »Ich hab Hunger. Mal sehen, was die fette Henne heute kocht. Kochen kann sie, das muss man schon sagen.«
»Paff«, sagte der Dicke.
»Wenn das einer sieht. Wahrscheinlich triffst du sowieso nicht!«, sagte der kleine Spaziergänger. »Paff«, sagte der Dicke.
»Es ist schon eine Weile her, nicht wahr? Zu viel Messerarbeit! Ich sag's dir ja immer!«
Das Metallding drehte sich und zeigte auf einmal auf Madouc.
»Was ist mit dem da vorne?«, fragte der Dicke. »Da sehen wir wenigstens ordentlich was.«
»Pah! Wenn du das erschießt, spreche ich drei Tage kein Wort mehr mit dir. Siehst du den Schwarzen da hinten, ganz oben am Hang? Das wäre eine Herausforderung!«
Das Metallding sah unsicher in Othellos Richtung. Dann musste es niesen.
»... und dann sind wir auf das Heulen zu«, erklärte Zora, »und dann waren die anderen weg, und ich habe Mopple gesehen und den Garou, und dann bin ich entkommen.«
Zora streckte ihre schönen schwarzen Hörner stolz in die Luft.
»Warum seid ihr denn auf das Heulen zu?«, fragte Cordelia und schauderte.
»Weil wir zurückmussten!«, sagte Zora. »Wir mussten unbedingt schnell zurück, um euch zu warnen!«
»Vor was denn?«, blökte Ramses nervös.
»Na, vor den...« Zora hielt inne und warf Maude und Heide einen vernichtenden Blick zu.
»Ihr habt es ihnen nicht erzählt?«
»Die Ziege ist schuld!«, blökte Maude.
Heide schlackerte verlegen mit den Ohren. »Wir... wir wollten! Wir haben nur...«
»Wir sind dran!«, blökte Zora. »Wie die Rehe! Die Plin hat Rebecca hierhergelockt, damit die beiden Wintergäste ...« Sie brach ab. »Da unten sind sie! Da unten am Zaun!«
Auf einmal galoppierten alle Schafe wild durcheinander. Aber nur einen Moment lang. Dann verschwanden sie! Drei hinter der alten Eiche, fünf hinterm Schäferwagen, ein ganzer Trupp hinter dem Heuschuppen und zwei Schafe hinter der Futterkammer. Das letzte Schaf, das noch im Zickzack über die Weide galoppierte, war Mopple the Whale, aber auch er fand schließlich nach aufgeregtem Zublöken der anderen ein Plätzchen hinter dem Heuschuppen. Madouc staunte.
»Hast du das gesehen?«, fragte der Dicke.
Der Kleine schwieg. Das Metallding richtete sich langsam auf Madouc. Madouc kaute nervös.
»Ach Unsinn!«, sagte der Dicke dann und ließ zu, dass das Metallding zurück in die Wärme seines Mantels kroch. »Weißt du, was ich jetzt brauche? Ein heißes Bad!«
»Du und deine ewige Baderei«, sagte der Kleine.
Die beiden Männer steckten die Hände in die Manteltaschen und stapften in Richtung Schloss. Schweigend.